Moralschaden (Moral Injury)
In der vergangenen Woche brachte der Bostoner Sender WBUR eine fünfteilige Serie zum Thema „moral injury“, einem Leiden, das immer mehr Soldaten (eine Soldatin war auch unter den Betroffenen) zu schaffen macht, ja sie quält bis zum Selbstmord. Es ist nicht dasselbe wie PTSD (Post Traumatic Stress Disorder). Bei der Frage, wie denn der neue Begriff zu übersetzen wäre, kam ich durch die detaillierten Beschreibungen auf Wörter wie „Schuldgefühl“, „Gewissensnot“, „Gewissensqual“. Die Betroffenen leiden unter Gewissensqualen wegen der Taten, zu denen sie im Krieg gezwungen wurden - aber nicht alle. Einige leiden eher unter dem Gegenteil, einer Abstumpfung ihrer Gefühle.
Die Moral der Soldaten hat Schaden genommen, Moral im Sinne von „Gefühl für Sitte und Anstand“. Deshalb schlage ich als Übersetzung für „moral injury“ das Wort „Moralschaden“ vor.
Das Militär ist mit dem Begriff „moral injury“ nicht glücklich, besagt er doch, dass SoldatInnen im Zuge der Erfüllung ihrer militärischen Pflicht Schaden nehmen können. Körperlicher Schaden, gut, das gehört zu den anerkannten Risiken. Die Mittel zur Behandlung, Heilung oder Kompensation solcher Schäden sind einkalkuliert und werden bereitgestellt. Sonstige Schäden sind unerwünscht, es darf sie nicht geben, und sei es nur aus Kostengründen, deshalb zieht das Militär den Begriff „inner conflict“ vor.
Ob „moral injury“ oder „inner conflict“ - die Frage, die sich angesichts dieser Debatte für eine Feministin automatisch ergibt, ist diese: Wie kommt es, dass wir so wenig hören von Gewissensqualen, die jene Männer plagen, die sich über Jahre an ihren Töchtern vergehen, die Frauen schlagen, sexuell versklaven, vergewaltigen, „Lustmorde“ begehen? Da diese Taten so viel weiter verbreitet sind als Grausamkeit gegen Kriegsgegner, müsste es von Männern mit „Moralschaden“ überall nur so wimmeln. Das ist aber nicht der Fall.
Offenbar gibt es zwei Arten der Moral. Erstens eine Moral des Handelns und Misshandelns unter Männern. Sie kann durch Hierarchien und Befehle dermaßen in Unordnung gebracht und auf den Kopf gestellt werden, dass die Opfer solcher Konfusion Schaden an ihrer „Moral“ nehmen.
Zweitens eine „Moral“ des Handelns und Misshandelns von Männern gegen Frauen. Hier scheint fast alles erlaubt. Die Moral ist kaum ausgeprägt und kann infolgedessen auch kaum Schaden nehmen.
Die Standardwerke zur Moral stammen von Männern: Aristoteles (Magna Moralia), Adorno (Minima Moralia), Nietzsches Genealogie der Moral sowie Jenseits von Gut und Böse, Freud und Foucault. Nicht zu vergessen Kants "Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“. Frauenfeinde sind sie einer wie der andere. Aber die Genealogie der Moral lehrt immerhin etwas Wesentliches: „Das moralische Gesetz in mir“ ist mir keineswegs angeboren, sondern es wird mir anerzogen. Nicht zuletzt von den großen Moralphilosophen und Frauenfeinden. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen folgen höchst unterschiedlichen Moralgesetzen.
Der neue „Moralschaden“, der nur durch kriegerische Gewalt gegen Feinde und nicht durch „gewöhnliche“ Gewalt gegen Frauen hervorgerufen zu werden scheint, bestätigt diese tiefe Erkenntnis Nietzsches. ----------- Zum Weiterlesen: Naomi Wolf über die "rape culture" im US-amerikanischen Militär: [url=http://www.project-syndicate.org/commentary/the-us-military-s-rape-culture-by-naomi-wolf]http://www.project-syndicate.org/commentary/the-us-military-s-rape-culture-by-naomi-wolf[/url] •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
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8 Kommentare
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07.07.2013 um 14:38 Uhr Amy
Was die Rape Culture beim (US) Militär betrifft, habe ich früher einmal gelesen, daß auch i.d. israelischen Armee viele Soldatinnen opfer von Vergewaltigungen, Sexismus sind. “Soldat sein heißt männlich sein” - zitiert: ” Soldat-Sein heißt männlich sein:
Aktuelle Untersuchungen, die subjektive Erfahrungen israelischer Soldatinnen während ihres Militärdienstes berücksichtigen, bestätigen in der Tat die ungeachtet der innerhalb der IDF vonstatten gehenden vermeintlichen Gender-Reform anhaltende unterschiedliche Bewertung der männlichen und weiblichen Rolle für die Verteidigung der israelischen Nation. Dass sich auch in Israel der Militärdienst weiterhin als ‚rite-de-passage’ zur Männlichkeit erweist, zeigt sich in negativer Konsequenz insbesondere an der unter Soldatinnen in jenen bislang Männern vorbehaltenen kampfbezogenen Positionen ausgeprägten androzentrischen bzw. misogynen Haltung. Derartige abwertende Einstellungen anderen weiblichen Soldatinnen gegenüber erweisen sich als Konsequenz des Bemühens, dem mit diesen Positionen assoziierten Männlichkeitsideal so gut wie möglich zu entsprechen. Dies bedeutet zugleich, sich von jeglichen tradierten Vorstellungen von Weiblichkeit zu distanzieren. (zitatende)
Einen prima Artikel habe ich gelesen zu “Bilder der Gewalt - Gewalt der Bilder” von Gisela Breitling (Die alltägliche Wut/Gewalt, Pornografie, Feminismus, 1987) - zitiert: ...die Sexualität ist also das Mittel, mit dem die Freiheiten, die sich Frauen in anderen Zusammenhängen erkämpft haben, zunichte gemacht werden, da sie als Privatsache gilt, was nichts anderes heißt, als daß dort jene Gewaltenteilung aufhört, die im bürgerlichen Leben sonst der privaten Willkür Grenzen setzt. Da der (männlichen) Sexualität, ungeachtet ihrer seit Jahrtausenden eingeübten frauenfeindlichen Einseitigkeit und im Gegensatz zu allen anderen Bedürfnissen, die sich ja, gesellschaftlichen Regeln unterordnen müssen, und sich nicht rücksichtslos und wie es gerade kommt, befriedigen lassen, das Privileg des ungehinderten Zugriffs eingeräumt wird, läßt sich das weibliche Autonomiestreben in Schach halten, ohne die sonstigen bürgerlichen Rechte zu tangieren…
...auf dem Gebiet der Sexualität konnten sich die in anderen Zusammenhängen widerlegten Behauptungen über `weibliche Schwachheit` und `männliche Überlegenheit` nicht nur halten. Von dort aus wird das verlorene Terrain - die Herrschaft über die Frau - zurückgewonnen.
Daher geht es Vergewaltigern auch weniger um Sexualität, sondern um Machtausübung und Demütigung von Frauen. Der männliche `Trieb` , dem unbedingt Genüge zu tun ist, ist in Wahrheit bloß ein anderes Wort für `Mann` . Männlichkeit an und für sich beansprucht Gewaltherrschaft, Gehorsam und Unterwerfung der Frauen….(zitatende)
Gunda Werner Institut (Soldatinnen als Opfer)schreibt 2007: “Dennoch steht das weibliche Geschlecht in keiner Armee der Welt auf gleicher Ranghöhe wie das männliche. Die Abwertung weiblicher Soldaten erfolgt auf vielen symbolischen und realen Ebenen. Besonders perfide sind sexuell eingefärbte Angriffe: sexistische Witze, Grabschereien, Belästigungen, Beleidigungen, Vergewaltigungen. In praktisch allen Armeen sind sexuelle Übergriffe auf Frauen - und auch auf Männer, die nicht dem gängigen Männlichkeitsmuster entsprechen - weit häufiger als im Zivilleben. Offenbar ist dort der soziale Druck, sich als „männlich-wehrhaft“ zu beweisen, indem man(n) Frauen abwertet, noch viel größer als im Zivilleben. In einer Umfrage von 1995 gaben mit 55 Prozent über die Hälfte aller befragten US-Soldatinnen an, sexuell belästigt worden zu sein, bei den Männern waren es 14 Prozent. Allerdings ist die Dunkelziffer sehr hoch, weil die wenigsten Fälle vor Gericht landen. In Kriegen, auch im „War on Terror“, nehmen die Fälle regelmäßig zu. Nach Recherchen der US-Professorin Helen Benedict wurde von den fast 200.000 Soldatinnen, die seit 2001 im Mittleren Osten im Einsatz waren, fast drei Viertel von ihren Kameraden sexuell belästigt und beinah ein Drittel vergewaltigt.”
Das Militär ist ein Hort von Männlichkeit, Gewalt, Brutalität, Zerstörung, Misogynie - wie können Soldatinnen in diesem menschenverachtenden System vor den eigenen Leuten geschützt werden, wenn in unserer männlich geprägten Kultur mit Pornographie, Prostitution, in Kunst, Literatur ein `Frauenbild` vermittelt wird, das angeblich Spaß an Unterwerfung, Vergewaltigung hat? Ob allein Gesetze ausreichend sind? Inzwischen sind wir nämlich wieder dort angelangt, daß Frauen, Mädchen sich nicht mehr trauen, Vergewaltigungen anzuzeigen, obwohl diese Verbrechen strafbar sind ...
Zitat: ” In einer Welt ohne Vergewaltigungen müssten Frauen ihre Witterung nicht mehr haben, keinen bangen Augenblick lang. Sie wären in derselben Welt, in der Männer immer schon sind. Es würde sich nicht wirklich viel ändern. Und doch etwas Entscheidendes: Dieser eine Abgrund würde nie wieder Menschen verschlucken. Ja, und wir Frauen könnten uns endlich frei bewegen. ”
http://www.hagalil.com/01/de/Israel.php?itemid=120
05.07.2013 um 17:59 Uhr anne
@ Lena Vandrey - grusel, “schwerter zu dildos” http://fm4v2.orf.at/connected/217357/main.html
05.07.2013 um 10:10 Uhr Lena Vandrey
Liebe Luise,
Zum Mobbing der Jutta Schwerin ist zu sagen, dass die Feministische Partei dadurch unsympathisch wurde, und unglaubwürdig. Für vielerlei Feministinnen war das Interesse erloschen. In Paris wurden Lesben gemobbt-es gab regelrechte Prozesse- weil sie zu kurze Haare hatten. Somit wurde die Queer-Bewegung ein Zufluchtsort für von Frauen gemobbte Frauen. Eine hanebüchene Ansammlung von falschen Problemen…
Eines davon ist dieses:
Frau Schwarzer schreibt: Die Klitoris ist für die Lust da, die Vagina fürs Kinderkriegen. Das ist mir zu platt! Die Vagina, siehe den Dildo-Markt, ist auch für Lust empfänglich, aber nicht für Orgasmus zuständig. Lust und Orgasmus sind nicht das Gleiche. Die Filmerin Mai Zetterling sagte, dass die Vagina nur für den Penis da sei, für “sauberen” Sex! Also war Lesben-Sex schmutzig, und die Bi-Sexuellen, die sich trotzdem dort hinwagten (warum eigentlich?)zensierten “beide” vorhandenen Vaginas! Finger gehörten dort nicht hinein, obwohl Finger intelligent sind, und der Penis blind und dumm. Fazit: Wer nichts mit ihm zu tun haben will, ergo auch keine Kinder, braucht keine Vagina! Die Pro-Vagina mobbten die Pro-Klitoris, welche sich verschreckt mit ihrem unnützen Organ zurückzogen, bis es dann eine extreme Reaktion gab: die Dildo-Explosion, den Penis-Ersatz, und immer noch keine Hände.
Es ist doch unglaublich!
04.07.2013 um 22:36 Uhr lfp
@ Lena Vandrey: Susan Faludi hat im April im “New Yorker” einen erhellenden, traurig machenden Artikel über Fertigmache unter Feministinnen geschrieben: “DEATH OF A REVOLUTIONARY - Shulamith Firestone helped to create a new society. But she couldn’t live in it.”
http://www.newyorker.com/reporting/2013/04/15/130415fa_fact_faludi?currentPage=all
Der schlimmste Fall von Fertigmache, den ich erlebt habe, geschah kurz nach Gründung der Feministischen Partei im Jahre 1996. Im Handumdrehen war eine der Gründerinnen, Jutta Schwerin, rausgemobbt worden. Seither kränkelt die Partei, die zuvor große Chancen und Sympathien hatte.
04.07.2013 um 12:38 Uhr Lena Vandrey
Weil es doch leider zusammenpasst und zusammengehört: In der “Emma” einen Bericht über ein Buch von Phyllis Chesler. Thema: Was Frauen anderen Frauen antun, angetan haben, und wie Feministinnen andere Feministinnen angreifen. Die Geschichte einer Zerstörung, ein heikles und beinahe unmögliches Thema, und deshalb wohl auch nicht übersetzt?
Warum nun aber die “Emma” keine aktuellen Fotos von Chesler, Faludi und Millett bringt? Ein Rätsel! Chesler und Faludi als Jugendliche, und Millett, die nun schon seit den 70ern nicht mehr so aussieht, warum? Weil es billiger und bequemer ist? oder weil ihr heutiges Aussehen abschreckend wäre? Wer wird das Chesler-Buch übersetzen und uns zeitgemäße Fotos zeigen? Dieses Thema ist unumgänglich wichtig. Der Hass von Frauen auf Frauen MUSS kritisiert werden können, denn sonst versinkt alles in schäbiger Lüge…
Wir werden also in Englisch lesen, oder ist eine Übersetzung im Gange? Wer weiß etwas darüber?
03.07.2013 um 07:56 Uhr Halina Bendkowski
Moral injury oder inner conflict, tatsächlich
der Moralschaden ist auch ohne inner conflict überall sicht-und erkennbar. Ein sehr zutreffender Begriff.
Danke!
02.07.2013 um 19:05 Uhr anne
immer klasse ist Laut & Luise und so wichtig!! ich liebe es… :)
von gewissensqualen der täter , die mit ihrem sexualorgan frauen, mädchen wie eine wegwerfware (prostitution) behandeln , habe ich noch nichts gehört. ebenso bei `schwestermorden` und gewalt gegen frauen im namen einer dubiosen männer-ehre. es gibt `männer-gesetze`, da wird zwecks züchtigung der ehe-/frauen die gewalt zur normalität. etwas mehr druck auf frauen auszuüben, wurde männern früher in einigen sexual-aufklärungs-broschüren schmackhaft gemacht. täter, die meinen ein recht darauf zu haben, sich frauen-/körper-teile zur sexuellen macht-befriedigung zu kaufen, kennen auch keine moral, ethik, gewissensqualen oder schuldgefühle - im gegenteil, wenn sie nicht auf den weiblichen `warenkorb` zurückgreifen dürf(t)en, fühlen sie sich als opfer. und z.b. die vielen (US) soldaten, die ihre eigenen kameradinnen vergewaltigt haben, kennen sie gewissensbisse?
wir leben auch heute in einer beschissenen (medialen) welt, in der die verherrlichung von gewalt, machtgehabe sogar medial zum unterhaltungsfaktor und heldentum mutiert. das ist teil unserer gegenwärtige moral ...unterstützt wird diese durch eine männer-sprache , die genügend abschreckende, hässliche worte kennt, mit der jede/r gegen jede/n `krieg` führen kann..
ja, auch @ lena vandrey sagt es, `nur wer sich empört, leidet`. das schreckliche ist, dass dieses `leiden` nicht aufhört sondern eher noch zunimmt…
02.07.2013 um 09:47 Uhr Lena Vandrey
Das ist wirklich die richtige Conclusio: Von den Gewissensqualen der Verbrecher hören wir nichts! Und wie steht es mit der Philosophie? Ausschließlich für Männer da, Frauen gibt es als Denk-Thema überhaupt nicht. Die Moral scheint dazu da zu sein, Männer zu verbessern. Das aber ist schief gegangen, und daran hinkte, und hinkt immer noch, der Humanismus, ein glattweg verlogenes Gebilde.
Schon als Kind habe ich diese Lektüren abgelehnt, obwohl ich schon damals philosophierte und es als gescheite Feministin weiterhin tue. Das Kant-Zitat ist sehr schön, und ich kann es für mich anwenden, aber das ist auch alles.
Der Schriftsteller Peter Handke schrieb an die Schriftstellerin Verena Stefan, dass ihre Sprache ihn ausschlösse. Da ist der Spieß einmal umgedreht! In der Bewegung FLR (Front Lesbien Radical),Paris, fragte ich: Habt ihr schon einmal über Moral nachgedacht? Nein, auf diese Idee sind wir nicht gekommen! Das bezieht sich nicht auf uns!
Im Krieg nehmen Männer Schaden; im Bürgerkrieg gegen Frauen, Kinder, Wehrlose, Alte und Tiere - gibt es keinen “Moralschaden”? Doch für UNS, die potentiellen Opfer, die wir dauernd von den grausigsten Verbrechen hören, und sie nicht verhindern können, die Mit- und Nebenopfer aller Männer-Verbrechen. There is the war between men and women ... sang Leonard Cohen in “The future”. Das ist lange her, und daran hat sich nichts verändert. Ein Offizier kommt krank aus Afghanistan zurück, und wird bemitleidet. Wir kommen von der Straße zurück, und finden nicht einmal Verständnis. Ein Medien-Mäzen wollte uns eine Website einrichten mit dem guten Rat, den Feminismus wegzulassen…
Würden wir weniger leiden, wenn wir KEINE Feministinnen wären??
Die Antwort heißt leider JA! Wenn Frauen uns erzählen, dass die Klitoris-Amputation ja jetzt BESSER gemacht würde im Krankenhaus! So leiden sie nicht! BESSER scheint uns das größere Verbrechen zu sein.
Nur wer sich empört, leidet ...