Nackter Mann im Frauencollege - was soll das?
Am Montag bin ich nach zwei Monaten Boston wieder im heimatlichen Hannover gelandet und genieße nun das milde Klima und den beginnenden Frühling, während Joey weiter mit den Schneemassen in Neuengland zu kämpfen hat.
Anfang Februar wurde auf dem Campus des Wellesley College nahe Boston ein fast nackter Mann mitten in den Schnee gestellt. Kein echter, nur eine Statue, die aber täuschend lebensecht gestaltet ist. Der „Sleepwalker“ steht noch heute da in Eis und Schnee und macht jede vor Mitleid frösteln, die ihn sieht. Erbärmlich und erbarmenswürdig soll er da ausharren bis zum Juli.
Wellesley ist ein reines Frauen-College, wobei das Wort "rein" besonders sinnig ist. Zu seinen Alumnae zählen Ikonen wie Hillary Clinton und Madeleine Albright. Ganz rein ist das College heute nicht mehr; es unterrichten dort auch Männer. Dennoch: Was hat dieser schlafwandelnde Jammerlappen dort im Schnee zu suchen?
Das Kunstwerk des New Yorker Bildhauers Tony Matelli hat ein enormes Medienecho ausgelöst, nachdem einige Studentinnen bei Change.org eine Petition gestartet hatten mit dem Ziel, die Statue aus dem Außenbereich in die zugehörige Ausstellung zu verfrachten, wo sie weniger Anstoß errege und jede selbst entscheiden könne, ob sie sich den Anblick zumuten wolle.
Der Künstler zeigte sich völlig verblüfft ob der negativen Reaktion der Studentinnen und meinte, sie hätten da in seinen „Sleepwalker“, Inbild der Hilf- und Schutzlosigkeit, etwas hineingelesen, was mehr mit ihren eigenen Vorstellungen als mit seinem Werk zu tun habe. Sie sollten mal ihre Gefühle „durcharbeiten“, um sie besser zu verstehen. M.a.W.: Er riet ihnen zu einer Therapie.
Inzwischen haben fast tausend Personen die Petition unterschrieben, auch ich eben, als Neunhundertvierundsiebzigste. Brauchen die alle therapeutischen Beistand, um die unangenehmen Assoziationen zu verkraften, die der schlafwandelnde, frierende und so verletzlich wirkende weiße Mann in der Unterhose bei ihnen auslöst? Vielleicht.
Eine Frau in derselben Pose und Aufmachung, sagte der Künstler noch, habe er extra nicht ausstellen wollen, weil das wahrscheinlich als sexistisch angeprangert worden wäre.
Was ist los mit einer Kultur, in der eine fast nackte, schutzlos wirkende weibliche Figur automatisch als Opfer gesehen wird, dieselbe Figur als Mann aber Angst und Beunruhigung auslöst?
Die Protestierenden benutzen in ihren Begründungen immer wieder den Ausdruck „Trigger“ (Auslöser). In der klinischen Psychologie und Traumaforschung hat der Ausdruck folgende Bedeutung:
Unter „Trigger“ (englisch für „Abzug, Auslöser“) versteht man Sinneseindrücke, die Erinnerungen an alte Erfahrungen in einer Art wecken, als ob sie noch einmal aufs Neue gemacht würden. Diese Erinnerung erfolgt meist plötzlich und mit großer Wucht. Die damaligen Gefühle werden unmittelbar erlebt (Flashback). Die reale aktuelle Situation kann dann vom Betroffenen [sic] oft nicht mehr wahrgenommen werden. Er [sic] reagiert oft so, als würde er sich in der alten, erinnerten Situation befinden. Als Trigger können auch ganz schwache Signale wirken, beispielsweise ein Jahrestag, ein Geruch, eine Geste, ein Geräusch. Sie stehen meist im Zusammenhang mit schweren seelischen oder körperlichen Verletzungen (posttraumatische Belastungsstörung). (Wikipedia)
Ich nehme an, zu viele der protestierenden jungen Frauen sind als Mädchen von scheinbar „schlafwandelnden“, „hilflosen“, „verletzlichen“ Männern mit Bauchansatz und Halbglatze heimgesucht und vergewaltigt worden, wieder und wieder. Die Pose der Hilflosigkeit („Mama darf das nicht wissen, sie wird sonst schrecklich böse auf uns“) und des Schutzsuchens („mir ist so kalt, läßt du mich in dein Bett?“) war nur der Schafspelz, der dem Wolf den Zugang erleichtern und die Willfährigkeit des Opfers gewährleisten sollte.
Der Künstler, die Museumsleiterin und die Kuratorin der Ausstellung zeigten sich begeistert über die Kontroverse und das Medienecho, das der „Sleepwalker“ ausgelöst hatten. So solle es sein, Kunst solle provozieren und zum Nachdenken anregen, sonst sei es keine, frohlockten sie. Auf der Strecke blieben viele junge Frauen, die keine lebhafte Kunstdebatte auslösen, sondern „nur“ von dem unheimlichen und Angst auslösenden Bild eines herumtastenden Mannes in Unterhose verschont bleiben wollten.
Inzwischen ist die Auseinandersetzung handgreiflich geworden; die Studentinnen „verarbeiten ihre Gefühle“, indem sie den Sleepwalker wie eine Anziehpuppe ausstaffieren, seine Pose nachahmen oder ihn in ihre Mitte nehmen und sich mit ihm ablichten lassen. Sleepwalker hat auch seinen eigenen Twitter-Account bekommen, auf dem Sie all das in Wort und Bild mitverfolgen können: [url=https://twitter.com/WCSleepwalker]https://twitter.com/WCSleepwalker[/url]
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11 Kommentare
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09.03.2014 um 23:55 Uhr wallywilsonwallace
utterly male and all-pervasive…..mary dalys worte treffen immer noch
09.03.2014 um 11:53 Uhr Lena Vandrey
Nachzudenken, worüber der Künstler nachdenkt, ist insofern nicht ergiebig, als dass es ein anderes Denken gibt, das Denken des Impresarios, des Agenten, des Galeristen und schließlich der AusstellerInnen. Das Ziel ist, Ärger zu erregen, und je mehr Lärm, desto mehr Ruhm.
1000 Unterschriften DAGEGEN verwandeln sich auf der anderen Seite von Soll und Haben sofort in ihr Gegenteil, in ein DAFÜR!
Der Künstler hat eine Art von Statue geschaffen, aber hat ER denn die Idee gehabt, sie vor einem Frauen-College auszustellen? Und selbst wenn - Hätten die LEITERINNEN es nicht ablehnen können? Die Sache selbst in der Tradition der amerikanischen “Hässlichkeit” ist an und für sich unbedeutend. Sie bekommt ihre Bedeutung nur wegen des Standortes und der Proteste. Links liegen lassen, Boykott oder Girlkott, totschweigen, das wäre besser. Dass die Verwaltung eines FRAUEN-Colleges eine derartige Sache inszeniert, DARÜBER ist nachzudenken. Vor einem Männer-College hätte es diesen Rummel doch gar nicht gegeben, oder nur eine Zensur wegen Un-Ästhetik: Die Figur selbst sieht schon aus nach Deponie.
Künstler können machen, was sie wollen, aber Verantwortliche einer Universität eben nicht. Wenn die Unterschriften gegen den Künstler gerichtet sind, so ist das falsch. Gegen die Verwaltung müssen sie gerichtet werden, der Aufsichtsrat muss herangezogen werden, jeder andere Protest ist unsinnig.
Die Idee, den Unterhösler zu zerstückeln, ist Barbarei. Stellen wir uns doch vor, dass eine meiner Amazonen vor einem Männer-College angebracht würde - dafür besteht zwar nicht die leiseste Chance - und dass Studenten sie zerstören? Die Welt der Ikonoklastie muss hinter uns bleiben, es gibt andere Mittel inzwischen.
In diesem hiesigen Falle ist ein Kampf gegen die Hässlichkeit angesagt, das ist vorrangig, nötig und dringend!...
08.03.2014 um 14:34 Uhr anne
bis jetzt ist mir als unbedarfte nicht bewußt, worum es dem sog. künstler persönlich mit dieser staffage geht? frauen, die sich empören, rät er zu psychotherapie - ein fast nackter mann als Inbild der schutzlosigkeit? das gefällt ihm - wenn ich im internet seine arbeiten betrachte, kommen sie mir ziemlich skurril vor - seine message würde mich interessieren. es lässt sich viel hinein/interpretieren - vielleicht liegt es einfach am künstler , der sich über ein stillschweigen offenbart, was seine werke bezwecken sollen? der mann , der in der heutigen patr. welt nicht mehr weiß, wo und wie es lang/geht, der sich nackt fühlt, weil er in seinem tun von allen seiten beobachtet wird? oder hat er sich gar nichts dabei gedacht? es wäre sehr erfreulich, wenn der initiator seine persönliche gedankenwelt hierzu in worte fassen würde. zumeist sind es ja männer selbst, die ihre artgenossen an menschenwürdigem verhalten hindern und dem maskulinismus frönen .. der US-politiker A. Weiner verschickte im letzten jahr seinen Pimmel virtuell per internet auf reisen - versteckt , aber dennoch deutlich sichtbar in unterhose an etliche frauen , die ihm angeblich untertänigst zur verfügung standen - es scheint inzwischen schule zu machen, sich an A. Weiner zu orientieren, sogar in der kunst auf dem frauencollege-gelände?
06.03.2014 um 23:08 Uhr Sabine
“Handgreiflich” (letzter Absatz)wäre, den ferkelfarbigen Unterhösler in kl. Stücke zu zerlegen und umweltfreundlich zu entsorgen.
06.03.2014 um 13:39 Uhr Irmgard
Ich hab auch grad unterschrieben (als 987igste). Unfassbar, was Frauen sich alles so bieten lassen müssen, somit Frauen ständig belästigt werden. Und so ein “Kunstwerk” ausgerechnet noch vor einem Frauen-College! Tickt der Herr “Künstler” eigentlich noch richtig???
06.03.2014 um 13:10 Uhr Amy
Die o.g. Empfehlung von Gudrun Nositschka kenne ich auch und wurde mir vor Prüfungen empfohlen, um meine Prüfungsängste zu minimieren. Die Prüfer damals waren zumeist Männer und in ihrem Autoritäts-Imponiergehabe unerbittlich.
Wie ich gelesen habe, tragen angeblich Muttersöhnchen Feinripp-Unterhosen, wie der `Sleepwalker`. Die Geschichte der Herren-Unterhose ist keine, in der Hygiene und Sauberkeit irgendeine Rolle gespielt hätten. Anfang der 1970er Jahre mietete ein Unbekannter die Plakatwände, die Litfaßsäulen in der Bundesrepublik für eine Kampagne von überschäumender Kritik am Mann - für die Darstellung des Mannes als Schwein. Eine ganze Reihe von Kerlen in Businessanzügen hockte da am Tresen, alle mit Masken statt Gesichtern, der eine ein Schwein wie der nächste. Männer, hieß es dazu, wechselten ihre Unterhosen nur einmal die Woche. Niemand verstand, was das sollte. Männer, Schweine? Prinzipiell gar nicht so sehr daneben, aber was sollte denn die Unterhose dabei?
Frau könnte meinen, das obige Kunstobjekt ist die Symbolik eines `SweenIgels`? Sogar `Die Ärzte` zelebrierten vor Jahren mit einem Songtext die nackte Wahrheit . http://www.songtexte.com/songtext/die-arzte/manner-sind-schweine-43dccbbb.html
04.03.2014 um 18:49 Uhr Gudrun Nositschka
Zu einem Mann in Unterhose fällt mir eine Empfehlung aus meiner Jugendzeit von Eltern und Großeletern zum aufgeplusterten Autoritätsgehabe von Männern ein, mögen sie Lehrer, Schaffner, Polizisten usw. sein. Vielleicht war diese Empfehlung ja typisch fürs Ruhrgebiet. “Wenn Männer großkotzig daherkommen, dich anschnauzen, sich wie der Gott persönlich vorkommen, stell dir einfach vor, er wäre nackt, nur mit einer Unterhose an. Gibt es etwas Lächerlicheres? Aber verkneif dir dann bloß das Lachen!” So habe ich es nun seit mehr als fünfzig Jahren gehalten. Es hat mir prima geholfen.
04.03.2014 um 12:46 Uhr anne
die antwort auf den exhibitionisten könnte die tolle arbeit und die idee von Charlotte Newson sein - ein foto-mosaik-porträt von Emmeline Pankhurst. ca. 10.000 einzelbilder von inspirierenden frauen bilden das porträt, welches die künstlerin mit viel aufwand und liebe gestaltete. dieses porträt ist das erste öffentliche kunstwerk zum gedenken an eine bemerkenswerte frau in unserer geschichte. wir brauchen keine `schlafmützen` vor einem frauencollege , sondern weibliche vorbilder, die sich tatkräftig gegen ihre unterdrückung zur wehr setzten . die veröffentlichung wurde damals so geplant, das sie mit dem internationalen frauentag zusammenfällt .. http://www.charlottenewson.com/women-like-you/