Über “Meinungsfreiheit”, “free speech” und “liberté d’expression”
Nach den islamistischen Mordattacken in Paris treten Menschen und Medien weltweit für „liberté d’expression“, „freedom of expression“ / „free speech“ und „Meinungsfreiheit“ ein.
In Boston höre und lese ich pausenlos von „freedom of expression“ und „free speech“. Wie kommt es, frage ich mich, dass nur die Deutschen von „Meinungsfreiheit“ reden, wo alle anderen die freie Äußerung/Expression, den freien Ausdruck (der Meinung), die freie Rede betonen.
Hat es vielleicht mit deutscher Obrigkeitshörigkeit und deutschem Duckmäusertum zu tun? Eine bestimmte, auch abweichende Meinung zu haben, ist schließlich kein Problem. Erst wenn wir abweichende Meinungen äußern, kann es brenzlig werden.
Meinungsfreiheit - geschenkt. Wir alle können die geächtetsten oder gesellschaftschädlichsten Meinungen hegen, so lange wir sie nicht ausagieren, ist alles in Ordnung. Da gehen also die Deutschen massenhaft auf die Straße für ein Recht, das eigentlich keines ist? Das Recht, eine eigene Meinung zu haben, ist wie das Recht, zu atmen. Es muss nicht im Grundgesetz verankert werden, denn die eigene Meinung als solche ist privat und nicht kontrollierbar. Erst wenn sie geäußert wird, kann es u.U. Ärger geben. Die Meinung, dass Hitler ein Verbrecher war, hatten zu seinen Lebzeiten viele Deutsche. Aber nur diejenigen, die diese Meinung äußerten, kamen in Lebensgefahr.
Schauen wir uns das Gesetz über unsere „Meinungsfreiheit“ mal genauer an: Artikel 5 (1) unseres Grundgesetzes lautet:
Jeder [sic] hat das Recht, seine [sic] Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Wir sehen, Artikel 5,1 des Grundgesetzes behandelt das "Recht auf freie Meinungsäußerung". Anders ausgedrückt, das "Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit", abgekürzt zu "Recht auf Meinungsfreiheit".
„Meinungsäußerungsfreiheit“ ist eines dieser langen zusammengesetzten Wörter des Deutschen, die Anderssprachige in der Regel unaussprechbar, unlesbar und unmöglich finden. Deswegen, um diesen KritikerInnen und uns selbst einen Gefallen zu tun, haben wir es gekürzt zu „Meinungsfreiheit“. Die Sprachwissenschaft spricht hier von „Ellipse“.
Warum haben wir es nicht zu „Äußerungsfreiheit“ oder „Ausdrucksfreiheit“ gekürzt, wie das Englische und Französische? In diesen Sprachen fehlt ja auch ein Teil, nur ein anderer als im Deutschen. Es fehlt dort die Bezeichnung dessen, was frei geäußert werden darf: freedom of expression [of opinion], liberté d’expression [de l'opinion]. Auch ziemlich lange Ausdrücke, und auch sie wurden gekürzt, halt nur anders.
Es scheint zunächst, dass das Deutsche auf den wichtigeren Teil verzichtet hat. Nicht das Haben einer Meinung ist gefährlich, sondern das Äußern kann gefährlich werden. Und deshalb muss das Recht darauf vom Staat gewährleistet werden.
Andererseits scheint mir die deutsche Lösung präziser, wenn ich z.B. an Edward Snowden denke. Hätte er nur eine Meinung geäußert, wäre ja alles in Butter gewesen. Wen - außer fundamentalistische AnhängerInnen patriarchaler Religionen wie Christentum, Islam oder Judentum - kratzt schon eine bloße Meinung? Ein dickes Fell angesichts der abstoßendsten Meinungen über uns mussten besonders wir Frauen uns zulegen. Aber was Snowden öffentlich gemacht hat, waren Staatsgeheimnisse, also Tatsachen, die sein Staat lieber geheimhalten wollte. Und schon war Schluss mit „freedom of expression“ oder „free speech“. Es dürfen eben nur Meinungen frei geäußert werden. Und das teilt nur der deutsche Ausdruck mit, während das Englische und Französische hier nicht nur elliptisch, sondern irreführend sind. •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
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4 Kommentare
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12.01.2015 um 23:00 Uhr anne
ja, Lena Vandrey, für die mio unterdrückten weibl. menschen , gefangen in armut, prostitution, frauenhandel, rechtlosigkeit, gegen die genitalverstümmelung an kindern, gegen den feminizid , gegen die männergewalt, vergewaltigungen an frauen (sogar auf der flucht, in flüchtlingscamps) gehen keine mio menschen auf die straße.
dieser pariser `marsch` der aufrechten aus der politik, die sich in der ersten reihe formierten, auch welche mitschuld trägt die politik , steht dagegen außer frage…
der zeichner und karikaturist Georges Wolinski , der für Charlie-Hebdo arbeitete, wurde von seiner frau , der feministischen schriftstellerin Maryse Wolinski, öffentlich der frauenfeindlichkeit bezichtigt. http://www.arte.tv/guide/de/043608-000/vorsicht-nicht-jugendfrei-der-zeichner-wolinski
„Nous sommes tous Charlie-Hebdo“ wird unisono und weltweit den anarchistischen Journalisten und Satirikern ins Grab hinterhergerufen. Als sie noch lebten, wäre dieses im Chor gesungene Credo undenkbar gewesen, schreibt z.b. der autor R. Gutsche/derFreitag “wir sind Charlie-Hebdo - sind wir wirklich Charlie? ” v. 8.1.2015 .
12.01.2015 um 16:06 Uhr Lena Vandrey
La liberté d’expression, la liberté d’opinion, la liberté de pensée, und la liberté sowieso.
In Frankreich wird damit wortwörtlich nicht gegeizt, obwohl sich Freiheit und Gleichheit ausschließen und es mit der fraternité (Brüderschaft) nicht weit her ist, und obwohl es mit der sororité (Sisterhood) nicht geklappt hat.
Gestern waren drei Millionen von Leuten der gleichen Meinung (opinion) und benutzten die Ausdrucksfreiheit, jede(r) auf ihre(seine) Art. Der Anlass war doch sehr traurig, aber die Demonstranten schienen sich dieser Ausdrucks- Möglichkeit wegen recht wohl zu fühlen.
Reden wir von den Abwesenden: KEINE Feministinnen zu erblicken! War ihnen Charlie-Hebdo zu obszön, zynisch, frauenfeindlich? Ist die feministische Prominenz zu betagt? Oder schien ihnen die Losung “Je suis Charlie” zu absurd? Über diese Meinungs-Enthaltung können wir nur spekulieren. Ebenfalls fehlten Vertreter des niederen Klerus, der höhere ging dann in eine Synagoge. Der Anlass waren die jüdischen Opfer, nicht die Charlies. Ausgeschlossen wurde Partei-Chefin Marine Le Pen, was einmal wieder zeigt, wie wenig ernst die Sozialisten es mit der Demokratie meinen. MLP wurde die Meinungsfreiheit für diesen Marsch versagt. Ein Linksradikaler, welcher geschrieben hatte “Maul zu, Merkel!” wurde in nichts belangt. Viele junge Mädchen und viele Kinder waren dabei, eine Vierjährige ließ wissen, dass sie für die liberté d’expression kämpfte, Babies hatten Schilder in ihrem Kinderwagen und waren stolz auf ihre erste Demo. Die Tochter des Zeichners Wolinski meldete, dass wir nicht MLPs Partei wählen sollen. Das klang so, als ob MLP ihren Vater ermordet hätte.
Der Weg von einem Gehirn zum anderen ist lang und dornig, aber für die Verkennung der Tatsachen ist er kurz und bündig. Die Meinungsfreiheit ist in Frankreich la liberté d’opinion, welche VOR der liberté d’expression kommt, die Meinung ist der Anfang, der Ausdruck das Weitergehen.
Der Mensch in der Masse ist ein Stecknadel-Kopf, eine Kaviar-Perle oder eine Ameise.
Als Feministin kann ich “Je suis Charlie” nicht mehr sehen, es wird mir schwindlig. Und ein Schwindel ist ja doch dabei, die meisten Leute haben gar keine Meinung, sie werden am Strick geführt wie die Kälber.
Für die zweihundert nigerianischen Mädchen geht niemand auf die Straße…Das ist MEINE Meinung!
12.01.2015 um 09:56 Uhr Ulla Meyer
Für mich ist die Antwort auf die Frage sehr naheliegend: zum unveräußerlichen Bildungskanon in der Schule gehörte (und gehört vermutlich immer noch) das Lied “Die Gedanken sind frei”. Es zu kennen und zu singen fühlte sich für viele Menschen in vielen Situationen schon wagemutig an. Aber die Zeilen: “doch alles in der Still, und wie es sich schicket” haben wir eben auch internalisiert.
Ulla
11.01.2015 um 23:38 Uhr Amy
Im Londoner Hyde Park gibt es seit über 100 Jahren den legendären Versammlungsplatz (Speakers Corner), wo jede/r Ungewöhnliches sprechen darf. Vom 12. bis 18. Jahrhundert jedoch wurden dort Menschen öffentlich exekutiert. Ein letztes Mal konnten sich die zum Tode Verurteilten an die Menge wenden, bevor der Henker öffentlich zur Tat schritt. Ob Marx, Lenin oder Orwell , in den 80er Jahren zitierte der linke Labour-Abgeordnete Tony Benn aus “Spycatcher”, dem verbotenen Buch eines Ex-Geheimdienstagenten.
Zitat: “Ein Ort der `Meinungsfreiheit`, den sich im 19. Jh. die `Arbeiterbewegung` erkämpft hat, heute größtenteils unbekannte Anarchisten, Sozialisten, Atheisten, Pazifisten, religiöse PredigER und VegetariER”.
Ob auch Frauen zugelassen waren?
http://www.swr.de/swr2/kultur-info/neu-gestaltet-speakers-corner-london/-/id=9597116/nid=9597116/did=13736508/ccvs6o/index.html