Verbrechen oder Kriegshandlung?
Der 11. September und das Definitionsmonopol
Kaum hatte George W. Bush im fernen Florida, wo er gerade einen Besuch in einer Schulklasse machte, von den Anschlägen auf die Türme des World Trade Center und auf das Pentagon gehört, da wußte er nach eigenem Bekunden, daß Amerika sich im Krieg befand und mit geballter Kraft zurückschlagen müßte und würde. Nur – gegen wen?? Den Schuldigen hatte er auch schon bald im Visier, ohne eine nähere Untersuchung der Umstände: Osama Bin Laden und sein Al-Qaeda-Netzwerk. Und Osama wollte er in die Hände kriegen, "tot oder lebendig", wie einst im Wilden Westen. Beim nächsten Anschlag war die Bush-Administration sich nicht mehr so sicher. Die auf dem Postwege strategisch an die Machtzentralen von Politik und Medien verschickten Milzbrand-Erreger, die knapp drei Wochen nach dem 11. September eine neue Panik auslösten, wurden nicht sogleich Osama bin Laden zur Last gelegt. Zu peinlich war die Erinnerung an den Bombenanschlag in Oklahoma City, der sich, nachdem zuerst arabische Terroristen verdächtigt worden waren, als "hausgemacht" erwies. Die Terror-Anschläge der 90er Jahre lösten keinen "Krieg gegen den Terror" aus – die Nation lebte damals auch noch in vergleichsweise friedlich-vernünftigen Clinton-Zeiten, deren auffälligste Erregungen sexueller und börsenfiebriger Art waren. Der Anschlag auf die Twin Towers und das Pentagon forderte um 3000 Todesopfer, also etwa 17 mal so viele Opfer wie der "hausgemachte" Terror von Oklahoma City. Es wird vermutet, daß die Täter des 11. September von dem schrecklichen "Erfolg" ihres Anschlags selbst überrascht waren – mit anderen Worten, daß sie (wie übrigens auch die New Yorker Feuerwehr) nicht damit gerechnet hatten, daß die tragende Stahlkonstruktion der Türme schmelzen und alles unter sich begraben würde. Bushs Definition der Lage als "Krieg" hat sich sofort durchgesetzt, wahrscheinlich weil die Nation und die Welt unter Schock standen und er der mächtigste Mann der Welt an der Spitze der mächtigsten Nation der Welt ist. Denn natürlich haben Definitionen mit Macht zu tun. In der Regel hat der Stärkere (das Maskulinum ist beabsichtigt) das Definitionsmonopol. Deswegen gelten Frauen zum Beispiel als humorlos, weil wir die Witze, die Männer über uns machen, nicht komisch finden. Früher waren die Aufständischen in Tschetschenien für den Westen "Rebellen", wenn nicht gar "Freiheitskämpfer". Inzwischen wurden sie zu "Terroristen" degradiert, weil die Bush-Regierung Putins Beistand im Kampf gegen die Taliban brauchte und sich deshalb höflich seiner Definition anschloß. Putin und Bush haben jetzt ein gemeinsames Problem: Den Krieg gegen den Terror.
Aber befanden sich die USA wirklich in einem Krieg mit einem Gegner, der tückisch aus dem Hinterhalt operierte und das Territorium der USA ohne Kriegserklärung angegriffen hatte? Waren die Terroranschläge des 11. September nicht eher als als Verbrechen einzustufen? Die Antwort auf die Frage geht die Verbündeten der USA ganz direkt an. Haben wir es mit einem Verbrechen zu tun, kümmern sich die für Kapitalverbrechen zuständigen US-Behörden um den Fall, wie etwa geschehen beim ersten Anschlag auf das World Trade Center im Jahre 1993. Wurden hingegen die USA von einem Gegner kriegerisch angegriffen, sind die Nato-Verbündeten zur Hilfeleistung verpflichtet und befinden sich ebenfalls im Krieg. Während die islamische Welt, besonders Pakistan und Afghanistan, noch von einem Verbrechen ausgingen und Beweise forderten, bevor losgebombt würde, begann der "Krieg gegen den Terror" mit allen Konsequenzen, die eine Regierung, die sich im Krieg befindet, dem Volk abverlangen und von den Verbündeten erwarten kann. Justizminister Ashcroft schränkte sofort die Bürgerrechte ein; Verdächtige können jetzt ohne Verhandlung monatelang in Gewahrsam gehalten werden. Und verdächtig war so gut wie jeder arabisch aussehende Mann, verdächtig waren Menschen, die mit den Terrorpiloten Kontakt gehabt hatten, wie zufällig auch immer. Der Krieg in Afghanistan und die Sicherheitsmaßnahmen für die "Homeland Security" kosten Unsummen; für die Alters- und Gesundheitsversicherung der Bevölkerung bleibt wenig übrig. Bundeskanzler Schröder versicherte die Bush-Regierung der "uneingeschränkten" Solidarität Deutschlands – welche Zusicherung über die Köpfe der Betroffenen hinweg nicht nur die Regisseurin Helke Sander verfassungswidrig fand. Inzwischen ist Schröder von bedingungsloser Gefolgschaft auch wieder so weit wie möglich abgerückt und erklärt, für "militärische Abenteuer" (Bushs geplanter Angriff gegen den Irak) sei er nicht zu haben. Nach einem Jahr Krieg ist Osama Bin Laden noch immer nicht gefaßt, weder tot noch lebendig. Jetzt soll dafür Saddam Hussein dran glauben. Es wirkt fast wie eine Ersatzbefriedigung.
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Ich verbringe etwa die Hälfte des Jahres in den USA, und zwar in Boston, Massachusetts. Meine Amerikanisierung geht so weit, daß sich mir für den Notruf eher die – jetzt so unheimliche – Nummer 911 als die 110 eingeprägt hat, und ich hoffe, daß sich das nicht einmal fatal auswirkt. In Boston verkehre ich fast ausschließlich in feministischen Universitätskreisen (ja, sowas gibt es da). Keine meiner amerikanischen Freundinnen (die paar Freunde sind herzlich mitgemeint) hat George W. Bush und die Republikaner gewählt. Die meisten schütteln sich in ohnmächtigem Zorn, in Scham und Ekel, wenn sie in den Nachrichten hören, was sich die Bush-Administration – auch in ihrem Namen – alles leistet, von der peinlichen und gefährlichen Schwarzweißmalerei seit "9-11" über die Verstrickung in die Bilanzfälschungsskandale, die Mißachtung des Internationalen Strafgerichtshofs und des UN-Umweltgipfels bis hin zu dem Plan, den Irak ohne UN-Mandat anzugreifen, sozusagen als erste Etappe im Kampf gegen die "Achse des Bösen" Nordkorea, Iran und Irak. Mit Clintons Oral-Office-Geschichten hatten meine Freundinnen auch ihre Mühe, aber bei Bush hört für sie der Spaß auf. Einige politisch besonders Versierte finden ihn allerdings harmlos im Vergleich zu Cheney, den sie für die eigentliche Gefahr halten. Das amerikanische Volk hat ja seinen obersten Kriegsherrn Bush gar nicht gewählt. Bush hat Gore, der die Stimmenmehrheit (die sog. "popular vote") bekam, aufgrund eines in Europa kaum verständlichen Wahlsystems und unglaublicher Pannen mit veralteten Wahlmaschinen zwar um ein paar Stimmen überrundet, aber die ganze Geschichte riecht insgesamt weniger nach Pannen als vielmehr nach einem Schurkenstück. Ich konnte mich nie des Eindrucks erwehren, daß Bush an die Macht kam durch Betrug, Verrat und Intrigen – mit Hilfe des Bruders Jeb Bush, der in Florida an der Macht ist und viele Gore-Stimmen der schwarzen und der jüdischen Bevölkerung schon im Vorfeld auszuschalten verstand. Als das noch nicht reichte, half der von Vater Bush und Vorgänger Reagan schön rechtslastig besetzte oberste Gerichtshof und sprach ein Machtwort. Und Gore ließ die Nation, die ihn gewählt hatte, im Stich und riet ihr, sich dem Spruch des Obersten Gerichtshofes zu beugen, damit wieder Ruhe und Ordnung einkehre. Bush machte als Präsident keine gute Figur – bis zum 11. September. Seitdem hat er seine "Mission Impossible" gefunden, und die geschockte Nation versammelt sich fahnenschwingend hinter ihm, wie es halt so geht in Krisenzeiten. Von der Opposition hören wir hier wenig, aber es gibt sie. Wenn Sie sich über das "andere Amerika" - FeministInnen und PazifistInnen - informieren wollen, besuchen Sie folgende Seiten im Internet:
www.unitedforpeace.org (hier werden die alternativen Gedenkveranstaltungen zum 11. September koordiniert) [url=http://www.feminist.org]http://www.feminist.org[/url] – immer eine nützliche Adresse! [url=http://www.wellesley.edu/WomensReview/printpet.html]http://www.wellesley.edu/WomensReview/printpet.html[/url] (der Artikel von Rosalind P. Petchesky ist das Beste, was ich bisher zum Thema 11. September gelesen habe)
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In Deutschland kämpfen wir auch gerade gegen die Folgen einer nationalen Katastrophe, die Hochwasserkatastrophe. Beispiellos war und ist die Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude der Bevölkerung. "Der Feind" war sichtbar und die nächstliegende Aufgabe so einfach wie ermüdend: Sandsäcke füllen, schleppen, anhäufen und wieder abräumen. Der Kanzler und die Koalition, vorher auf dem absteigenden Ast, ergriffen die Chance und sind im Aufwärtstrend. Merke: Eine nationale Krise versammelt das verängstigte Volk hinter der Regierung. Es möchte unbedingt helfen – wo es keine Sandsäcke schleppen kann, läßt es sich leicht zu "patriotischen" Taten aller Art verführen, vom Fahnenschwingen bis zum Bombenwerfen. Bush hat seine Chance klar erkannt. Nach seiner Definition befinden sich die USA in einem Krieg wie es noch keinen gab und dessen Ende nicht abzusehen ist. Bush hat von seinem Vater gelernt. Der führte einen relativ kurzen Krieg in Absprache mit seinen Verbündeten, siegte und verlor die nächste Wahl. Bush junior wird sich dies Schicksal ersparen wollen.
© 2002 Luise F. Pusch
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