Von Schildkröterichen und beschnittenen Kindern
Gästinglosse von Andrea Schweers
Nach längerem Aufenthalt im kühl-grauen Norddeutschland bin ich in dieser Woche mal wieder auf Mayotte zu Besuch, wo die eine Hälfte unserer Frauenfamilie zur Zeit lebt und arbeitet. Wie es sich für eine richtige Tropeninsel im Indischen Ozean mitten in der Regenzeit gehört, ist es höllisch heiß, 35 Grad im Schatten bei fast 100prozentiger Luftfeuchtigkeit, aber ansonsten wunderbar: ein strahlend blauer Himmel über dichter grüner Tropenvegetation, ein ebenso strahlend blaues Meer, aus dem alle paar Minuten der dinosaurierartige Kopf einer Meeresschildkröte zum Luftholen auftaucht – eine immer wieder reizende Begegnung der ganz besonderen Art.
Meeresschildkröten gehören ja zu den nettesten Tieren überhaupt – absolut friedfertig, geräuschlos (wenn sie nicht gerade unter der Anstrengung ins Schnaufen geraten, die es bedeutet, mit dicken, etwas steifen und eigentlich zum Schwimmen gemachten Flossen einen breiten Strand hinauf zu kriechen, um dort dann an einem möglichst geschützten Ort ein Loch für die Ablage von etwa 100 Eiern zu graben). Und Meeresschildkröten sind so schön feministisch – uralt, weise, mit einem phantastischen Gedächtnis ausgestattet (zur Eiablage kehren sie regelmäßig an den Strand ihrer Geburt zurück), und von einem Schildkröterich hat auch noch nie jemand was gehört. Es muß sie aber geben, denn wenn man großes Glück hat, kann man ab und an im warmen ufernahen Wasser ein Schildkrötenpaar in stundenlangem Liebesspiel beobachten – und dabei ist dann vermutlich eine der beiden Kröten ein Kröterich. Nachgeprüft haben wir es allerdings nicht.
Außer den Freuden solcher Naturbegegnungen hat das französische Überseeterritorium Mayotte auch sonst einiges zu bieten, die allabendlichen lokalen Fernsehnachrichten zum Beispiel: Da mischen sich auf unnachahmliche Weise die großen Weltereignisse (im Moment v.a. die bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahlen, bei denen mit Ségolène Royal zum ersten Mal eine Frau auf aussichtsreichem Platz kandidiert), mit ebenso aufregenden örtlichen Angelegenheiten, wie der Beseitigung von Schlaglöchern in einer vom Regen ausgewaschenen Dorfstraße, oder, so wie heute Abend, eine Vorschau auf ein Ereignis, das offensichtlich besonders die Frauen betrifft, jedenfalls werden nur sie dazu interviewt – es geht um die Vorbereitung der Beschneidungsfeierlichkeiten, von denen in den nächsten Wochen (es ist der Geburtsmonat des Propheten Mohammed) besonders viele stattfinden werden.
Gruppen zumeist ziemlich voluminöser, in die ortsüblichen farbenfrohen Salouvas gehüllter Frauen versammeln sich zum Tanzen und Singen vor den Hauseingängen der Festfamilien. Doch was und v.a. wer wird da eigentlich so fröhlich gefeiert? Dies sei ein großer Tag im Leben jedes Kindes, betont der Nachrichtensprecher eingangs, es – das Kind – würde auf die Erwachsenenwelt vorbereitet. Nur so könne es seine Sexualität entwickeln, fügt eine der interviewten Frauen aus der Gruppe der Tänzerinnen, verschmitzt lächelnd, hinzu. Und als Geschenk wären Gold und Silber besonders beliebt.
Mehrere bange Fernsehminuten lang bleiben wir im Ungewissen über das Geschlecht der gefeierten Kinder. Erst der letzte Satz des Beitrags läßt uns aufatmen: Nur beschnitten könne sich das Kind in seinem zukünftigen Erwachsenenleben den Mädchen nähern. Da wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen dürfen, daß auch auf dieser für ihren toleranten Islam bekannten Insel nicht öffentlich über lesbische Liebe gesprochen wird, stellen wir – in diesem Fall erleichtert – fest: Ein Kind ist ein Junge, solange das Gegenteil nicht ausdrücklich erwähnt wird.
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3 Kommentare
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02.04.2007 um 08:43 Uhr Anne
Eine nette gästinglosse, die uns so schön auf die tropeninsel `Mayotte`führt. Danke auch für den link zu den leider vom aussterben bedrohten symphatischen meeresschildkröten, für die wohl das alter und aussehen keine rolle spielt - ganz im gegensatz zu jugend- und schönheitswahn -, und der neue begriff `schildkröterich` wird gerne ins sprachrepertoire aufgenommen.
Weibliche genitalverstümmelung ist eine besonders widerwärtige art von schwerer körperverletzung und gehört auch in die akte `patriarchat`. Die begründungen, die zur rechtfertigung dieser praktik angebracht werden, sind vielfältig. Tatsächlich geht es u.a.auch um die kontrolle weiblicher sexualität im rahmen männlicher machtansprüche. Neben beschneidungsritualen gehören vergewaltigungen und zwangsheirat für viele mädchen und frauen zu ihrem furchtbaren alltag. Jede sekunde wird eine frau misshandelt, verschleppt, verstümmelt oder ermordet (Terre des Femmes).
Herzliche grüsse von anne
01.04.2007 um 12:16 Uhr erkenntnis tut weh
ich mag auch runzlige, lebendige gesichter, die für mich weisheit und gelassenheit ausstrahlen.
ich mag es, wenn menschen zu subtilem humor fähig sind.
na, dann nennen sie doch einfach ab jetzt jedes zweite schildgepanzerte reptil schildkröterich!
verstehe ich sie richtig: sie sind froh darüber gewesen, dass es keine mädchen sondern jungen waren, die beschnitten werden sollten? ich weiß nicht, welche beschneidungspraktiken auf mayotte für mädchen oder jungen üblich sind, weiss nicht, ob sie der vielleicht verhältnismäßig geringeren schäden für jungen im vergleich zu beschnittenen mädchen wegen erleichtert waren? darüber las ich aber leider nichts. dass beschneidungen für jungen auch nicht grade nett sind, wissen sie vermutlich?
ich wundere mich über das fehlen eines mitgefühls ihrerseits den jungen gegenüber.
01.04.2007 um 10:44 Uhr Duerr
Danke, liebe Frau Pusch,
Eine wunderschöne Glosse! Ja, die Schildkröten sind wunderbar - vor allem ihr runzeliges Gesicht, ein Gesicht wie eine meiner Grossmütter es hatte: Wenn sie “kein Gesicht machte”, war es als lächelte sie. Und genau so ein Gesicht möchte ich auch bekommen: voller Runzeln und mit so einem Ausdruck von Freundlichkeit, Ruhe und Weisheit. (Dass die Schönheitschirurgen dabei verhungern, wenn das Schule machen würde, tut mir nicht einmal leid, sorry.) Jetzt sollten wir nur noch das Tempo auf Schildkrötenniveau bringen!
A.M.Dürr