Vergewaltigung als Erlebnis?
Mithu Sanyal und Marie Albrecht, Autorinnen des taz-Artikels „Du Opfer“, kritisieren das Wort „Opfer“ (wie in „Vergewaltigungs-Opfer“):
„Opfer“ ist keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine ganze Busladung von Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer wehrlos, passiv und ausgeliefert sind – und zwar komplett. Bloß sind Menschen, denen etwas angetan wurde, ja immer noch sie selbst. Vielleicht haben sie sich in der Situation ausgeliefert gefühlt, vielleicht haben sie sich auch erfolgreich gewehrt, vielleicht … Doch macht ein Begriff wie "Opfer" alle gleichsam zu … Opfern eben. […] Im Lexikon finden sich so charmante Synonyme wie: ‚Unglückswurm‘ oder ‚armes Hascherl‘. Und Jugendliche bringen das mit ihrem feinen Sprachgespür in der Beleidigung „Du Opfer!“ auf den Punkt.
Und weiter heißt es:
Wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir „Autounfall“ durch „Vergewaltigung“ ersetzen. Das hat Vorteile: dass wir vorsichtig sind, dass wir das Geschehen ernst nehmen. Und Nachteile: dass wir ausschließlich vorsichtig sind, egal, was sich die Person von uns wünscht, dass wir das Geschehen ernster nehmen als alles andere im Leben dieser Person oder dass wir die Person eben nicht ernst nehmen, weil wir eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie und wer Opfer sind und wie sie sich zu verhalten haben.
Wie sollen wir das verstehen? Richtet sich die Kritik gegen das Wort „Vergewaltigung“ oder gegen das Wort „Opfer“? Oder überhaupt gegen etwas ganz anderes, das allerdings nicht klar herausgearbeitet wird? Ist „Unfallopfer“ noch akzeptabel, „Vergewaltigungsopfer“ aber nicht mehr? Und wenn ja, warum?
Jedenfalls finden Sanyal und Albrecht „Erlebende“ besser als „Opfer“ und meinen dazu:
Selbstverständlich soll „Erlebende“ andere Bezeichnungen nicht ersetzen. Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Betroffene*r wahrnimmt, hat jedes Recht sich auch so zu beschreiben! Nur können wir das im Vorhinein ja nicht wissen. Deshalb ist es wichtig, einen Begriff zur Verfügung haben, der eine höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, „Erlebende“ in den Duden aufzunehmen.
Für diese Erörterungen erlebt Sanyal jetzt einen Shitstorm - bzw. altmodisch und „wertend“ ausgedrückt: Sie wurde zum Opfer eines Shitstorms.
Feministinnen (EMMA, die Störenfriedas und viele andere) sind entrüstet und werfen Sanyal und Albrecht die sprachliche Verharmlosung eines Kapitalverbrechens vor. Und die Ent-Schuldung des Täters oder der Täter. Denn: Wo kein Opfer mehr ist, ist auch kein Täter.
Mithu Sanyal wehrt sich in der Huffington Post:
…. geht es nicht darum, nun bei Gerichtsprozessen Opfer und Täter zu verwischen. Worum es geht, sind Selbstbezeichnungen von Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, im späteren Verlauf ihres Lebens [meine Hervorhebung]
Zur Vorgeschichte ihres umstrittenen Vorschlags erzählt sie, sie habe am 1. Februar eine Lesung aus ihrer „Kulturgeschichte der Vergewaltigung“ gemacht,
auf der Betroffene von sexualisierter Gewalt darum gebeten haben, nicht als Opfer bezeichnet zu werden.
Sie haben daraufhin den Vorschlag gemacht „Erlebende sexualisierter Gewalt" genannt zu werden, weil dadurch eine Empathieverschiebung auf ihr Erleben stattfinden würde und die nächste Frage dann wäre: Wie hast du denn das Verbrechen erlebt? Als traumatisierend, als schrecklich etc. Und sie eben auch die Möglichkeit hätte zu sagen, sie hätten es durchlebt und nun hinter sich gelassen.
Wenn „Vergewaltigungsopfer“ sich als „Erlebende sexualisierter Gewalt" bezeichnen wollen, so ist das allein ihre Sache, wir haben ihnen nicht dreinzureden. Aber jetzt ist die Sprachgemeinschaft gefragt, ob sie dieser Umbenennung folgen will. Nach den bisherigen Reaktionen zu urteilen, ist sie vorerst nicht dazu bereit. Vielmehr wird, von Links bis Rechts und vor allem von Feministinnen, mächtig dagegen gewütet. Damit werden die Autorinnen schon gerechnet haben, denn sie berichten:
Wer das, was ihr oder ihm angetan worden war, selbst definieren wollte, hatte ein Problem, oder ihm*ihr wurde ein Problem gemacht. Wie zum Beispiel Natascha Kampusch, die sich mit nichts so viele Feinde machte wie mit der Aussage: „Ich bin kein Opfer“.
Wogegen genau verwahren sich die Frauen, wenn sie sich „Erlebende sexualisierter Gewalt" statt „Vergewaltigungsopfer“ nennen? Sanyal schreibt, es geschieht, damit sie „die Möglichkeit hätten zu sagen, sie hätten es durchlebt und nun hinter sich gelassen.“ Und in „Du Opfer“ erklären Sanyal & Albrecht:
Wer möchte, dass die Krankenkasse eine Therapie nach sexualisierter Gewalt bezahlt, braucht die psychiatrische Diagnose Trauma. Dadurch wird jedoch ein Trauma, das von außen zugefügt wurde, zu einer seelischen Wunde, und damit in dem Traumatisierten selbst begründet. In eine ähnliche Richtung geht die juristische Bezeichnung „Geschädigte*r“, impliziert sie doch, dass Geschädigte einen Schaden zurückbehalten. Und „Betroffene*r“ hört sich so … betroffen an.
All diese Erklärungen gehen dahin, dass die „Erlebenden“ zwar etwas durchgemacht haben, aber sie haben es „hinter sich gelassen“. Sie wollen durch ihr „Erlebnis“, das sie vielleicht sogar als weniger schlimm erlebt haben, als jetzt von ihnen erwartet wird, nicht heute noch, und in alle Ewigkeit, abgestempelt werden. Sie waren (vielleicht) einmal Opfer, sind es aber heute nicht mehr. Heute sind sie vielmehr starke Frauen, die das Schreckliche hinter sich gelassen haben.
Ich habe den Eindruck, die „Erlebenden“ versuchen mit Nachdruck, Stigma- und Informationsmanagement zu betreiben und die Informationshoheit bzw. Definitionsmacht darüber zu behalten, wer sie eigentlich sind und wie sie wahrgenommen werden. Es erinnert mich an die Informationsstrategie vieler Krebskranker, die von ihrer Krankheit möglichst wenigen erzählen, weil sie mit Recht fürchten, dann nicht mehr als „normale Menschen“ behandelt zu werden, sondern mit extremer Vorsicht und Rücksichtnahme, mit Mitleid etc. Falls sie nicht sogar ängstlich gemieden werden, weil die anderen plötzlich nicht mehr wissen, wie sie jetzt mit ihnen umgehen sollen. Die Krebskranken aber wollen diejenigen bleiben, die sie immer gewesen sind und nicht durch ihre Krankheit definiert werden. Die Rücksichtnahme, das Mitleid etc. gehen ihnen auf den Geist und helfen ihnen nicht, sondern erinnern sie immer wieder an die elende Krankheit.
Ob aber für „Vergewaltigungsopfer“ eine Umbenennung, und nun ausgerechnet diese, helfen kann? Ich bezweifle das. „Erlebende“ führt als Partizip Präsens bzw. „Mittelwort der Gegenwart“ unmittelbar in die Gegenwart, statt das Erlebte in der Vergangenheit, „hinter sich“, zu belassen. Würde es vielleicht helfen, einfach zu sagen „Ich bin vergewaltigt worden.“? In dem Satz kommt das beanstandete Wort „Opfer“ nicht mehr vor, auch nicht „Vergewaltigung“. Aber gesucht wird anscheinend ein Substantiv zur Benennung jener Menschen, die wir bisher „Vergewaltigungsopfer“ genannt haben, oder auch „Überlebende sexueller Gewalt“. „Überlebende“ wird von Sanyal und Albrecht aber auch abgelehnt, es erinnere zu sehr an eine zurückliegende Katastrophe und „gewährleiste“ nicht die „höchstmögliche Wertungsfreiheit“.
Aussichtsreicher als eine Umbenennung scheint mir eine Strategie des „Reclaiming“. „Dem Opfer die Schuld geben“ haben Feministinnen schon früh als eine der gemeinsten patriarchalen Strategien entlarvt. Sollen wir Frauen nun wirklich kuschen - und selber das Wort „Opfer“ abschaffen, nur weil es nicht in ein Macho-Wertesystem passt, das Stärke oder den Anschein davon verehrt und Wehrlose verhöhnt? Wenn Jugendliche diesem kriegerischen Wertesystem aufsitzen und „mit feinem Sprachgespür“ andere mit „Du Opfer!“ beleidigen wollen, gehören dazu zwei: Erstens die Partei, die beleidigen will, zweitens die Partei, die die „Beleidigung“ ratifiziert, indem sie sich beleidigt fühlt. Das sollten wir kategorisch ablehnen und in Ruhe den „Opferstatus“ für uns beanspruchen, wenn uns ein Leid angetan wurde. Wir könnten uns sogar geehrt fühlen. Der historische Jesus war zweifellos ein Opfer. Aber was für eins! Es wirkt bis heute.
Noch aussichtsreicher ist wahrscheinlich eine sehr selektive Informationsstrategie: Erzähle von solchen „Erlebnissen“ nur denjenigen, die dein Vertrauen verdienen. Aber manche gehen mit Problemen eben lieber „offensiv“ um. Eine meiner Freundinnen leidet an Inkontinenz und erzählt es allen, ob sie es hören wollen oder nicht. Ihre Offenheit wirkt entwaffnend und ansteckend: Sie bekommt viele Verbündete, die bis dahin auch nur heimlich gelitten haben.
Ich hatte einen schwulen Freund, der in den achtziger Jahren, als das Schwulsein noch nicht schick, sondern verächtlich war, überall sofort erzählte, er sei schwul. Er erklärte: „Jetzt haben die anderen das Problem, wie sie damit umgehen sollen.“ Dieses umwerfende Selbstbewusstsein hatte er sich allerdings mühsam erarbeiten müssen.
Worauf ich hinaus will: Wenn ich nicht möchte, dass andere mich nach ihrem ignoranten Verständnis bestimmter Begriffe -wie „Vergewaltigungsopfer“,“krebskrank“, „inkontinent“, „schwul“ - definieren und verurteilen, stehen mir verschiedene Strategien zur Verfügung, z.B. selektives oder im Gegenteil offensives Informationsverhalten (Reclaiming). Viel weniger erfolgversprechend dürfte Umbenennung sein. Blankes Unverständnis, wenn nicht Wut, löst der Versuch aus, Vergewaltigung als Erlebnis zu verkaufen. So haben die Autorinnen es auch nicht gemeint. Aber diese Schlussfolgerung liegt linguistisch so nahe, dass sie sie nicht hätten übersehen dürfen.
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Dank an Rolf Löchel, von dem ich den Titel übernommen habe und ohne den ich von dieser Debatte vor lauter dumpfem Trumpen in Boston gar nichts vernommen hätte.
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10 Kommentare
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25.02.2017 um 19:24 Uhr Dorette
Als Betroffene von sexualisierter Gewalt habe ich in persönlichen Gesprächen - wie viele andere, die ich kenne, auch - den Begriff “Opfer” weit von mir gewiesen. Dahinter steckt, wie hier im Text auch gut ausgedrückt wurde, der Wunsch, als Handelnde wahrgenommen und nicht nur auf das eine Ereignis und das Opfer-Sein reduziert zu werden. Das ist aber etwas ganz anderes, als wenn der Begriff Opfer quasi-objektiv aus dem Sprachgebrauch über sexuelle Gewalt verschwinden soll. Zudem: Als Überlebende hat man häufig den Wunsch zu vergessen, alles ungeschehen zu machen und einfach so weiterzuleben wie zuvor. So zu tun, als wäre nie etwas gewesen. So ging es mir häufig und es ist sicherlich verständlich, aber das sollte ja nun nicht von der ganzen Gesellschaft übernommen werden! Davon mal abgesehen, dass ja die Gesellschaft gerade erst beginnt, Opfer sexueller Gewalt ernst zu nehmen, sie als Opfer überhaupt wahrzunehmen.
Und: was ist “höchstmögliche Wertungsfreiheit”, kann man das mit Sprache überhaupt und warum soll es bei diesem Thema überhaupt angestrebt werden? Mein Empfinden ist, dass M.S. die Gefühle der Betroffenen nicht oder nur pseudo-ernst nimmt, da sie auch die bisherigen Selbstbezeichnungen (“Betroffene/r”, “Überlebende”) nicht berücksichtigt, sondern unbedingt was Neues hermuss.
25.02.2017 um 16:51 Uhr Anne
Wenn sich betroffene von sexualisierter gewalt als `erlebende` bezeichnen , wie soll die andere seite, die geschlechtsspezifische verbrechen an frauen und mädchen begeht und dafür verantwortung trägt, genannt werden? für die das verbrechen in der tat zu einem geplanten erlebnis wurde? die forensik versucht häufig eine erklärung zu finden, indem sie die täter als `opfer` ihrer umwelt durchleuchtet. es gibt nun einmal situationen, in denen ich als betroffene von verbrechen `wehrlos` bin. ein `opfer` kann wehrlos, stark, wehrhaft sein, aber der begriff zeigt, dass etwas mit ihnen gegen ihren willen geschieht. der begriff `erlebende` wirkt auf mich verharmlosend, denn etwas `erleben` kann positiv wie auch negativ sein . was die motivation der täter von sexualisierter gewalt an frauen und mädchen betrifft, dahinter steckt frauenhass - kein schönes erlebnis für die betroffenen , zumal die misogynie in der menschheitsgeschichte mio weibliche opfer hervorgebracht hat . M. Sanyal hat das buch `vulva` - die enthüllung des weibl. geschlechts geschrieben; ich kenne den buchinhalt nicht, aber mir gefiel das buchcover gar nicht ; die anonymisierte frau , erkennbar durch ihre gespreizten nackten beine , fast körper- und kopflos , fast schutzlos oder auf etwas wartend mitten im wald und auf laub hingebungsvoll drapiert, in ihrer mitte herausgeputzt ein baum wie ein überdimensionaler phallus nach oben gen himmel ragend, irgendwie bedrohlich ; wurde damit die negative seite der kulturgeschichte des weibl. geschlechts anhand eines bildes sichtbar gemacht oder sollte es stärke symbolisieren? vielleicht beides, dass jede frau auch `opfer` sein kann und somit gegen ihren willen von geschlechtsspezifischer gewalt bedroht ist? und ich meine, die bedrohung beginnt mit dem sexistischen `bild der frau` , das uns die herrkömmliche sexindustrie, die pornografie, das prostitutions-gewerbe täglich auftischt - das prägt den blick auf die frau als sexualwesen bzw. als -objekt, das auf jede erdenklich widerliche art und weise von den tätern benutzt werden kann.
Danke an Laut & Luise !