„Sexualisierte“ oder „sexuelle Gewalt“?
Ich weiß schon gar nicht mehr, wann mir andere Feministinnen beibrachten, den Ausdruck „sexuelle Gewalt“ nicht mehr zu benutzen. Er sei irreführend, denn die sog. sexuelle Gewalt hätte in der Regel mit Sexualität wenig bis gar nichts zu tun. Es handle sich vielmehr um Gewalt, die sich der Sexualität nur als Mittel bediene. Das eigentliche Ziel der sexualisierten Gewalt sei die Herstellung oder Aufrechterhaltung männlicher Macht und weiblicher Ohnmacht.
Ich widme diese Glosse Susan Brownmiller zu ihrem 80. Geburtstag am 15. Februar. Sie hat das feministische Denken über Vergewaltigung mit ihrem Standardwerk „Against Our Will“ [Gegen unseren Willen] von 1975 geprägt wie keine andere. 5 Jahre lang studierte sie in den Archiven, vor allem Berichte über „atrocities“ (Gräueltaten) in Zeiten des Kriegs, der Sklaverei und der Unterwerfung fremder Völker. In der Regel handelte es sich bei den „Gräueltaten“ um Vergewaltigungen. Vergewaltigung wurde systematisch eingesetzt, um die Gegenseite, nicht zuletzt die männliche, zu demütigen, zu demoralisieren und gefügig zu machen. Diese Erkenntnis führte dann zu der neuen feministischen Sprachregelung. Brownmiller erkannte aber noch etwas anderes: „Rape is a conscious process of intimidation by which all men keep all women in a state of fear.“ (Vergewaltigung ist ein bewusster Prozess der Einschüchterung, mit dem alle Männer alle Frauen in einem Zustand der Angst halten.) Vollzug ist oft gar nicht nötig, es genügt die Androhung sexueller Gewalt.
Hätte ich im letzten Satz auch sagen können: „Es genügt die Androhung sexualisierter Gewalt“? Nein. Womit gedroht werden muss, wenn das Ziel erreicht werden soll, ist sexuelle Gewalt. Ohne Wenn und Aber.
Brauchen wir demnach beide Ausdrücke?
Bewusste Feministinnen wie die Frauen von Terre des Femmes reden von „sexualisierter Gewalt“, das unaufgeklärte Volk kümmert sich nicht um feministische Begrifflichkeit; es kennt nur „sexuelle Gewalt“:
Die blaue Linie zeigt die Häufigkeit von "sexuelle Gewalt", die rote die Häufigkeit von "sexualisierte Gewalt" im Google NGram Viewer. Sie können dem NGram Viewer hier ihre eigenen Fragen stellen.
Es gibt aber auch Feministinnen, die sich dem volkstümlichen Sprachgebrauch bewusst oder auch weniger bewusst anschließen: Das feministische Online-Magazin querelles.net bspw. spricht hier nur von sexueller Gewalt.
Bewusst problematisiert Rolf Löchel, wohl der beste Kenner feministischer Literatur in deutscher Sprache, den herrschenden feministischen Sprachgebrauch:
[Über den Ausdruck „Sexualisierte Gewalt“: Eine] Sprachregelung, die zwar in einigen feministischen Kreisen bevorzugt wird, jedoch zumeist irreführend und verharmlosend ist, da das sexuelle Moment dieser Form von Gewalt … in aller Regel wesentlich ist. Und zwar sowohl auf Seiten des Vergewaltigers wie auf derjenigen der Vergewaltigten. Denn die Angriffsziele des sexuellen Gewaltaktes einer Vergewaltigung sind die Sexualität der Frau, ihre Libido und ihre sexuelle Identität. Letzteres wird bei den berüchtigten ‚korrigierenden Vergewaltigungen‘ von Lesben etwa in Südafrika besonders deutlich. Denn die lesbischen Frauen sollen durch die Vergewaltigung wieder ‚auf den rechten Weg der Heterosexualität gebracht’ werden. Auch die Absicht von Vergewaltigern, sich ihre Befriedigung gewaltsam zu erzwingen, ist genuin sexuell. Dass einige der Täter ihre sexuelle Befriedigung erlangen, indem sie die Frau durch die Vergewaltigung und während der Vergewaltigung erniedrigen, demütigen und Macht über sie ausüben (ein Argument, das auch von Wizorek angeführt wird, um zu begründen, dass es sich hierbei eben nicht um sexuelle, sondern um sexualisierte Gewalt handelt) mag durchaus sein, steht dem Fakt, dass es dabei zentral um Sexualität geht und es sich somit um sexuelle Gewalt handelt, aber keineswegs entgegen. Quelle: hier.
Und nun? Was sollen wir sagen?
Vielleicht können ein paar linguistische Überlegungen weiterhelfen.
Die Endung „-isieren“ macht aus einem Adjektiv ein kausatives Verb, das einen Vorgang beschreibt, der den Zustand herbeiführt, den das Adjektiv bezeichnet. Dazu ein paar Beispiele:
trivialisieren = trivial machen
banalisieren = banal machen
homogenisieren = homogen machen
privatisieren = privat machen
digitalisieren = digital machen
sexualisieren = sexuell machen
„Sexualisierte Gewalt“ bedeutet also, wenn wir das Wort so verstehen wie andere Wörter auf „-isieren“: sexuell gemachte Gewalt. Und sexuell gemachte Gewalt ist dasselbe wie sexuelle Gewalt - oder? „Sexualisierte Gewalt“ bedeutet lediglich, dass die Gewalt zunächst nicht sexuell war, durch „Sexualisierung“ aber schließlich doch sexuell wurde. Denn etwas, was bereits sexuell ist, kann nicht sexualisiert werden, genau wie homogenisierte Milch nicht mehr homogenisiert werden kann.
Die wichtige Erkenntnis Brownmillers und anderer feministischer Gewaltforscherinnen, dass sexuelle Gewalt dem Mann nicht nur zum Lustgewinn dient, vielleicht nicht einmal vordringlich der sexuellen Lust, sondern der Unterwerfung und Demütigung - wird also in dem doch recht streng vorgeschriebenen Ausdruck „sexualisierte Gewalt“ nicht besonders klar zum Ausdruck gebracht. Besser wäre es m.E., von Sexualterror zu sprechen. Terror wird ausgeübt, um die Gegenseite in einem Zustand der Angst zu halten. Klingt das nicht fast genau so wie die oben zitierte Haupterkenntnis von Susan Brownmiller: "Vergewaltigung ist ein Mittel, mit dem alle Männer alle Frauen in einem Zustand der Angst halten"?
Von „Sexualterror“ zu sprechen statt von „sexualisierter Gewalt“ hätte noch einen weiteren Vorteil: Beim Kampf gegen den Terror stehen die Täter, ihre Festnahme und Verfolgung im Zentrum der Debatte, außerdem umfassende Verfolgungs- und Vergeltungsmaßnahmen gegen sie. Nicht so beim alltäglichen Terror des Mannes gegen die Frau (bekannt unter den irreführenden Bezeichnungen „häusliche Gewalt“, „sexueller Missbrauch“ und „sexuelle Gewalt“), bei dem die Medien sich lieber auf die Opfer konzentrieren.
Es wird Zeit, den sexuellen Terror beim Namen zu nennen und die Sexualterroristen unerschrocken ins Visier zu nehmen.
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13 Kommentare
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26.01.2015 um 16:04 Uhr Lena Vandrey
Vor vierzig Jahren saß ich in einer Sendung des Französischen Fernsehens mit dem Titel: Frauen erzählen ihre Sexualität. Kate Millett war dabei und machte als Einzige den Versuch, über ihr sexuelles Leben zu reden. Sie bezeichnete sich als “Dyke”, was mit “homosexuell” übersetzt wurde. Ansonsten gab es nur zwei Themen: Vergewaltigung und Abtreibung. Aus Solidarität hoben alle Frauen die Hand auf die Frage, ob. Da ich nie mit Männern zu tun hatte, konnte ich ungut abgetrieben haben, hob die Hand aber trotzdem. Am nächsten Tag lachten die Schwulen sich krumm darüber. So ein Jux!
Mit der Frage wegen Vergewaltigung fühlte ich mich verpflichtet: Ich hatte zwei Versuche heil überstanden, einmal wegen der körperlichen Kraft, ein anderes Mal wegen der geistigen. Nun bleibt die Kardinal-Frage offen: Gehören denn Vergewaltigung und Abtreibung zur weiblichen Sexualität und nicht eher zur männlichen? Reden Männer über ihre eigene Sexualität und erwähnen Vergewaltigung und Zwangsschwängerung? Wohl kaum! Und Gruppenvergewaltigung und Zwangs-Prostitution, wie steht es damit? Um wessen Sexualität geht es da? Diese zwei Hauptverbrechen sind das Fundament des Patriarchats, Frauen stammen alle mehr oder minder von Vergewaltigern ab im Laufe der Jahrhunderte. Der Männer-(Un)-Mensch hat das Werkzeug und der Frauen-Mensch hat leider die dementsprechende Öffnung.
Mein Thema heiBt: LESBEN. Von dieser, der wirklich weiblichen Sexualität, ist aber nirgends die Rede. Ich las dieser Tage wieder Knut Hamsun mit seinen wunderbaren Frauen-Gestalten. Fazit: Zwischen Frauen und Männern geht NICHTS! Und das ist 100 Jahre her. Eine junge Hirtin lockt einen Vergewaltiger ins Moor, wo er ertrinkt. Erst danach ruft sie um Hilfe. Ab dann gilt sie als Hexe! Wehrhafte Frauen können nur Hexen sein oder Lesben. Aber alle leben wir den Terror.
Je mehr du weißt, desto mehr hast du Angst, sagte Alice Schwarzer vor 150 Jahren…
Wir können die Welt nicht mehr verändern, sagte Lfp 1991… Und dennoch tut sie es, jedenfalls sprachlich. Ein Scherflein Wahrheit hin und wieder - so weh das ja tut!
26.01.2015 um 09:44 Uhr Roland Giersig
Ich finde die Unterscheidung der verschiedenen Begriffe wichtig. Der sprachlichen Analyse stimme ich zu, “sexualisierte Gewalt” würde ich als Gewaltsituation definieren, in der eine sexuelle Handlung hinzu tritt. Beispiel wäre ein Raub, der in eine Vergewaltigung umschlägt. Soll jedoch von vornherein die sexuelle Handlung der Gewalt dienen, so trifft zwar auch der Begriff “sexualisierte Gewalt” zu, hier finde ich aber wegen der Absichtlichkeit den Begriff “Sexualterror” viel zutreffender.
Ist hingegen die Gewalt nicht von der sexuellen Handlung zu trennen, etwa bei Vergewaltigung, so passt der Begriff “sexuelle Gewalt”.
Was mir noch abgeht ist ein Begriff für eine Situation, wo sich aus einer zunächst einvernehmlichen sexuellen Handlung eine Gewaltsituation entwickelt. Stichwort “Date-Rape”. Das wäre “gewaltisierter Sex”, um die Begriffe systematisch weiterzuentwickeln. Ich halte diese Unterscheidung aus strafrechtlicher Sicht für wichtig. Während es bei sexualisierter und sexueller Gewalt kaum Entschuldigungsgründe geben kann ist die Lage beim “gewaltisierten Sex” nicht so eindeutig und die Beweislage besonders schwierig.
26.01.2015 um 02:44 Uhr Amy
Nein heißt Nein : Diese Aktion ist seit langer Zeit bekannt. Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter und ist in allen patriarchalen Kulturen seit Jahrtausenden fest verankert. “Vergewaltigung ist eine Form des Massenterrorismus, denn die Angst vor einer Vergewaltigung sorgt dafür, dass Frauen nachts nicht auf die Straße gehen. Dass sie zu Hause bleiben. Dass sie bescheiden und passiv bleiben, aus Angst, man könnte sie für aufreizend halten”, schrieb z.B. Susan Griffin 1975 (amerik. Feministin). Ich finde den Begriff `Sexualterror` auch deshalb passend, weil jede Frau Angst vor einer Vergewaltigung haben muss und darüber hinaus viele dem alltäglichen Sexismus ausgesetzt sind. Der Terror (lat. Furcht, Schrecken). Können wir Frauen, Mädchen uns aufgrund unserer Geschlechtszugehörigkeit tatsächlich überall frei bewegen? Nein, das können wir nicht, denn weltweit erleben Mio Frauen, Mädchen all die Schrecken des Sexualterrors.
http://www.onebillionrisingdeutschland.org/reform-des-sect177-stgb.html
26.01.2015 um 00:21 Uhr Sven
Ich finde ehrlich gesagt, dass es bei der Vergewaltigung doch um Lust geht. Es sind denke ich die inneren Triebe und etwaige Psychosen, die dem Vergewaltiger das Gefühl geben, es würde sich “gut” anfühlen und demnach macht sich kurz vorher auch eine Lust breit. Das ist meine Theorie, wissen kann ich das natürlich nicht.
Ich finde aber auch, dass über dieses Thema viel offener gesprochen werden soll, beispielsweise, dass auch in der Schule bereits gelehrt wird, wann es “freiwillig” geschieht und wann man von einer Vergewaltigung spricht, denn viele, so bin ich der Auffassung, können keine klare Differenzierung aufstellen. Man muss bereits früh damit anfangen Frauen und Männern beizubringen, dass es nur dann freiwillig geschieht, wenn sie es ebenso wollen.
Spannende Diskussion, wie ich finde.
25.01.2015 um 22:56 Uhr Hannah
Für mich klingt schlüssig, was Sie schreiben und ich danke Ihnen für diesen Text.
Einen Komplex möchte ich aber gern “dranhängen”.
Und zwar, die Frage, wie man das Framing des Fremden beim Terrorbegriff umgehen kann.
Also ich verbinde den Begriff “Terror” immer mit sehr offenkundiger Gewalt, die sehr weit weg ist.
Nun sagt “Terror” ja aber etwas völlig anderes und will ja im Wort “Sexualterror” auch etwas benennen, was (zumindest für feministische Augen), alles andere als fern ist.
Mir ist auch ehrlich gesagt nicht so klar, wo Sie Sexualität, Sexualisierung und Geschlecht trennen. Ich gehe absolut d’accord, dass es bei Vergewaltigung nicht (immer/vorrangig) um Lust geht - aber ist Lustgewinn et al gleich “Sexualität”?
Für mich stellt sich Gewalt an bzw. durch menschliche Genitalien oft eher als sexualisiert dar, weil das Genital als solches stets sexualisiert wird und als Zentrum der Sexualität und auch des Geschlechts im Sinne des Gender betrachtet wird.
Ich frage mich, ob ein Begriff wie “Sexualterror” wirklich etwas greifbarer macht. Also zumindest so in dem Sinne, dass auch klar wird, worum es bei dem Verbrechen eben auch geht. Also neben der ständigen Angst, die an Geschlecht und Sexualität geknüpft wird und ergo auch gefügig macht.
Mit freundlichen Grüßen