Ist Japan eine Frau?
Die JapanerInnen reagieren mit solcher Gefasstheit und Haltung auf die entsetzlichen Schicksalsschläge, die seit dem 11. März erbarmungslos auf sie niederprasseln, dass der Westen sich fragt: Was ist los mit ihnen?
„Sie müssen unter Schock stehen.“ „Sie sind sowieso eher fatalistisch, das liegt an ihrer Religion, dem Buddhismus.“ „Nein, sie wollen das Gesicht wahren, das ist in der japanischen Kultur die Hauptsache.“ „Die Japaner leben auf ihrer Insel so dicht gedrängt, dass sie zwangsläufig ständig unter Beobachtung ihrer Mitmenschen sind, und so wurde denn das Haltung-Bewahren zum obersten Gesetz. Man lässt sich in der Öffentlichkeit nicht gehen.“ „Japan, wie überhaupt der nahe und der ferne Osten, hat eine Schamkultur: der äußere Anschein, die Würde und die Ehre sind entscheidend und dürfen auf keinen Fall Schaden nehmen. Wir im Westen haben dagegen eine Schuldkultur; der äußere Anschein ist uns weniger wichtig als das eigene Gewissen. Verletzte Ehre und Würde können nicht wieder repariert werden; Schuld hingegen kann man büßen; sie kann vergeben werden, und dann kann man fleckenlos wieder neu anfangen.“
Die Begriffe „shame culture“ und „guilt culture“, die nicht nur jetzt zur Erklärung des japanischen Umgangs mit der Katastrophe, sondern auch sonst in jeder Debatte über Unterschiede zwischen Ost und West, z.B. über „Ehrenmorde“ und Selbstmordattentate, zur Erklärung herangezogen werden, hat die US-amerikanische Anthropologin Ruth Benedict (1887-1948) geprägt.
Benedict veröffentlichte 1946, zwei Jahre vor ihrem Tod, ihre Untersuchung zum japanischen Volkscharakter, „The Chrysanthemum and the Sword“ (dt. "Chrysantheme und Schwert"). Die Studie war nach dem Angriff der Japaner auf den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbor von der amerikanischen Regierung in Auftrag gegeben worden, um dieses damals noch "fremdartigere" Volk zu Kriegszwecken besser verstehen zu lernen. Benedicts Buch wurde nach dem Krieg hauptsächlich von JapanerInnen gelesen und hat ihr Selbstverständnis bis heute geprägt…
Übrigens war Benedict lesbisch und sah sich zeitlebens gezwungen, „das Gesicht zu wahren“. Vielleicht hatte sie deshalb ein so klares Verständnis für eine „Schamkultur“. *
Von unterschiedlichen Kulturen - wie sie hier zum Verständnis unterschiedlicher Verhaltensnormen in Japan und im Westen postuliert werden - hören wir nur selten etwas, wenn es darum geht, wie Frauen und Männer typischerweise Schicksalsschläge verarbeiten.
Frau reagiert eher wie die JapanerInnen, still, gottergeben, duldsam. Ja kein Theater machen, wenn die Schläge prasseln - das könnte ihn ja noch mehr reizen.
Der Mann hingegen wird wütend, rasend, er löscht die ganze Familie aus oder ermordet möglichst viele Klassenkameradinnen, wie Tim K., der Amokläufer von Winnenden, vor zwei Jahren, am 11. März 2009. Oder ganze U-Bahnladungen von Menschen im morgendlichen Berufsverkehr, wie die muslimischen Terroristen in Madrid vor sieben Jahren, am 11. März 2004.
Ja, er hat es in sich, der elfte März. Er zeigt, dass es nicht nur große kulturelle Unterschiede zwischen weit entfernten Kulturen gibt, sondern auch mitten unter uns, auf engstem Raum. Die weibliche Kultur des Duldens und Ertragens und die männliche Kultur des Losbrüllens, Losschlagens und Kaputtmachens.** Sie spielt sich tagtäglich vor unseren Augen ab, aber niemand wundert sich darüber und stellt tiefsinnige Vergleiche an wie jetzt die zwischen Japan und „dem Westen“.
Ja, wo nehmen die JapanerInnen die Kraft her, das alles so tapfer und so diszipliniert zu ertragen? Das fragt sich der Westen.
Ja, wie können Frauen das alles überhaupt ertragen? Das fragt sich kaum einmal ein Mann. Denn die Duldsamkeit der Frauen erscheint ihm praktischerweise nicht als kulturell, sondern genetisch bedingt. Das ist halt die Natur der Frau, so sind die eben, von jeher. Und Mann ist Mann.
In Puccinis Oper „Madama Butterfly“ verdichten sich das östliche und das weibliche Dulden in der Titelfigur Cio-Cio-San, genannt Butterfly, und die westliche und männliche Grausamkeit in der Figur des Leutnants Pinkerton von der US-Navy. Die Oper, eine westliche Männerfantasie über den fernen Osten und die Frau, ist in den USA die meistgespielte Oper. Sie spielt Ende des 19. Jahrhunderts. Damals war Japan noch keine Weltmacht und konnte nach westlicher Auffassung gut in toto durch eine tragische Madame Butterfly symbolisiert werden, der überlegene Westen durch einen charmanten, dominanten und gewissenlosen Mann.
Heute würde Madame Butterfly als Symbol für Japan nicht mehr so recht passen, nicht einmal aus westlich beschränkter Sicht.
Die interessante Gruppe sind hier die japanischen Männer. Sie verhalten sich in der Katastrophe nicht anders als die Frauen: Still, diszipliniert und duldsam. Einige werden zum Heldentum verdonnert und versuchen, den Super-GAU in Fukushima zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern unter Einsatz ihres Lebens.
Aber im übrigen sind natürlich japanische Männer nicht besser als westliche Männer. Während des zweiten Weltkriegs hatten sie ihren Kamikaze-Todesmut, und in ihren Bordellen verbrauchten sie Hunderttausende Koreanerinnen und Chinesinnen als „Trostfrauen“. Auch heute brauchen sie viel Trost und suchen ihn, ähnlich wie europäische Männer, z.B. bei armen Thailänderinnen oder Filipinas, gerne auch armen jungen Thailändern oder Filipinos.***
Offenbar verlieren sie dadurch nicht ihr Gesicht, ihre Schamkultur will hier nicht greifen. Und die europäischen Männer haben keine Gewissensbisse, ihre „Schuldkultur“ funktioniert hier auch nicht so recht.
Was lernen wir daraus? Von Japan können wir viel lernen für einen bewundernswert gefassten Umgang sogar mit Mega-Katastrophen. Allerdings reicht es vielleicht, wenn wir uns die Frauen und ihre weibliche „Anstands-Kultur“, wie ich sie mal nennen möchte, zum Vorbild nehmen, in Japan, im Westen und überall. Frauen sind nicht nur bewundernswert gefasst und tapfer. Sie sind auch keine Sextouristen, begehen keine „Ehrenmorde“ oder Sexualverbrechen, und Amokläufe sind ihnen fremd. ••••••••••••• *Vgl. den Aufsatz über Ruth Benedict und Margaret Mead in Joey Horsley & Luise F. Pusch. Hg. 2010. Frauengeschichten: Berühmte Frauen und ihre Freundinnen. Göttingen. Wallstein.
**Eine US-Studie über den "Punchingball Frau" ergab, dass zehn Mal mehr Notrufe wegen häuslicher Gewalt gegen Frauen bei den lokalen Behörden eingehen, wenn bei Football-Spielen eine Heimmannschaft wider Erwarten verliert. Mehr hier.
*** Vgl. Sheila Jeffreys. 2008. The Industrial Vagina: The political economy of the global sex trade.
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20 Kommentare
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20.03.2011 um 14:38 Uhr Flo
” Frauen sind nicht nur bewundernswert gefasst und tapfer. Sie sind auch keine Sextouristen, begehen keine „Ehrenmorde“ oder Sexualverbrechen, und Amokläufe sind ihnen fremd”
Sorry aber ich habe ernsthaft selten so gelacht im Leben? Ist das Realsatire?
Es gibt weibliche Sextoristinnen, es gibt weibliche Amokläuferinnen und es gibt auch Frauen die Kinder und andere Frauen, selten Männer mißbrauchen und vergewaltigen.
20.03.2011 um 14:33 Uhr Flo
” Oder ganze U-Bahnladungen von Menschen im morgendlichen Berufsverkehr, wie die muslimischen Terroristen in Madrid vor sieben Jahren, am 11. März 2004”
Oder ganze Fluzeuge, wie die TschtschnInnen damals in Russland.
Was will uns diese Autorin hier sagen. Sie sollte mal die rosarote Brille abnehmen
20.03.2011 um 14:32 Uhr Flo
” Frau reagiert eher wie die JapanerInnen, still, gottergeben, duldsam”
“Der Mann hingegen wird wütend, rasend, er löscht die ganze Familie aus oder ermordet möglichst viele Klassenkameradinnen, wie Tim K., der Amokläufer von Winnenden, vor zwei Jahren, am 11. März 2009”
Achso…die Amokläuferin aus Lörach war in wirklichkeit ein Mann…
20.03.2011 um 14:19 Uhr Evelyn
Achtung Berlin und Großraum Berlin:
Japanhilfe von Frauen initiiert - aktuell von der Redaktion AVIVA - jüdisch, feministisch und kulturell-politisch. Ihr Aufruf: Warme Kleidung sofort in die AVIVA-Redaktion
*Japan – ein Eindruck aus Tokio vom 17. März 2011 von Emi Ono
und JAPAN - WARME KLEIDUNG-AVIVA-AKTION*
http://www.aviva-berlin.de/aviva/content_Women + Work_WorldWideWomen.php?id=14300108
“Für jede Hilfe sind wir dankbar! In der Redaktion stehen seit unserer
Initiative und Aufruf von gestern vormittag bereits fünf große
Ikea-Kartons mit warmer Kleidung, hauptsächlich für Kinder.
Sprechen werden wir morgen mit der Japanischen Botschaft, dem AA und der
Deutschen Post (Sponsoring Pakete, Porto).”
schreibt soeben Sharon
Sharon Adler, Chefredakteurin von AVIVA.