Integration, Macht und Schluckbeschwerden
Vorbemerkung: Diese Glosse schrieb ich im November 2006 im Auftrag einer Schweizer Frauenorganisation, die sich um die Integration von Vertriebenen kümmert. Heute ist das Thema noch weit aktueller als damals. Deshalb veröffentliche ich den Text hier noch einmal. Er erschien zuerst in meinem Buch Die Eier des Staatsoberhaupts und andere Glossen, (Wallstein Verlag Göttingen, S. 97-99)
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"Heute morgen habe ich erst ein leckeres Frühstück und danach meine Blutdruckpille in mich integriert." Nein, so sagen wir das nicht: Das Frühstück habe ich gegessen oder mir einverleibt, die Pille geschluckt.
Dennoch: Da laut Duden "Integration" u.a. die "Eingliederung in ein größeres Ganzes" bedeutet, habe ich sicher sowohl mein Frühstück als auch die Pille in das größere Ganze namens Luise integriert. Ich selbst habe mich bei diesem Prozess kaum verändert, wohl aber Frühstück und Pille, und zwar bis zur Unkenntlichkeit.
Zu der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach 1989 sagten viele enttäuschte Ossis, die BRD hätte die DDR geschluckt. Zumindest was den Namen betrifft, haben sie recht: Das neue "integrierte" Gebilde heisst wie der mächtigere der beiden vorigen Teilstaaten: BRD.
Integration ist oft nur ein Geschlucktwerden des Kleineren durch das Größere. Aber "Integration" klingt abstrakter und friedlicher. Je nach Grösse und Zusammensetzung kann das Geschluckte dem Grösseren Schluck- oder Magenbeschwerden verursachen. Manchmal überfrisst sich das Grössere und erholt sich nicht wieder. Fortlaufend geschieht dies zum Schaden aller in der Wirtschaft – ein Musterbeispiel war ENRON.
Musterbeispiele im Sinne des Schluck-Modells der Integration sind auch das traditionelle Eherecht und die traditionelle Männersprache: In der Ehe nach altem Recht wurden Mann und Frau "eine Person" – und diese Person war der Mann: Im 19. Jahrhundert wurde die Frau durch die Ehe zum Besitz des Mannes; sie "schenkte" ihm Kinder, die rechtlich ebenfalls ihm gehörten. Die Sprache machte dies noch einmal deutlich: Unter dem Namen des Eheherrn wurden alle Familienmitglieder zu einem Ganzen zusammengefasst, integriert.
Und eine Gruppe von Frauen wurde symbolisch zu einer Männergruppe, sowie ein einziger Mann hinzukam. Sie kennen das oft zitierte Beispiel: "99 Schweizerinnen und ein Schweizer sind zusammen 100 Schweizer". Gegen diese Art von Integration protestieren Frauen weltweit seit Jahrzehnten und bestehen auf Differenzierung statt Schluck-Integration.
Angesichts wachsender Zahlen von Schutzsuchenden wird die Frage "Welches Modell können wir dem Schluckmodell entgegensetzen?" immer dringlicher. Naheliegende Antwort: Nicht Gleichschaltung, sondern Lob der Vielfalt. Vielfalt ist Reichtum, ist normal und willkommen.
Ein berühmtes Schweizer Buch aus den siebziger Jahren beginnt mit dem Satz: "Ich bin jung, reich und gebildet - und ich bin unglücklich, krank und allein." (Fritz Zorn, Mars). Der Autor gehört also nicht nur der Gruppe der Bevorzugten, sondern gleichzeitig der Gruppe der Benachteiligten an. Ich habe diesen Satz nie vergessen und verwende ihn in Diskussionen über die Ungerechtigkeit der Welt gern als Beispiel.
Wir alle haben so viele Eigenschaften. Und mit jeder dieser Eigenschaften gehören wir einer Gruppe von Menschen mit denselben Eigenschaften an. Die Zugewanderten mögen eine andere Sprache sprechen als ich, aber viele sind ältere Menschen wie ich, sind Frauen, Mieterinnen, Übergewichtige, Feministinnen, Nichtmotorisierte, Musikliebhaberinnen wie ich. Oder sie sind Männer, jung, magenkrank, untergewichtig, alleinstehend, arbeitslos, fußballbesessen, Hip-Hop-Fans und Schachspieler wie du. Durch diese Vielfalt von Eigenschaften, die wir mit vielen oder allen (z.B. das Menschsein, die Verletzlich- und die Sterblichkeit) anderen teilen, sind wir alle bereits völlig und bestens vernetzt und integriert, wir müssen es uns nur viel eindringlicher bewusst machen.
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6 Kommentare
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11.11.2015 um 18:10 Uhr Amy
Für etliche lautet/e aber auch die Botschaft : Ein Mädchen, auf gar keinen Fall : Es gibt sie nicht nur in China oder Indien - auch in Europa nimmt die Abtreibung weiblicher Embryos deutlich zu. Doch hier wird diese Menschenrechtsverletzung totgeschwiegen. (Noch 6 Tage verfügbar) http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=55226
11.11.2015 um 15:12 Uhr Gudrun Nositschka
Die jetzige Bundesrepublik ist durch den Beitritt der letzten Regierung der DDR, die als einzige aus freien Wahlen hervorgegangen und somit zu diesem Schritt legitimiert war, entstanden. Diese Option war lt. GG möglich und wurde nach aufwändigen Verhandlungen in die Tat umgesetzt. Die DDR ist also nicht geschluckt worden.
Zu den Begriffen Zeugung und Empfängnis - sie sind beide nicht korrekt - und zwar aus Unkenntis über die Bedeutung der Gebärmutter und der Eizelle, die erst seit einigen Jahren bekannt ist. Quelle: Fernsehen WDR 3 “Fruchtbar um jeden Preis?” Fazit: Nach dem Transport, dem Aussortieren und der Nachreifung der Spermien durch die Kontraktionen der Gebärmutter auf der Seite, wo die Eizelle durch den Eileiter herannaht,sendet die Eizelle eine chemische Botschaft aus, um auf den letzten Millimetern das Spermium in Schwung zu bringen, dass am besten zu ihrem Erbgut passt, sprich möglichst nicht mit ihrem zu eng verwandt ist. Wenn dieses Spermium bei ihr “anklopft” schnappt die wensentlich größere Eizelle zu und verschluckt es. Beim Einnisten in die Gebärmutter hat diese dann das letzte Wort. Wir alle sind das Ergebnis ihrer Prüfung.
10.11.2015 um 17:08 Uhr Amy
@ Lena Vandrey
Auch grausam die Zeit (die gar nicht so lange zurückliegt) , als es hieß, die deutsche Frau sollte dem `Führer` Kinder `schenken. Für `Art und Rasse` sollte jeder SS-Mann mindestens vier Kinder zeugen.
Die wenigsten `Kinder` scheinen `gewaltlos` geplant und zur Welt gekommen zu sein? Ùnd das bis in die Gegenwart hinein. Wenn Männer die Kinder bekommen würden, hätten wir sicherlich auch keine Überbevölkerung. Dafür haben sie aber Frauen auch in der Ehe mit `VerGEWALTigungen` bedroht - ein hässliches Geschenk.
Zitat: Vor 2000 Jahren trat in Rom die Lex Papia Poppaea in Kraft; das Gesetz besagte nichts anderes als den Zwang zum Kinderkriegen: Wer als Frau zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr und als Mann zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr nicht mindestens drei Kinder hatte, der verlor die Hälfte seines Erbanspruchs. Wer allerdings der Pflicht, dem Staat Kinder zu schenken, brav nachkam, durfte mit Privilegien rechnen. Das Gesetz verdankt seinen Namen übrigens den beiden Konsuln M. Papius Mutilus und Q. Poppaeus Secundus, die allerdings keine Vorbilder hinsichtlich der Rechtsnorm waren: Beide waren nicht verheiratet und hatten auch keine Kinder, entsprachen also in keiner Weise dem von August postulierten Ideal des Familienvaters.”
http://www.volker-koop.de/index.php/dem-fuehrer-ein-kind-schenken-sp-621499268
10.11.2015 um 14:45 Uhr Lena Vandrey
Die Frau SCHENKT dem Mann die Kinder! Es gibt aber auch das Gegenteil, nämlich, dass der Mann der Frau die Kinder SCHENKT. Der Zeugungsakt also bedeutender als die Gestation und das Gebären! Millionen von Männern denken so. Der Mann gibt, die Frau empfängt! Leider denken auch Frauen so. Meine Mutter SCHENKTE mich meiner Verflossenen und somit wurde ich “ein Teil meiner selbst”, sagte die Beschenkte. Fatal!
Menschen zu “verschenken” müsste ausdrücklich untersagt werden. Vergewaltigung als Schenkungs-Akt, da haben wir es doch!
09.11.2015 um 13:19 Uhr anne
ja, vielfalt ist wichtig und belebend - vielfalt zu leben, bedeutet demokratie-/verständnis.
aber darüber hinaus dürfen wir nicht die augen verschließen vor den vielen ungerechtigkeiten , verbrechen , die im namen der religiosität sich vervielfältigen.
unter integration verstehe ich auch, sich mit den lebens-gesellschafts-verhältnissen in den ländern vertraut zu machen, die ich als schutzsuchende bewusst aufsuche und dort ein stück freiheit, bessere lebensqualität erhoffe.
das vor allem für die weibl. menschen, die sich aus der umklammerung der patr. gestrickten vorgaben ihrer familien-clans befreien wollen oder könnten, wenn mann sie lassen würde.
leider erleben wir aber auch eine parallelgesellschaft , denn zuwanderung ist nichts neues; sie beschäftigt uns seit jahrzehnten.
ob häusliche gewalt, sog. `schwestermorde`, geschlechtsspezifische gewalt an frauen, zwangs-ehen, weibl. genitalverstümmelung, burka-kopftuch-schleier-zwang; burkini anstatt badeanzug, religions-zwang etc. - all das betrifft sowohl frauen, mädchen und ich kann etliches nicht unter dem begriff positive vielfalt einordnen.
das sind geschehnisse, die sich vor unserer haustür und weltweit in einer hohen dimension abspielen. es sind weibliche menschen, die auch heute noch durch vielfältige `eigenschaften` des patriarchats geschluckt werden ...
deshalb ist es auch unsere aufgabe, aufzuklären , negative vielfalt sichtbar zu machen und unbeschadet kritik äußern zu können, ohne gleich `verteufelt` zu werden. und ich mache mir schon gedanken darüber, wenn ad hoc hunderttausende und weitaus mehr menschen (überwiegend männl. menschen) aus ländern hier zuflucht suchen , welches interesse sie an unserer gesellschaft, an unserem lebensstil haben; wie politisch sind sie überhaupt? sie könnten also viel lernen aus unserer geschichte, kultur, lebensweise und wir aus ihrer? und wir haben es geschafft, uns sogar mit unseren religiösen vorgaben kritisch auseinandersetzen zu können. denn auch ist nicht frei davon, menschen zu verschlucken , macht zu inszenieren, die viel unglück über menschen gebracht hat.
zu der rede von Navid Kermani , worauf Gertrudis verweist, möchte ich einen artikel von Necla Kelec (frauenrechtlerin, islamkritikerin)
beifügen - sie ist als frau göttinseidank auch kritisch, so wie Ayan Hirsi Ali oder Salman Rushdie und viele, viele andere :
“lassen sie uns über den islam streiten” .
Zitiert: ... “Kermani geht davon aus, dass der Koran zu schön, zu wirklich, zu kunstvoll sei, um nicht göttlich zu sein. Mohammed ist für ihn keine historische Figur, die kritisch hinterfragt werden sollte.
Aber der Prophet, der in Medina Kriegsherr und Staatsführer war, lehrte nicht nur Liebe, sondern erwartete Unterwerfung und Hingabe. Darin zeigt sich der allgemeine Charakter dieser Religion allzu deutlich. Über das gewalttätige Selbstverständnis dieser Religion müssen wir sprechen und auch den Koran kritisch hinterfragen und ihn nicht nur auf literarische und ästhetische Qualität prüfen.
Ich stimme mit ihm nicht überein, wenn er .... bekannte: `Und Glaube ist streng genommen sogar die Auslöschung des Ichs… Auslöschung des Ichs klingt nach Faschismus . Dabei geht es genau darum: Dass unsere Individualität reicher wird , wenn wir sie ins Allgemeine wenden und das eigene kleine Ich hintanstellen.`
Redet er hier dem Kollektivismus , im Islam hat man dafür einen Begriff Umma das Wort? Das wäre tatsächlich im klassischen Sinne reaktionär.
Ich sage, der Islam ist, wie er von den Muslimen gelebt wird, und nicht, was in ihm gelesen und vermutet wird…. Und ich nehme an, weil Kermani den Horror und Terror des gelebten Islam nicht mit seinem Wissen über ihn in Übereinstimmung bringen kann, flüchtet er in eine Art überkonfessioneller Ästhetik.
Kermani redet dem Leitbild einer religiösen Gemeinschaft und nicht der säkularen Gesellschaft das Wort. Und dieser Eifer verleitet diesen vorsichtigen Mann zum Übergriff. Das zeigte sich, als er die Anwesenden am Ende seiner Rede zum Gebet aufforderte. Die NICHTGLÄUBIGEN dürften auch stehend hoffen, sagte er.
Das ging mir zu weit. Religion kann man nicht , wie Kermani es gemacht hat, entpolitisieren , um dann den Ritus des Gebets in der Paulskirche, die wie kein anderer Ort für die säkulare Tradition unserer Demokratie steht, politisch instrumentalisiert werden . Meiner Meinung nach kann sich der Islamische Staat genauso auf den Koran berufen, wie Kermani ihn zur Botschaft der Liebe macht. Solange wir ihn nicht kritisch lesen, die Gewalt ächten, bleibt die Offenbarung ambivalent. Kermani setzt nur auf die Liebe als Kern der Religion . Das ist eine These, die ich mit ihm und anderen Muslimen gern streiten würde.”
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147877484/Lassen-Sie-uns-ueber-den-Islam-streiten.html
08.11.2015 um 23:33 Uhr Gertrudis
Liebe Luise Pusch,
wie üblich gefällt mir Ihr Text und amüsiert mich.
Als Linguistin und Kulturinteressierter schicke ich Ihnen diesen Link über die Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels an Nawid Kermani. Vielleicht freut und bereichert Sie seine geistreiche und informative Rede (ab der 45.Minute meine ich), so wie mich.
http://www.zdf.de/ZDFmediathek#/beitrag/video/2514026/Friedenspreis-2015-für-Navid-Kermani
Sicherlich erhalten Sie viele Links und Anregungen, ich versende nur sehr wenige.
Milde Novembertage wünscht Ihnen
eine bewundernde Studentin Ihrer Werke und manchmal Sprachkreative
Gertrudis Krieger