Vergewaltigung als Erlebnis?
Mithu Sanyal und Marie Albrecht, Autorinnen des taz-Artikels „Du Opfer“, kritisieren das Wort „Opfer“ (wie in „Vergewaltigungs-Opfer“):
„Opfer“ ist keineswegs ein wertfreier Begriff, sondern bringt eine ganze Busladung von Vorstellungen mit. Wie die, dass Opfer wehrlos, passiv und ausgeliefert sind – und zwar komplett. Bloß sind Menschen, denen etwas angetan wurde, ja immer noch sie selbst. Vielleicht haben sie sich in der Situation ausgeliefert gefühlt, vielleicht haben sie sich auch erfolgreich gewehrt, vielleicht … Doch macht ein Begriff wie "Opfer" alle gleichsam zu … Opfern eben. […] Im Lexikon finden sich so charmante Synonyme wie: ‚Unglückswurm‘ oder ‚armes Hascherl‘. Und Jugendliche bringen das mit ihrem feinen Sprachgespür in der Beleidigung „Du Opfer!“ auf den Punkt.
Und weiter heißt es:
Wenn mir jemand erzählt, dass er oder sie einmal einen Autounfall gehabt hat, wird sich meine Wahrnehmung dieser Person wahrscheinlich kaum verändern. Genau das passiert jedoch, wenn wir „Autounfall“ durch „Vergewaltigung“ ersetzen. Das hat Vorteile: dass wir vorsichtig sind, dass wir das Geschehen ernst nehmen. Und Nachteile: dass wir ausschließlich vorsichtig sind, egal, was sich die Person von uns wünscht, dass wir das Geschehen ernster nehmen als alles andere im Leben dieser Person oder dass wir die Person eben nicht ernst nehmen, weil wir eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie und wer Opfer sind und wie sie sich zu verhalten haben.
Wie sollen wir das verstehen? Richtet sich die Kritik gegen das Wort „Vergewaltigung“ oder gegen das Wort „Opfer“? Oder überhaupt gegen etwas ganz anderes, das allerdings nicht klar herausgearbeitet wird? Ist „Unfallopfer“ noch akzeptabel, „Vergewaltigungsopfer“ aber nicht mehr? Und wenn ja, warum?
Jedenfalls finden Sanyal und Albrecht „Erlebende“ besser als „Opfer“ und meinen dazu:
Selbstverständlich soll „Erlebende“ andere Bezeichnungen nicht ersetzen. Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Betroffene*r wahrnimmt, hat jedes Recht sich auch so zu beschreiben! Nur können wir das im Vorhinein ja nicht wissen. Deshalb ist es wichtig, einen Begriff zur Verfügung haben, der eine höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, „Erlebende“ in den Duden aufzunehmen.
Für diese Erörterungen erlebt Sanyal jetzt einen Shitstorm - bzw. altmodisch und „wertend“ ausgedrückt: Sie wurde zum Opfer eines Shitstorms.
Feministinnen (EMMA, die Störenfriedas und viele andere) sind entrüstet und werfen Sanyal und Albrecht die sprachliche Verharmlosung eines Kapitalverbrechens vor. Und die Ent-Schuldung des Täters oder der Täter. Denn: Wo kein Opfer mehr ist, ist auch kein Täter.
Mithu Sanyal wehrt sich in der Huffington Post:
…. geht es nicht darum, nun bei Gerichtsprozessen Opfer und Täter zu verwischen. Worum es geht, sind Selbstbezeichnungen von Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, im späteren Verlauf ihres Lebens [meine Hervorhebung]
Zur Vorgeschichte ihres umstrittenen Vorschlags erzählt sie, sie habe am 1. Februar eine Lesung aus ihrer „Kulturgeschichte der Vergewaltigung“ gemacht,
auf der Betroffene von sexualisierter Gewalt darum gebeten haben, nicht als Opfer bezeichnet zu werden.
Sie haben daraufhin den Vorschlag gemacht „Erlebende sexualisierter Gewalt" genannt zu werden, weil dadurch eine Empathieverschiebung auf ihr Erleben stattfinden würde und die nächste Frage dann wäre: Wie hast du denn das Verbrechen erlebt? Als traumatisierend, als schrecklich etc. Und sie eben auch die Möglichkeit hätte zu sagen, sie hätten es durchlebt und nun hinter sich gelassen.
Wenn „Vergewaltigungsopfer“ sich als „Erlebende sexualisierter Gewalt" bezeichnen wollen, so ist das allein ihre Sache, wir haben ihnen nicht dreinzureden. Aber jetzt ist die Sprachgemeinschaft gefragt, ob sie dieser Umbenennung folgen will. Nach den bisherigen Reaktionen zu urteilen, ist sie vorerst nicht dazu bereit. Vielmehr wird, von Links bis Rechts und vor allem von Feministinnen, mächtig dagegen gewütet. Damit werden die Autorinnen schon gerechnet haben, denn sie berichten:
Wer das, was ihr oder ihm angetan worden war, selbst definieren wollte, hatte ein Problem, oder ihm*ihr wurde ein Problem gemacht. Wie zum Beispiel Natascha Kampusch, die sich mit nichts so viele Feinde machte wie mit der Aussage: „Ich bin kein Opfer“.
Wogegen genau verwahren sich die Frauen, wenn sie sich „Erlebende sexualisierter Gewalt" statt „Vergewaltigungsopfer“ nennen? Sanyal schreibt, es geschieht, damit sie „die Möglichkeit hätten zu sagen, sie hätten es durchlebt und nun hinter sich gelassen.“ Und in „Du Opfer“ erklären Sanyal & Albrecht:
Wer möchte, dass die Krankenkasse eine Therapie nach sexualisierter Gewalt bezahlt, braucht die psychiatrische Diagnose Trauma. Dadurch wird jedoch ein Trauma, das von außen zugefügt wurde, zu einer seelischen Wunde, und damit in dem Traumatisierten selbst begründet. In eine ähnliche Richtung geht die juristische Bezeichnung „Geschädigte*r“, impliziert sie doch, dass Geschädigte einen Schaden zurückbehalten. Und „Betroffene*r“ hört sich so … betroffen an.
All diese Erklärungen gehen dahin, dass die „Erlebenden“ zwar etwas durchgemacht haben, aber sie haben es „hinter sich gelassen“. Sie wollen durch ihr „Erlebnis“, das sie vielleicht sogar als weniger schlimm erlebt haben, als jetzt von ihnen erwartet wird, nicht heute noch, und in alle Ewigkeit, abgestempelt werden. Sie waren (vielleicht) einmal Opfer, sind es aber heute nicht mehr. Heute sind sie vielmehr starke Frauen, die das Schreckliche hinter sich gelassen haben.
Ich habe den Eindruck, die „Erlebenden“ versuchen mit Nachdruck, Stigma- und Informationsmanagement zu betreiben und die Informationshoheit bzw. Definitionsmacht darüber zu behalten, wer sie eigentlich sind und wie sie wahrgenommen werden. Es erinnert mich an die Informationsstrategie vieler Krebskranker, die von ihrer Krankheit möglichst wenigen erzählen, weil sie mit Recht fürchten, dann nicht mehr als „normale Menschen“ behandelt zu werden, sondern mit extremer Vorsicht und Rücksichtnahme, mit Mitleid etc. Falls sie nicht sogar ängstlich gemieden werden, weil die anderen plötzlich nicht mehr wissen, wie sie jetzt mit ihnen umgehen sollen. Die Krebskranken aber wollen diejenigen bleiben, die sie immer gewesen sind und nicht durch ihre Krankheit definiert werden. Die Rücksichtnahme, das Mitleid etc. gehen ihnen auf den Geist und helfen ihnen nicht, sondern erinnern sie immer wieder an die elende Krankheit.
Ob aber für „Vergewaltigungsopfer“ eine Umbenennung, und nun ausgerechnet diese, helfen kann? Ich bezweifle das. „Erlebende“ führt als Partizip Präsens bzw. „Mittelwort der Gegenwart“ unmittelbar in die Gegenwart, statt das Erlebte in der Vergangenheit, „hinter sich“, zu belassen. Würde es vielleicht helfen, einfach zu sagen „Ich bin vergewaltigt worden.“? In dem Satz kommt das beanstandete Wort „Opfer“ nicht mehr vor, auch nicht „Vergewaltigung“. Aber gesucht wird anscheinend ein Substantiv zur Benennung jener Menschen, die wir bisher „Vergewaltigungsopfer“ genannt haben, oder auch „Überlebende sexueller Gewalt“. „Überlebende“ wird von Sanyal und Albrecht aber auch abgelehnt, es erinnere zu sehr an eine zurückliegende Katastrophe und „gewährleiste“ nicht die „höchstmögliche Wertungsfreiheit“.
Aussichtsreicher als eine Umbenennung scheint mir eine Strategie des „Reclaiming“. „Dem Opfer die Schuld geben“ haben Feministinnen schon früh als eine der gemeinsten patriarchalen Strategien entlarvt. Sollen wir Frauen nun wirklich kuschen - und selber das Wort „Opfer“ abschaffen, nur weil es nicht in ein Macho-Wertesystem passt, das Stärke oder den Anschein davon verehrt und Wehrlose verhöhnt? Wenn Jugendliche diesem kriegerischen Wertesystem aufsitzen und „mit feinem Sprachgespür“ andere mit „Du Opfer!“ beleidigen wollen, gehören dazu zwei: Erstens die Partei, die beleidigen will, zweitens die Partei, die die „Beleidigung“ ratifiziert, indem sie sich beleidigt fühlt. Das sollten wir kategorisch ablehnen und in Ruhe den „Opferstatus“ für uns beanspruchen, wenn uns ein Leid angetan wurde. Wir könnten uns sogar geehrt fühlen. Der historische Jesus war zweifellos ein Opfer. Aber was für eins! Es wirkt bis heute.
Noch aussichtsreicher ist wahrscheinlich eine sehr selektive Informationsstrategie: Erzähle von solchen „Erlebnissen“ nur denjenigen, die dein Vertrauen verdienen. Aber manche gehen mit Problemen eben lieber „offensiv“ um. Eine meiner Freundinnen leidet an Inkontinenz und erzählt es allen, ob sie es hören wollen oder nicht. Ihre Offenheit wirkt entwaffnend und ansteckend: Sie bekommt viele Verbündete, die bis dahin auch nur heimlich gelitten haben.
Ich hatte einen schwulen Freund, der in den achtziger Jahren, als das Schwulsein noch nicht schick, sondern verächtlich war, überall sofort erzählte, er sei schwul. Er erklärte: „Jetzt haben die anderen das Problem, wie sie damit umgehen sollen.“ Dieses umwerfende Selbstbewusstsein hatte er sich allerdings mühsam erarbeiten müssen.
Worauf ich hinaus will: Wenn ich nicht möchte, dass andere mich nach ihrem ignoranten Verständnis bestimmter Begriffe -wie „Vergewaltigungsopfer“,“krebskrank“, „inkontinent“, „schwul“ - definieren und verurteilen, stehen mir verschiedene Strategien zur Verfügung, z.B. selektives oder im Gegenteil offensives Informationsverhalten (Reclaiming). Viel weniger erfolgversprechend dürfte Umbenennung sein. Blankes Unverständnis, wenn nicht Wut, löst der Versuch aus, Vergewaltigung als Erlebnis zu verkaufen. So haben die Autorinnen es auch nicht gemeint. Aber diese Schlussfolgerung liegt linguistisch so nahe, dass sie sie nicht hätten übersehen dürfen.
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Dank an Rolf Löchel, von dem ich den Titel übernommen habe und ohne den ich von dieser Debatte vor lauter dumpfem Trumpen in Boston gar nichts vernommen hätte.
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10 Kommentare
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15.04.2017 um 17:03 Uhr Mazza
Ich meine nicht, dass der Begriff Opfer die Betroffenen von Gewalthandlungen klein macht oder zur Passivität gegenüber den Tätern verdammt. Es gibt nun einmal Verbrechen, da kann auch die ganze Gegenwehr der Opfer das Verbrechen nicht verhindern. Kürzlich schrieb die Presse über die vielen sexuellen Untaten, Vergewaltigungen von sog. FriedensSoldaten in Zentralafrika und anderswo. Geschildert wurde der Fall eines 12jährigen Mädchens mit der Überschrift, dass sie Sex mit 50 Soldaten hatte. Das klingt so, als ob die SexErlebnisse von Vergewaltigungen mit dem uneingeschränkten Einverständnis des Kindes erfolgten. Es hatte Sex mit 50 Friedenssoldaten ; genauso eine Form von Verharmlosung wie m.E. der Begriff Opfer nun in der Schublade verschwinden soll. Hier geht es um Sex , Vergewaltigung als Gegenleistung , aus Armut, aus Hunger, aufgrund einer furchtbaren sozialen und unmenschlichen Situation heraus. Den Versuch , sprachlich das Erlebnis von Gewalt zu verfremden, nur, weil es angeblich auf Passivität reduziert, kann ich nicht nachvollziehen. Wenn es in der Jugendsprache üblich ist, bei jeder kleinen Begebenheit einer Auseinandersetzung die Gegenüber verbal mit der Bezeichnung Du Opfer niederzumachen, ist das eher ein Zeichen von maskuliner Verrohung und zunehmender Empathielosigkeit, so, wie sich die Witzkultur der Mutterwitze inzwischen dahin entwickelt hat , deren extreme Frauenfeindlichkeit viele einfach übersehen haben. Luise schrieb mal eine Glosse dazu. Auch geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen, Mädchen hat einen misogynen Hintergrund, für viele endete dieser tödlich. Hier aber zur Information eine Broschüre zu einem Symposium von 2007 , wo es u.a. zum Begriff Opfer verschiedene Ausführungen gibt. Zitat: In den letzten 10 Jahren ist Gewalt gegen Jungen und Männer in den Blick gekommen. Hierbei wird der Opferbegriff wiederum geradezu eingefordert. Dahinter steht die These, dass die von Männern erlittene Gewalt bagatellisiert oder völlig übersehen wird , weil die Wahrnehmung vorherrscht, dass ein Mann nicht Opfer sein kann. https://www.strohhalm-ev.de/kunde/pdf/1/25_6_07.pdf
28.03.2017 um 11:22 Uhr Katja
Liebe Luise,
Ich finde “Black” taugt nicht gerade als Beispiel für Reframing, wenn dann eher “People of Color”, der aber wegen der sprachlichen Nähe zu “coloured” von vielen Schwarzen abgelehnt wird. Worin sich auch ein gutes Beispiel dafür zeigt, dass Reframing nichts ist, was nur ein Teil einer Community wirklich wollen muss und dann funktioniert es. Wenn es substantielle Teile einer Communitiy gibt, die einen Begriff als so verletzend empfinden, dass sie einfach nicht mit ihm konfrontiert werden wollen, dann läuft der Versuch von Reframing ins Leere. Das gilt für das N-Wort, für “Schwuchtel” (während “Tunte” ein Reframing zu erfahren scheint) - und eben auch für “Opfer”, weil es ein inhärent passives Element hat, was von vielen Betroffenden / Erlebenden / Überlebenden sowohl wegen der Passivität als auch wegen der Reduzierung ihres Seins auf einen bestimmten / bestimmte Momente ihres Lebens strikt abgelehnt wird.
Ich glaube übrigens, dass in Bezug auf die Verwendung des Begriffes Opfer als Schimpfwort umgekehrt ein Schuh draus wird: Die Jugendlichen haben begriffen, was viele Erwachsene, die den Begriff seit Jahrzehnten verwenden, nicht sehen wollen oder können. Dass “Opfer” nämlich ein Begriff ist, der klein macht, reduziert, zur Passivität gegenüber dem Täter verdammt.
Hauptsache, der Diskurs geht weiter.
Dazu auch ein ganz guter Beitrag auf der Mädchenmannschaft:
http://maedchenmannschaft.net/opfer_diskurs-zeit-fuer-mut-zum-perspektivwechsel/
28.02.2017 um 21:19 Uhr Luise F. Pusch
Lieber Herr Sachs,
Beim „Reclaiming“ (etwa „sich wieder aneignen“) geht es darum, einen negativ besetzten Begriff, oft ein Schimpfwort, für eigene politische Zwecke umzumünzen. Da zum Beschimpfen/Beleidigen, wie ich in der Glosse ausgeführt habe, ja zwei Parteien gehören, läuft die Beleidigung ins Leere, wenn ich sie nicht ratifiziere, als Beleidigung auffasse, sondern stolz zur Selbstbezeichnung nutze. Die bekanntesten Beispiele hierfür dürften „schwul“ und „Black“ sein. Wenn „Opfer“ seit Anfang des neuen Jahrtausends von schlecht beratenen Jugendlichen als Schimpfwort benutzt wird, können die Vergewaltigungsopfer, statt sich neuerdings mit dem Wort beschimpfen zu lassen, diese Beschimpfung stolz zurückweisen, indem sie das Wort wieder bzw. nach wie vor für sich beanspruchen. Insofern kommt Ihre Erklärung, „einem allgemein als problematisch empfundenen Begriff durch den offensiven Gebrauch im eigenen Kontext eine emotional neue Note zu verleihen“ der Sache schon recht nah. Nur muss es nicht unbedingt eine emotional neue Note sein, es kann auch die alte Note sein, die wiederbelebt wird.
„Reframing“ hingegen ist das, was die „Erlebenden“ vorhaben: statt des als negativ empfundenen Wortes „Opfer“ ein „wertneutrales“ Wort benutzen. In der Glosse über die „Patrioten“ in Neu-England gab es dafür ein interessantes Beispiel. Aus einfachen „Rebellen“, „Aufständischen“ wurden „Patrioten“ obwohl das eigentlich dazugehörige „Patria“, Vaterland, noch gar nicht existierte. Ähnlich: „Terrormiliz“ vs. „Islamischer Staat“, „Terroristen“ vs. „Freiheitskämpfer“. Die am. Anti-Abtreibungsbewegung nennt sich „Pro Life“ und brachte damit die Gegenseite in Sprachnot, denn das Antonym ist „Pro Death“, und so will wohl niemand heißen. Lösung „Pro Choice“. Undsoweiter, die Liste könnte endlos fortgesetzt werden.
28.02.2017 um 16:31 Uhr Katja
Ich wollte den Text schon auch wegklicken - aber aus anderen Gründen als eine der anderen Kommentatorinnen: Weil ich nämlich überhaupt nicht verstehen kann, dass eine Debatte darüber, ob es, vielleicht auch mittel- bis langfristig, einen besseren Ausdruck als das Wort “Opfer” gibt. Analog wie die “Survivor”-Debatte in den USA, die ja schon mehr als zwei Jahrzehnte alt sein müsste.
Und natürlich kann man hoffen, dass man den Begriff “Vergewaltigung” oder “Opfer” reframed, wobei dem natürlich auch (wissenschaftliche) Konzepte wie dem der Viktimisierung entgegen stehen.
Viel wichtiger finde ich es aber, dass Feministinnen sich nicht sofort gegenseitig die denkbar schlechtesten Motive unterstellen (und anderen Frauen im schlechstesten Fall wie hier noch - absichtlich oder unabsichtlich - Maskulisten auf den Hals hetzen, die den Autorinnen Vergewaltigung und schlimmeres wünschen), sondern dass es weiter die Möglichkeit gibt, über Fremd- und Selbstbezeichnungen zu ringen. Dieses Ringen gibt es immer wieder und andere Gruppen haben erfolgreich *ihr* Framing durchgesetzt. Schwarze werden als Schwarze bezeichnet, nicht mit N-Wörtern, Schwule als Schwule und nicht als “Homos”, Lesben als Lesben und nicht Lesbierinnen. Warum sollte den Frauen, denen sexuelle Gewalt angetan wurde, solch eine Möglichkeit verwehrt bleiben? Und warum sollten Frauen, die an Sprache interessiert sind, über diesen Diskurs nicht berichten dürfen, vielleicht sogar Partei ergreifen?
Die EMMA behauptete neulich ja, es gäbe einen Hass-Feminismus, der Frauen zum Verstummen bringen würde. Die Reaktionen auf Mithu Sanyal und Marie Albrecht sind keinen Deut besser - weder in ihrer Wortwahl, ihren Unterstellungen - und ganz sicher nicht in ihren Folgen. Mithu Sanyals Privatadresse kursiert mit Gewaltandrohungen im Netz. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich das nächste Mal eine Frau mit (berechtigter!) Kritk an der aktuellen Verwendung des Wortes Opfer und neuen Vorschlägen aus der Deckung wagen wird?
Ich vermute, bei denjenigen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, wird es die “one fits all”-Lösung in der Sprache nicht geben. Zu unterschiedlich ist tatsächlich das Erleben, die Resilienz, der Umgang. Offen dafür zu bleiben, dass Frauen selbst nach Gewalterfahrungen Individuen bleiben, mit ganz eigenen Bedürfnissen, scheint mir der Kern feministischen Denkens und Handelns. Ich kann nicht sehen, dass alle, die sich Feministinnen nennen, diesem Anspruch in der Auseinandersetzung gerecht geworden sind…
27.02.2017 um 19:45 Uhr Amy
Vergewaltigung war ein Tabuthema , das erst durch die Frauenbewegung öffentlich gemacht und ernsthaft angegangen wurde . Vergewaltigung in der Ehe , darüber hat noch i.d. 1980er Jahren die Politik heftig gestritten. Es hat lange gedauert, bis der Begriff `Vergewaltigung` von betroffenen Frauen nicht mehr voller Scham ausgesprochen wurde. Wie viele Frauen wurden in ihren Ehebetten von ihren Ehemännern vergewaltigt und haben darüber jahrelang geschwiegen. Es einfach über sich ergehen lassen müssen, weil Sex zu ihren ehelichen Pflichten zählte, die sie lt. Gesetz nicht passiv , sondern aktiv mitgestalten mussten. Inzwischen sind wir soweit, dass wir Frauen Begriffe wie Vulva, Vagina u.v.a. selbstbewusst aussprechen können.
Wir müssen uns nicht mehr schämen , auch nicht schämen, Opfer eines Verbrechens, einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Übergriffes zu sein. Frauen und Mädchen haben endlich die Möglichkeit, aktiv zu werden und diese Vorfälle zur Anzeige zu bringen, weil sie durch die Erfolge und Aktivitäten der Frauenbewegung auch darin gestärkt wurden. Die Definition `Erlebende sexualisierter Gewalt` empfinde ich irreführend, vor allem, was die Taten und die Täter betrifft. Sexualisierte Gewalt oder sexuelle Gewalt bezieht sich auf verschiedene Abläufe, von Belästigung , über blöde Sprüche bis hin zu häuslicher Gewalt. Das Wort `Vergewaltigung oder Sexualterror` ist m.E. deutlicher, wenn es um das schlimmste Verbrechen an Frauen geht. Ich kann mit dem Begriff `Erlebende sexualisierter Gewalt` leider wenig anfangen. Vergewaltigungen sind darüber hinaus eine Kriegsstrategie, ob in Friedens- oder Kriegszeiten; letztlich bedeutet es Krieg gegen Frauen und Mädchen , auch aufgrund der misogynen Einstellung ; zitat aus der Taz: ” Die Neuformulierung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ schmälert Sexualverbrechen. Die Wortgruppe banalisiert und verniedlicht solche Taten, macht sie harmloser und kleiner. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was Sanyal und Albrecht beabsichtigen. Die eindeutige Begriffsbipolarität – hier Opfer, dort Täter – dient der Klassifizierung, sowohl juristisch und kriminologisch als auch sozialpsychologisch: Es wird klargestellt, dass jemand einer anderen Person Unrecht angetan hat. Dadurch wird ein Täter nicht automatisch zu einem Monster und ein Opfer nicht automatisch zu einer bemitleidenswerten, passiven Person. Bestenfalls wird das Opfer zu jemandem, der Hilfe braucht und diese bekommen sollte.”
Ich empfinde das auch so ! Und da Frauen endlich nicht mehr schweigen oder sich schämen müssen, handeln sie aktiv und hoffentlich haben noch mehr betroffene Frauen Mut dazu. Diejenigen Kommentierenden, die M.S. mit Vergewaltigungs-Fantasien und mit Gewalt drohen, sind genau jene aus der Maskulinistenszene , die jede wehrhafte Frau, jede wehrhafte Feministin mit Gewalt und Hass konfrontieren. Diese Reaktion ist also nichts Neues! http://www.taz.de/!5382143/
27.02.2017 um 17:57 Uhr Lena Vandrey
Der Ausdruck “Du Opfer” ähnelt dem Ausdruck “Du tust mir Leid, Du kannst mir Leid tun”. In beiden Fällen handelt es sich nicht um Mitleid und Verständnis, sondern nur um Verachtung. Die Aussagen über die “Erlebnis-Vergewaltigung” sind schmachvoll und gemein, und dass Frauen einen derartig hanebüchenen Mist verzapfen, ist entsetzlich. Es geht um die Verharmlosung eines Kardinalverbrechens, welchem die Hälfte der Menschheit schutzlos ausgeliefert wird. Von Autorinnen, die nicht zu wissen scheinen, dass ihnen dasselbe und gleiche “Erlebnis” jederzeit passieren kann. Weibliche Menschen sind von acht Wochen bis über neunzig Jahren potenzielle Opfer von Mördern, denn Vergewaltigung ist Mord an Leib und Seele.
Es hat schon einmal etwas Ähnliches gegeben, und das war die Verharmlosung von Naziverbrechen von Seiten der Philosophin Arendt. Ihre “böse” Idee von der “Banalität des Bösen” ist jetzt auch zugange. Wenn alle Täter sind, ist es keiner, und wenn die armen verkrüppelten Opfer jetzt nur noch ein “Erlebnis” haben, gibt es keine Täter mehr.
Im Französischen haben wir keinen Neutrum-Artikel und folgerichtig kein Weib, Weibsstück, Ding, junges Ding, usw ... Die Bezeichnung “victime” ist weiblich und gilt für alle Opfer. Christus und Spartakus, Jeanne d’Arc und alle Gekreuzigten, Verbrannten, Gehängten und Geköpften sind “victimes”. Wir können uns nicht denken, dass diese Grausamkeiten in “Erlebnisse” verwandelt werden. Mehr habe ich nicht zu sagen, denn Ihr habt ja alles gesagt.
27.02.2017 um 14:30 Uhr Christiane
Liebe Luise Pusch,
danke für diese genaue, unaufgeregte und faire Analyse des Textes von Sanyal/Albrecht! Ich glaube das ist momentan der Weg. Ich bin die gegenseitigen Zerfleischungen von Feministinnen, die ja eigentlich mehr oder weniger das gleiche Ziel haben, so müde. Es tut gut, dass du wirklich versucht hast herauszufinden was sie wollen und dich damit kritisch auseinander gesetzt hast. Danke dass du nicht , wie so viele Andere, auf bestimmte Reizwörter aufgesprungen bist, um die Autorinnen in eine Schublade zu sperren und jegliches Nachdenken zu verweigern.
Viele Grüße
Christiane
27.02.2017 um 09:35 Uhr Felix Sachs
Liebe Frau Pusch
Als ich heute morgen den Titel Ihrer neuen Glosse im Mail las, wollte ich das schon wegklicken: “Nicht mein Fall!” - ich fürchtete, da hätten wieder mal Männer versucht, Vergewaltigung zu verharmlosen. Dass Frauen hinter dieser Umbenennung stecken könnten, war für mich schlicht unvorstellbar. Dann habe ich doch noch schnell wenigstens kurz hineingucken wollen, um mich zu vergewissern, was wirklich dran war, und staunte. Ich halte diese Glosse für eine Ihrer besten: echt hilfreich, wie Opfer mit ihren Erlebnissen oder Krankheiten und allgemein Menschen mit ihrem Anderssein aktiv und befreiend umgehen können!
Ich habe mich einzig ein wenig am Begriff “Reclaiming” gestört: Der klingt für mich etwas befremdlich und erklärungsbedürftig und ich habe gesucht, was er ursprünglich alles für Bedeutungen haben kann. Die Wörterbücher (Oxford, Langenscheidt) haben nicht weitergeholfen; viel mehr als “zurückfordern” und “Gepäck abholen” war nicht zu finden. Dann bin ich im Duden-Fremdwörterbuch auf “Recodierung” gestossen. Zwar ist das ein Fachbegriff der Übersetzer: “nach der Analyse der Ausgangssprache (Decodierung) erfolgende Umsetzung in den Code der Zielsprache”. Vielleicht aber könnte er sich auch dafür eignen, einem allgemein als problematisch empfundenen Begriff durch den offensiven Gebrauch im eigenen Kontext eine emotional neue Note zu verleihen. Eigentlich handelt es sich hier etwa um den gleichen Vorgang, wie er beim NLP mit “Reframing” umschrieben wird. Diese Strategie scheint mir jedoch höchstens für die Betroffenen selbst eine Möglichkeit zu sein, mit ihrem “Erlebnis” befreiend umzugehen. Den allgemeinen Sprachgebrauch zu ändern dürfte eher problematische Ergebnisse bringen, ganz abgesehen davon, dass Sprachregelungen immer mehr als Eingriffe in die Freiheit empfunden werden.
Felix Sachs