Über den Film „BeFreier und Befreite“ (1992) von Helke Sander
Vorbemerkung: Gestern hatte ich die Ehre, in den Film „BeFreier und Befreite“ von Helke Sander einzuführen anlässlich der Abschlussvorstellung der Sander-Werkschau Februar-März 2017 im Bundesplatzkino Berlin.
Aus dem Publikum kam anschließend die Bitte, ich möge den Text online stellen, damit sie ihn noch einmal nachlesen und leichter verbreiten könnten. Dieser Bitte komme ich gerne nach, ja ich hatte sowieso vor, den Text im Netz zu veröffentlichen. Der Film und das Begleitbuch sind zwar sehr berühmt, aber noch längst nicht so bekannt, wie sie es verdient hätten.
Helke Sander ist eine Pionierin. Mit ihrer Rede vor den SDS-Männern begann 1968 die Frauenbewegung in Deutschland. 1973 organisierte sie zusammen mit der Regisseurin Claudia von Alemann das erste europäische Frauenfilmfestival in Berlin. 1974 gründete sie Frauen und Film, die “einzige europäische feministische Filmzeitschrift” und m.W auch die erste feministische Zeitschrift der Zweiten Frauenbewegung in Deutschland. Und mit ihrem Film „BeFreier und Befreite“ machte sie als erste ein Thema öffentlich, um das sich unbegreiflicherweise fast 50 Jahre niemand gekümmert hatte: Die Massenvergewaltigungen am Ende des 2. Weltkriegs. Nach dem Erscheinen des Films gab es dann international eine Flut von Dissertationen und Forschungsarbeiten über das Thema, das Helke Sander jahrzehntelang einsam beschäftigt hatte, und über ihren Film.
Der Film und das gleichnamige Buch dazu erschienen im Frühjahr 1992. Ich habe das Buch gelesen und mir den Film angesehen und war davon sehr mitgenommen und tief beeindruckt. Im Herbst desselben Jahres nahm ich in Massachusetts an einer Tagung der Women in German teil, wie sich die Berufsvereinigung der US-Germanistinnen nennt. Sie hatten schon immer ein Rieseninteresse am deutschen Film, besonders an Filmen von Frauen. Nun brach die Diskussion über Helkes Film los. Eine wortgewaltige Fraktion linker und/oder jüdischer Feministinnen verleumdete den Film als revisionistisch. Verkürzt gesagt: Die Russen würden schlimmster Verbrechen angeklagt, um von den Verbrechen der Deutschen abzulenken.
Ich war schockiert. Meine Freundinnen von den Women in German fielen über meine Freundin Helke her. Anscheinend hatten die Amerikanerinnen einen anderen Film gesehen als ich - oder hatten sie den Film GAR nicht gesehen und waren nur entrüstet über das, was sie darüber gehört hatten?
Ich stand auf und erklärte, es müsste doch wohl unter Feministinnen noch möglich sein, die so lange beschwiegenen Massenvergewaltigungen an Frauen nach dem 2. Weltkrieg zum Thema zu machen, ohne deshalb als revisionistisch beschimpft zu werden. Es ginge doch in dem Film gar nicht um links oder rechts, sondern um Verbrechen von Männern gegen Frauen, um das Geschlechterverhältnis bzw. die Geschlechterhierarchie. Ich stieß weitgehend auf Kälte und Ablehnung, nur der Filmtheoretiker Rick McCormick stand mir bei und verteidigte Helkes Film leidenschaftlich und kenntnisreich. Später erfuhr ich von Helke, dass die Debatte in Deutschland ähnlich verlief.
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Der Film ist 3 1/4 Stunden lang und behandelt so viele Fakten und komplexe Probleme von so vielen Seiten, dass er hier eine ausführliche Würdigung verdient hätte. Aber ich werde mich kurz fassen und Ihre Kräfte für den Film schonen.
Das Begleitbuch des Films enthält den gesamten Text, das Drehbuch sozusagen und vieles darüber hinaus. Eine Einleitung von Helke Sander „Erinnern/Vergessen“ sowie Artikel der Historikerinnen Barbara Johr (auch Mitherausgeberin des Buchs) und Ingrid Schmidt-Harzbach, die sich umbrachte noch bevor der Film in die Kinos kam. Sehr wichtig ist Johrs Abhandlung über die genaue Anzahl der Vergewaltigungen, über die es bis dahin nur vage Vermutungen gab. "Es waren sehr viele", hieß es immer nur. Sander und Johr fanden mit Hilfe des angesehenen Statistikers und Experten für Bevölkerungsverluste Dr. Gerhard Reichling heraus, dass es auf russischer Seite insgesamt 2 Millionen waren. In den deutschen Ostgebieten 1,4 Millionen, 500.000 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und 110.000 in Groß-Berlin. Hinzu kommen die geringeren, aber auch erheblichen Vergewaltigungszahlen durch Franzosen und Amerikaner (weniger durch Briten).
Das Drehbuch enthält vor allem auch die Namen der beteiligten Frauen und Männer, der ZeitzeugInnen aus Russland und Deutschland. Es hilft sehr bei der Orientierung in diesem weitläufigen Film.
Ich habe den Film jetzt viermal gesehen. Viele von Ihnen werden ihn heute zum ersten Mal sehen. Ich will Ihren Eindrücken nicht vorgreifen - Sie werden sich ihr eigenes Bild machen. Aber ich möchte Sie auf einige Dinge aufmerksam machen, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind.
• Eine vergewaltigte Frau erzählt, sie habe mit ihrer Ermordung rechnen müssen: erst vergewaltigt, dann erschossen. Insofern war sie möglicherweise dem Vergewaltiger auch noch dankbar, jedenfalls war sie dankbar, dass sie danach noch lebte.
• Ingrid Schmidt-Harzbach wies darauf hin, dass Soldaten und Kriegsversehrte ihre Renten und Entschädigungen bekamen. Bei den Vergewaltigten war davon keine Rede. Auch pflegten die Männer ihre Kriegserinnerungen, erzählten sich ihre Kriegserlebnisse, konnten das Schreckliche durch den Austausch verarbeiten, sich vielleicht sogar damit brüsten. Jene selige Zeit der Kriegskameradschaft! Bei Frauen herrschte Schweigen. Auch die Angehörigen schwiegen darüber. Um es ungeschehen zu machen, unter den Teppich zu kehren.
• Einer vergewaltigten Frau kommt im Laufe ihres Erzählens die Erleuchtung: „Ich war beschädigt. Kriegsbeschädigt!“ Und eigentlich hätte sie entsprechend eine Entschädigung bekommen müssen wie alle Kriegsbeschädigten, scheint ihr in diesem Moment aufzugehen.
Frau Hoffmann erzählt, dass Frauen, die durch die Vergewaltigung ein Kind bekamen (nicht alle konnten oder wollten abtreiben), einen gesetzlichen Versorgungsanspruch für das Kind hatten. Nur erzählte ihnen das niemand. Und selbst wenn sie es irgendwie erfahren hatten, meldeten doch nur wenige ihre Ansprüche an, denn sie wollten das Geschehene durch Beschweigen und Vergessen lieber ungeschehen machen.
Frau Dr. Lutz erklärt sich die unmenschliche Einstellung vieler Männer, die ihren vergewaltigten Frauen nicht beistanden, sondern sie für das Erlittene verachteten oder bestraften, folgendermaßen: „Das Gefäß Ihres (!!) Kindes war nicht mehr tauglich.“
• Irgendwo stieß ich auf die Vermutung, dass Frauen damals in der Ehe sowieso quasi routinemäßig vergewaltigt wurden, der Mann hatte ja seine ehelichen Rechte und die Frau hatte ihre Pflichten. Da war die Vergewaltigung durch einen fremden Soldaten gar nicht soo viel anders. Wohl aber für junge Mädchen, die noch „Jungfrau“ waren. Aus dieser Überlegung heraus wohl erreichte eine Mutter es, dass nicht ihre 15jährige Tochter vergewaltigt wurde, sondern sie dafür zweimal, das zweite Mal an Stelle ihrer Tochter. Erinnert irgendwie an Jesus.
Ähnlich: Frau Ludwig bedauert die ganz jungen Mädchen, Vierzehnjährige, die gar nicht begriffen, wie ihnen da geschah. Sie habe sogar noch gedacht „Mein Gott, ein Glück, dass es mich getroffen hat, ich weiß wenigstens wie es geht“.
Ja, wie geht es denn? Darauf hat Frau H., die von Helke zwischen Bechstein-Flügeln befragt wird, eine erschütternde Antwort, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht:
„Allgemein könnte ich mir vorstellen, dass Mädchen, die das erstmalig so erleben, sehr hohe Anforderungen an jeglichen Partner stellen in Bezug auf Behutsamkeit und zwecklose Zärtlichkeit und solche Dinge.“
Auf Helkes Frage, was sie damit meine, fährt sie fort: „Na ja, ich meine, dass es nicht gleich im Bett enden soll, sondern dass sich das deutlich absetzen soll von dem, was da war. Und da die Sache selbst ja so unendlich sich nicht davon absetzt, werden manche Beziehungen drunter gelitten haben. Dass man von den jungen Männern zu viel verlangte. Weil man ja dachte, na ja, es soll erst mal ganz anders sein. Nur schön und nur zärtlich und nur mitmenschlich. Zunächst mal - Sex erst zum Schluss.“
Frau H. denkt schon sehr frauenzentriert, aber noch nicht genug. „Man verlangte von den jungen Männern zu viel“ - du liebe Güte! Nur einfach zärtlich sein, ohne Hintergedanken, wie die Frau ins Bett zu kriegen sei - das scheint von einem jungen Mann zu viel verlangt. Sogar wenn die Frau vergewaltigt wurde! Wie sagt Frau H. so klar: „Die Sache selbst (der Geschlechtsverkehr) setzt sich ja nicht so unendlich davon ab“ - von der Vergewaltigung nämlich.
Eine Freundin erzählte mir, sie sehne sich nach dieser „zwecklosen“ Zärtlichkeit - Zärtlichkeit um der Zärtlichkeit willen, wie l'art pour l'art. Ihr Mann sei dazu aber nicht imstande. Für ihn dienen Zärtlichkeiten nur dem einen Ziel, den Geschlechtsakt vorzubereiten. Deshalb verzichtet sie nun schon lange auch auf seine Zärtlichkeiten, sie sind ihr zuwider.
Dazu fällt mir der kluge Rat von Margaret Mead ein: In der Jugend sollten Frauen besser mit Frauen verkehren. Im gebärfähigen Alter, wenn sie Kinder haben wollen, mit Männern. Danach, und besonders im Alter, wieder mit Frauen. Genau so hat sie es auch gehalten.
• Nicht zuletzt ist der Film auch ein Denkmal für viele Frauen, die wahrscheinlich inzwischen verstorben sind. Sagen wir mal, sie waren am Ende des Krieges 20 - viele waren ja älter. Dann waren sie zur Zeit der Filmaufnahmen 65. Heute sind sie 90 wie die Schriftstellerin Inge Deutschkron, oder sie wären 90 wie Hilde Knef. Hier konnten sie sich endlich einmal aussprechen, ihr Zeugnis und Urteil, ihre Kompetenz waren gefragt, wurden aufgezeichnet und aufbewahrt und gehen nicht verloren. Weil eine andere Frau, die Regisseurin und Feministin Helke Sander, sich darum kümmerte.
Berlin, 19. März 2017 - 25 Jahre nach der Erstaufführung des Films.
Luise F. Pusch
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Fast das gesamte filmische Werk von Helke Sander gibt es jetzt auf 6 DVDs für insgesamt 50 EUR.
2 Kommentare
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21.03.2017 um 16:22 Uhr Amy
Danke an Helke Sander und Luise F. Pusch! Wenn es um diese grausame Kriegspraktik geht, kann frau sagen, dass das Verbrechen für die Vergewaltiger zum Erlebnis wurde und wird. Dahinter steckt sowohl eine tiefe Abneigung und der Hass auf Frauen. Misogynie ist die älteste Diskriminierung der Welt, schreibt Jack Holland in seinem Buch `Misogynie`; Witwenverbrennungen , Tötungen weiblicher Neugeborener in Indien, Klitorisbeschneidung in Nordafrika, Massenvergewaltigung von Frauen in Kriegsgebieten; das sind keine Monstrositäten vergangener Tage , sondern traurige Gegenwartsrealität. Ich bin entsetzt zu lesen, dass dieser Film 1992 als revisionistisch verleumdet und somit die Grausamkeiten an Frauen und Mädchen nicht ernstgenommen wurden, ausgerechnet von Frauen, für die doch geschlechtsspezifische Gewalt zum Thema gehörte? Das wäre ja in etwa so, als wenn der Holocaust verleugnet würde? Ein deutscher Soldat vergewaltigt nicht, so war früher der Tenor der Rechtsnationalisten; dass amerikanische, französische (Marokkaner), russische Soldaten vergewaltigten, war auch kein Thema für die Befreier , sondern wurde einfach unter den Tisch gekehrt. Die deutschen Soldaten haben in Frankreich , in Russland und in Polen gewütet und sich nicht anders verhalten ; schrecklich auch die Zustände der vielen Wehrmachtsbordelle, wo viele Frauen (auch Jüdinnen) zur Prostitution gezwungen wurden ; mit ein Verbrechen an weiblichen Menschen. Die Vergewaltiger standen Schlange vor den Türen , während die Frauen Schlange standen vor den Arztpraxen! Oft lese ich, dass die hohe Schätz-Zahl der Vergewaltigungen von russischen Soldaten angezweifelt wurde; wieder der Versuch der Verharmlosung. Was spielt es für eine Rolle, ob Hunderttausende oder Mio weibl. Opfer von dem Kriegsgräuel betroffen waren und sind. Dieses KriegsVerbrechen hat vielerlei Facetten, ob im Ehebett, in der Öffentlichkeit , der Prostitution, Pornografie. Gab es nicht sogar mal die sonderbare Vermutung, Frauen hätten Spaß an einer Vergewaltigung; Männer müssten nur mehr Druck ausüben, dann klappt das auch mit dem Geschlechtsverkehr bzw. damit kriegt mann frau ins Bett, so war früher die Anleitung für junge Männer in einem Aufklärungsbuch . Ich frage mich , ob diese KriegsVerbrecher nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer evtl. ein Gewissen plagte? NIcht jede vergewaltigte Frau überlebte das Martyrium, Hunderttausende wurden von ihren Peinigern ermordet . Nicht nur in der Bundesrepublik sondern auch in der DDR unter Ulbricht wurde das Thema tabuisiert. Ich habe mir vor vielen Jahren die Edition von Helke Sander zugelegt und mich bis jetzt nicht daran getraut, weil mich die Geschehnisse zu sehr aufwühlen. Aber es ist so wichtig , das Thema nicht in Vergessenheit zu bringen, denn die geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen und Mädchen findet auch heute massenhaft statt und hat inzwischen einen Namen Feminizid . Seit Jahren kämpfen die sog. Trostfrauen (Opfer der Militärbordelle ) für eine Entschädigung, Entschuldigung. Heldengedenktafeln und Heldendenkmäler für all die Kriegsbegeisterten der Geschichte gibt es zuhauf; aber für die weiblichen Betroffenen, die zur moralischen Ertüchtigung der Soldaten hundertfach vergewaltigt wurden, bleibt nicht einmal eine Stele übrig, weil automatisch mit der Überlegung der Vorwurf der Instrumentalisierung im Raum schwebt. http://www.taz.de/!5138175/
21.03.2017 um 13:03 Uhr Lena Vandrey
Wären die Vergewaltigungsopfer der Roten Armee keine Deutschen und keine Österreicherinnen gewesen, hätte die Sache dann anders ausgesehen ? So aber galt das Kapitalverbrechen als ein ganz normales Kriegsgeschehen. Das waren ja alles Nazis und Nazibrut und es geschah ihnen recht. Keine Reaktion und Reflexion nirgends vor Helke Sander, von Adenauer bis Thomas Mann, in dessen Tagebüchern nichts dergleichen erwähnt wird.
Wie wir erfahren haben, werden in Deutschland Mädchen und Frauen massiv vergewaltigt. Wiederum sehe ich, dass es keine politische Reaktion auf dieses Verbrechen gibt. Das ist das potentielle Schicksal jedes weiblichen Menschen. Wir hoffen auf eine Helke Sander heute, aber das ist leider Utopie ...