„Mit zärtlichen Trieben“: Das Weihnachtsoratorium
Gestern Abend war ich im Weihnachtsoratorium in der Marktkirche, es musizierten der Bachchor und das Bachorchester Hannover unter der Leitung von Jörg Straube, der bei uns um die Ecke wohnt. Das letzte Konzert mit Straube am selben Ort, diesmal mit seinem Norddeutschen Figuralchor, hatten wir vor drei Wochen gehört, Musik zum Advent. Joey und ich, Berit und Angelika sowie Juanita und Vera waren begeistert.
Waren wir damals zu sechst, so musste ich diesmal alleine los, denn Joey war am 8. Dezember zurück nach Boston geflogen, und die Freundinnen hatten anderes zu tun. Ich quälte mich durch das Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt vor der Kirche und fürchtete, von der Menge wie bei der Love Parade totgetreten zu werden, sollte sie aus irgendeinem Grunde in Panik geraten. Es geriet aber niemand in Panik, vielmehr schob sich das Volk in gemessener Festtagslaune, bewaffnet mit Bratwürsten und Glühwein, umsichtig an den glitzernden Verkaufsständen entlang.
Ich kam unbeschadet in die Kirche und verfügte mich auf meinen Platz, der schon zur Hälfte von einem enorm dicken Herrn besetzt war, der anderthalb der schmalen Stühlchen beanspruchte.
„Jauchzet, frohlocket“ - der Chor legte los mit Pauken und Trompeten, schwungvoll und triumphal. Wie herrlich! Oder besser: fraulich, denn der Bachchor besteht zu drei Vierteln aus Frauen, und das Bachorchester zu mindestens zwei Dritteln. Wo früher kaum eine weibliche Seele zu sehen war, wimmelt es jetzt geradezu von Frauen. Ähnlich wie bei unserer neuen Regierung, wo letzte Woche pausenlos neue Frauen für höchste Ämtern aus dem Hut gezogen wurden, als wäre es das Natürlichste von der Welt, z.B. die Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die Datenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff und Sabine Lautenschläger für die Leitung der Europäischen Zentralbank.
Am Nachmittag hatte mich Christoph besucht und erzählt, er ginge heute abend mit seiner Freundin in den Lesbenfilm „Blau ist eine warme Farbe“. Seit „La vie d’Adèle“ bei den Filmfestspielen in Cannes den großen Preis gewann, wollen Joey und ich uns diesen Film ansehen. Nun ist er angelaufen, und Joey ist nicht da, und überhaupt musste ich an meinem einzigen freien Abend schon ins Weihnachtsoratorium.
Aber auch das Weihnachtsoratorium hat für Lesben allerlei zu bieten. Bei „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben“ denke ich immer an Joeys schöne Altstimme und an die Geburt ihrer Tochter. Bei der Geburtsvorbereitung nach der Erna-Wright-Methode war den werdenden Müttern lautes Singen zur Reduktion der Wehen empfohlen worden, und so sang Joey, als die Zeit kam, da sie gebären sollte, im Kreißsaal tapfer ihr „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben, die Schönste, die Liebste bald bei dir zu sehen.“ Dass sie eine Tochter gebären würde, war ja klar.
Das schöne Weihnachtsoratorium tönte fort, mal mit lautem Getöse und Jubilieren, mal leise und zärtlich säuselnd. Bach hat sorgfältig auf Abwechslung geachtet, um die Gemeinde wachzuhalten und den Ausführenden auch mal eine Erholungspause zu gönnen. Und der multifunktionale Jesus, mal „mein herzliebes Jesulein“, mal „Herr der himmlischen Heerscharen“, erweist sich bei dieser Aufgabe als sehr nützlich. Als „Großer Herr und starker König“ wird er vom Chor samt vollem Orchester oder von Bass und Trompete lautstark und mitreißend besungen. „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen, lass dir die matten Gesänge gefallen“ - dröhnt der Chor alles andere als matt.
Die Altistin aber, inniglichst, singt den Liebsten oder ihr Baby in den Schlaf:
Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh, […]. Labe die Brust, Empfinde die Lust, Wo wir unser Herz erfreuen!
Eingelullt von der süßen Musik der Altstimme und der Oboe d’amore, geriet ich ins Träumen. Nach dem Konzert zu Hause angekommen, skypte ich mit Joey, und sie musste sich allerlei Fremdartiges anhören: „Schlaf, meine Liebste“, sagte ich zu ihr, obwohl es bei ihr noch nachmittags um vier war. „Schlaf, meine Liebste, genieße der Ruh, labe die Brust, empfinde die Lust, wo wir unser Herz erfreuen.“ Joey lachte fröhlich und versprach, unser Herz zu erfreuen, sobald ich in Boston gelandet wäre.
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4 Kommentare
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28.12.2013 um 14:13 Uhr anne
nachtrag zum stichwort: Zärtliche Triebe - lb. Luise - zwecks info möchte ich gerne zum preisgekrönten film über eine lesbische liebe `blau ist eine warme farbe` noch etwas dazutun.
zitiert a.d. presse (NTV v. 20.12.2013/Spiegel Online)
Als “brutale und chirurgische, überbordende und kalte Zurschaustellung von sog. lesbischen Sex” hat Julie Maroh den Film in ihrem Blog kritisiert. In der Kinovorstellung , die sie besuchte, hätten sowohl die heteronormativen als auch die homosexuellen und queeren Menschen gelacht, weil sie die Szenen entweder nicht verstanden oder nicht überzeugend gefunden hätten. Die Einzigen, die nicht gekichert hätten, wären die Typen gewesen, die zu beschäftigt waren, sich dem Gezeigten aufzugeilen.
Weitere Kritik gab es von Julie Maroh (die lesbische Autorin der Comicvorlage) , die für ihr Werk bereits mit dem Publikumspreis beim renommierten Comicfestival gewonnen hatte, sie verglich aber nicht nur die Sexszenen mit einem Porno. Sie unterstellte Regisseur Kechiche auch, dass er im Vorfeld keine lesbische oder schwule Person zu dem Thema befragt habe.
Dementsprechend warf sie ihm vor, keinen lesbischen Sex, sondern eine heterosexuelle Vorstellung von lesbischen Sex zu zeigen. Tatsächlich unterscheiden sich Comic und Film in ihrer Schwerpunktsetzung. Die Adaption ist eher ein Coming-of-Age-Streifen, die Graphic Novel eher ein Werk über ein Coming-out.
Marohs Buch, das zum Kinostart auf Deutsch im Splitter-Verlag erscheint, geht sensibler mit dem Thema Sexualität um. Die Hauptfigur, die hier Clementine und nicht Adèle heißt, hadert stärker mit der Erfahrung, dass sie auf Frauen steht. Das bestimmt auch ihr Verhältnis zu Emma, die immer wieder Clementines eindeutiges Bekenntnis zu der Beziehung erwartet. Doch die hadert lange mit sich selbst. Deshalb entwickelt sich die Beziehung der beiden bei Maroh viel langsamer, die beiderseitige Unsicherheit und auch die Tatsache, dass Emma in einer Beziehung steckt, nehmen mehr Raum ein.Wo im Comic noch die unerfahrene Schülerin von der routinierten Älteren behutsam angeleitet wird, wird hier umstandslos eine Leistungsschau anspruchsvoller Positionen dargeboten. Dass beide Darstellerinnen über makellose Körper verfügen, lässt die Szene noch künstlicher wirken. Und wenn in der endlosen Montage von weißer, glatter, haarloser Haut die Körper der zwei Frauen verschmelzen und sie zum Schluss in komplementärer Embryonalstellung zur Ruhe kommen, wird vollends klar, dass Kechiche eine dubiose Vorstellung von gleichgeschlechtlicher Liebe hat.
Viel stärker betont Maroh zudem den Zusammenhang zwischen Verunsicherung und den Anfeindungen der Umwelt. Ihr Buch ist deshalb nicht nur sensibler, sondern auch radikaler, weil es die grassierende Homophobie (Lesbophobie - m.A.) in der Gesellschaft realistischer darstellt. ” (zitatende/NTV, 20.12.2013/Spiegel Online)
außerdem erklärten die beiden darstellerinnen, nicht mehr mit dem regisseur arbeiten zu wollen, da die erfahrung `schrecklich` gewesen sei und sie sich manipuliert fühlten; Seydoux sich bei den dreharbeiten als `prostituierte` gefühlt hätte, was sie später aber relativierte.
ausgerechnet über das internet! mussten sich die beiden heteras zum `lesbensex` informieren . es ist enttäuschend, wenn die erste liebe, das erste annähnern , das erste DU im üblichen herrkömmlichen hetero-porno-look-gerammele verblühen muß. was nimmt sich dieser regisseur eigentlich in seiner unwissenheit heraus und welche message gilt dem publikum, wenn lesbische sexualität mit dem pornografischen männl. blick gleichgesetzt wird? dass für die/se männer (lesb.) sex mit zwei frauen die größte geilheit bedeutet, ist ja nicht unbekannt ... das, was die mehrheit somit wohl interessieren wird , sind die expliziten sexszenen ..
25.12.2013 um 13:50 Uhr Lena Vandrey
Für Luise:
Auf Deinen letzten Text zu antworten, würde eine Abhandlung bedeuten, für die der Platz fehlt, und das Echo sowieso. Wir wollen uns also begnügen mit der Tatsache, dass Du eine “Homosexuelle” bist
(Emma)und keine Lesbe. Auch darüber wollen wir nicht referieren.
Nur eines: Wie kannst Du denn Prostitutions-Sex von Privat-Sex trennen wollen und “beiden Seiten einen lustvollen Akt” zuschreiben? Weißt Du denn nicht, dass die weibliche Lust das größte Tabu, das schrecklichste Verbot aller Kirchen darstellt? Warum werden denn Mädchen exzisiert? Gibt es für Dich “lustvolle Akte” außerhalb von Pornografie und Gewalt? Die Lust der weiblichen Seite ist in der Heterosexualität mit Hass bedacht, und was dieser Vorgang, dieser Akt bedeutet! Es ist mindestens seltsam, einen solchen Hieb zu bekommen … von der eigenen Seite.
Das Hetero-Denken einer Homosexuellen!
Die allermeisten Frauen sind an der Männer-Sex-Front in der Sex-Fron!
In tiefer Trauer,
Lena Vandrey und Mina NoubadjiHuttenlocher.
23.12.2013 um 18:44 Uhr Sabine
liebe luise, als zutiefst anti-religiöse und anti-kirchliche frau kann ich es ganz besonders bei lesbischen frauen (u. auch schwulen männern) aus einer vielzahl guter gründe nicht nachvollziehen, wenn sie diese religiösen/polit. machtorganisationen akzeptieren und unterstützen (indem sie z.B. ein kirchenkonzert mitfinanzieren…(von den Texten ganz zu schweigen) “...musste(??)ich an meinem einzigen freien Abend schon ins Weihnachtsoratorium”)In anderen glossen hast du dich ja auch schon religions-/kirchennah gezeigt, was ICH zumindest bedaure…
cheers, sabine
ein niedliches amüsantes buch ist (u.v.a.): Sam Harris, Letter to a Christian Nation!
22.12.2013 um 15:16 Uhr anne
das hört sich ja alles sehr schön an! leider reimt sich auf `triebe` auch das wörtchen `hiebe` - wie ich kürzlich gelesen habe, war die jugend von J.S. Bach von gewalt und sadismus geprägt. zitiert: “An Bachs erster Schule im thüringischen Eisenach seien die Jungen subversive, rüpelhafte, biertrinkende Chaoten gewesen, die Messer auf sich trugen, den Mädchen hinterherjagten und Dinge kaputt schlugen. Als 12-jähriger Chorknabe sei Bach zudem einem sadistischen Lehrer ausgeliefert gewesen.” wenn ich den namen J.S.Bach lese, denke ich auch an seine lebensnahen mitstreiterinnen - es heißt, ihr leben `unter` J.S.B. war nicht gerade rosig, vielleicht zu sehr auf seine männlichen `triebe` ausgerichtet? das resultat waren unzählige zwangerschaften - in den folgenden 20 jahren brachte Anna Magdalena Bach z.b. 13 kinder zur welt, nur drei überlebten. Anna Magdalena Bach starb zehn jahre nach dem tod ihres mannes sogar als `almosenfrau`.... kein `jauchzen und frohlocken`- obwohl mir einige musikalische werke von J.R.B. gefallen ..... der neue lesbenfilm `blau ist eine warme farbe` ist von einem regisseur - ich frage mich , warum wieder einmal männer , die von lesbischer bzw. frauenliebe wenig ahnung haben, uns hier ihren stempel zur frauenliebe aufdrücken - EMMA schreibt einiges kritisches dazu, was mich zum nachdenken anregt - laues blau im porno-look? was sich otto normalverbraucher als fleissiger pornokonsument doch so alles unter lesbenliebe vorstellt: zwischen pornografie und zärtlichkeit - http://www.emma.de/artikel/blau-ist-eine-laue-farbe-313101