Herr Koma kommt: Der Frauenmord in Winnenden
Stellen Sie sich vor, ein junger Deutscher erschießt an einer deutschen Schule elf Menschen, zehn davon “mit Migrationshintergrund”, sieben weitere MigrantInnen schießt er krankenhausreif.
Oder: In den USA stürmt ein Weißer in die Schule und erschießt zehn Schwarze und einen Weißen. Weitere sieben Schwarze schießt er krankenhausreif.
Glauben Sie, über das Motiv der Taten hätten Deutschland oder die USA auch nur eine Minute lang gerätselt?
Nein - zu Recht wäre extremer Fremden- bzw. Rassenhass vermutet worden, von den Medien, den Behörden, der Bevölkerung und der Polizei.
Der Massenmörder von Winnenden hat an der Schule acht Schülerinnen und einen Schüler erschossen, sieben weitere Schülerinnen hat er krankenhausreif geschossen. Aber alle reden nur von den getöteten oder verletzten Schülern. Tim Kretschmer hat auch drei Lehrerinnen ermordet. Die wurden auch immer korrekt als Lehrerinnen bezeichnet. Wäre ein Lehrer dabei gewesen, hätten wir gehört, der Täter habe neun Schüler und drei Lehrer getötet.
Streng eingehalten werden die Regeln der deutschen Männersprache: Ein einziges männliches Wesen macht jede noch so große Gruppe von Frauen und Mädchen zu einer männlichen Gruppe. Acht Schülerinnen und ein Schüler sind zusammen neun Schüler. (Die Schülerinnen wurden auch nicht ermordet, sondern nur getötet.) Über den Massenmord in Erfurt heißt es in Wikipedia (16.3.2009): "...erschoss der 19-jährige Robert Steinhäuser zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten." Tatsächlich erschoss Steinhäuser nicht nur eine Frau: Zehn seiner sechzehn Opfer waren Frauen: acht Lehrerinnen, eine Schülerin, eine Sekretärin.
Die Sprachregelung hilft mit, das Offenkundige nicht wahrzunehmen zu müssen: Alle sind vollkommen ratlos und fassungslos, es fehlen ihnen die Worte. Die Frage nach dem Warum treibt alle um, auch heute noch, zwei Tage nach dem Frauenmord. Und da werden besonders gern Johannes Raus Worte zum Massenmord in Erfurt zitiert: “Wir sollten uns eingestehen: Wir verstehen diese Tat nicht. Wir werden sie - letzten Endes - auch nie völlig erklären können.”
Was ist denn daran so schwer zu verstehen? Ist nicht Gewalt von Männern gegen Frauen, bis hin zum Mord, alltäglich bei uns und weltweit?
Manche, aber viel zu wenige Männer, ein paar Sozialpsychologen und Männerforscher, haben schon etwas begriffen von dem, was Feministinnen seit Jahrzehnten umtreibt: Es gehört zur männlichen Identität, Frauen zu dominieren, sich ihnen überlegen zu fühlen. Frauen, die Männern die Stirn bieten (z.B. Feministinnen), Mädchen, die Jungen zurückweisen und/oder überflügeln (z.B. in der Schule), Frauen und Mädchen also, die die männliche Hegemonie in Frage stellen und das zarte männliche Ego verletzen, gehören bestraft. Nur so kann die Geschlechterhierarchie wiederhergestellt und die beschädigte männliche Identität repariert werden - im Extremfall durch den Tod.
Der Frauen- und Mädchenhass des Tim Kretschmer drückt sich deutlich in seiner Tat aus. Er hat nicht “wild um sich geschossen”, wie die Medien immer wieder berichteten, er hat seine weiblichen Opfer gezielt mit Kopfschuss ermordet.
Für mich fast noch erschütternder als der Massenmord ist die völlige Blindheit all derjenigen, die über ihn berichten und über die Natur dieser Tat und ihr Motiv rätseln. Als läge das Motiv nicht klar auf der Hand: Frauenhass, Männlichkeitswahn.
Erschütternd deshalb, weil damit die nächsten Massenmorde programmiert sind, denn eine vernünftige Prävention setzt zuallererst eine korrekte Analyse des Tatmotivs voraus. Eine solche Analyse findet nicht statt, es wird rumgenebelt in einem unfassbaren Ausmaß.
Oder eben auch wieder nicht unfassbar, sondern vorhersagbar. Aber ich hätte doch gedacht, nach über 40 Jahren Frauenbewegung wären die Zuständigen und die Öffentlichkeit schon etwas weiter, aufgeklärter.
Aber in den Medien war wieder mal Alice Schwarzer die einzige, die den Mord und sein Motiv auf den Punkt brachte - auf einen Punkt übrigens, den sie seit dem Mord an Angelika B. in Köln 1991 immer wieder betont: Frauenhass ist ein Politikum wie Fremdenhass und gehört genau so streng geahndet, ja strenger, ist Frauenhass doch viel weiter verbreitet. Er ist, wie gesagt, völlig alltäglich. Hier geht's zum Schwarzer-Artikel.
Eines wird durchaus zugegeben, es lässt sich ja auch nicht verheimlichen: Dass die Amokläufer alle männlich sind. Und mit diesem widerwilligen Eingeständnis hat es sich dann aber auch schon. Da wird nie weitergefragt: Wieso denn nur Jungen und Männer? Was machen wir falsch bei der Erziehung von Jungen, was uns bei Mädchen anscheinend mühelos gelingt? Was können Jungen von Mädchen lernen?
Eben. Das ist der Punkt. Jungen sollen und wollen von Mädchen nichts lernen. Das wäre nämlich unter ihrer Würde. Sie würden dadurch ja - zu Mädchen, es bestünde jedenfalls die Gefahr. Und nichts ist in unserer Herrenkultur schrecklicher für einen Jungen.
Aus den so abgerichteten Jungen werden unsere Männer - die, die wir zu Hause haben und die in Politik, Medien und Wirtschaft. Sie haben kein Interesse und wohl auch nur selten das Rüstzeug, dem wahren Motiv dieses Verbrechens und all der anderen alltäglichen Männerverbrechen an Frauen auf den Grund zu gehen. Hier kommt ein wenig Nachhilfe von Rolf Pohl, Sozialpsychologe an der Uni Hannover:
Zur männlichen Identität gehört das unbewusste Bedürfnis, sich aufzuwerten, indem Frauen abgewertet werden. Sich als einzelner Mann von dieser Konstruktion abzugrenzen ist sehr schwer. Die Ambivalenz gegenüber Frauen prägt sich dem kleinen Jungen ein - und erfährt immer wieder Nachprägungen. Interviewer: Die Abwertung von Frauen gehört fest zur männlichen Identität? Wenn man sich anschaut, was in unserer Gesellschaft als männlich gilt, dann finden sich immer wieder zwei dominante Merkmale: zum einen eine Hierarchie innerhalb der Männergruppe - Status- und Rangkämpfe sind für eine männliche Identität sehr wichtig. Und zum anderen die Abgrenzung zur Weiblichkeit, die alle Männer in ihrer Überlegenheit miteinander vereint.
Auf RTL gab der Psychologe Gebert heute früh zum besten, was er für den Grund hält, dass Tim Kretschmer gezielt Frauen und Mädchen ermordet und angeschossen hat: Nein, sagte er, das sei wohl nicht gezielt gewesen. "Jungs werfen sich blitzschnell untern Tisch, während Frauen zur Salzsäule erstarren und nicht wissen, was sie machen sollen." Selber schuld, die dummen Frauen.
So lange die Mehrheit auf diesem Niveau der Reflexion verharrt, werden Männer weiter Gewalt ausüben, gegeneinander, vor allem aber gegen Frauen.
Aber schuld daran ist niemand, es ist und bleibt ein Rätsel, und wir sind alle fassungs-, rat- und sprachlos.
Oder noch besser, wie oben: Die Frauen sind schuld. Wie hieß doch der vereinbarte Code-Spruch zur Ankündigung des Grauens: "Frau Koma kommt!"
(Dank an Brigitta Huhnke für einen hilfreichen Email-Austausch und die Hinweise auf den Pohl-Artikel und das RTL-Interview mit Gebert. Dank an Evelyn Thriene für den Hinweis auf den Artikel von Alice Schwarzer.)
Über das Thema Jungengewalt und ihre gängige sprachliche Verunklarung als "Jugendgewalt" habe ich schon vor einem Jahr eine Glosse geschrieben: "Busch, Beauvoir und böse Buben". Sie finden sie hier.
Inzwischen (16.3.09) hat die Medienwissenschaftlerin Dr. Brigitta Huhnke die ersten fünf Tage der Berichterstattung zum Mädchen- und Frauenmord in Winnenden analysiert: Ihren Artikel "Fünf Tage MedienGAU: Der Mädchen- und Frauenmord in Winnenden" finden Sie hier.
Der zweite Teil ihrer Untersuchung ist nun auch online: Ein Interview mit dem Pornografieforscher und Kommunikationswissenschaftler Robert Jensen, betitelt: "Am Ende angekommen: Pornografie und männliche Normalität". Jensen appelliert an seine Geschlechtsgenossen, angesichts zunehmender profitgetriebener und verrohender Pornografisierung der Kultur ihre Humanität einzuklagen und zu verteidigen.
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72 Kommentare
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14.03.2009 um 00:47 Uhr Papierschiff
aber schert man damit nicht alle männer ziemlich über einen kamm? woran liegt das? doch nicht daran, dass männer von natur aus böse was auch immer sind. und wer trägt dann daran die schuld?
und wenn 50% der welt (die frauen) nicht gegen all den mist wehren, die männer verzapfen, tragen dann denn nicht auch alle menschen diesen msit mit?
ich weiß nicht warum sie hinaus wollen, aber.. es klingt wirlich so, als würde nsie daran glauben ,dass das böse im manne steckt und sie diesen ausrotten wollen. ich slbst hab damit klein problem, aber es erscheint mir als eine sehr kranke vorstellung die welt in gut und böse, in frau und mann zu unterteilen.
ihre letzte frage finde ich sehr seltsam. das gesetz sollte es tun und die gesellschaft sollte es schaffen das sowas so selten wie nötig vorkommen muss.
das papierschiff
14.03.2009 um 00:21 Uhr Duerr
Ach, Herr Papierschiff,
Welche Sorte Mensch macht die “Werte”, die gelten und setzt sie durch, meist mit Gewalt?
Welche Sorte Mensch hat die Religionen geschaffen, die die Machterhaltung durch Morden, Kriege und den Femizid der Hexenverfolgung inkl. ökonomische Macht seit 2000 Jahren samt den “wunderbaren” Werten durchsetzt?
Welche Sorte Mensch nimmt den Frauen und Kindern wertvollste Ressourcen weg, nur um eine Maschinerie aufzubauen, die wiederum zu 90 % Frauen und Kinder tötet? (Ich meine das Militär - damit Sie nicht wieder verdrängen können!)
Welche Sorte Mensch regierte die Welt seit 5000 Jahren?
Welche Sorte Mensch sitzt wegen Gewaltverbrechen zu 97% - 98% in Strafvollzugsanstalten?
Ich geben Ihnen Recht, wenn Sie mir die folgende Frage beantworten können: Wer beschützt die Frauen und Kinder vor ihren Beschützern?
13.03.2009 um 23:44 Uhr Ricky D.
Ich kann nur sagen:
DANKE FRAU PUSCH -> sie haben mir, und jedem normaldenkenden Menschen aus dem Herzen gesprochen!
13.03.2009 um 22:57 Uhr papierschiff
aber es kommt so rüber, als würde es nur einen feind geben, den bösen mann. es wird oft verallgemeinert und mit billigen argumenten “argumentiert”.
dieser artikel mag zwar als gegenpol seine berechtigung haben, hat aber wie schonmal gesagt, für mich dann nicht mehr wert als ein bild-zeitungs-artikel.
nur ein paar punkte die ich kritisiere:
-ohne näheres zu wissen wird auf ein motiv geschlossen. vorallem ist von einem allgemeinen frauenhass die rede.
-es wird von einer tat auf alle männer geschlossen, bzw. damit der ganze frauenhass aller männer “bestätigt”..
-man kommt mit “rtl-experten” und regt sich darüber auf..
-es wird die frage nach dem warum gestellt, sogar die erziehung angesprochen.. das 90% der “erzieher” / lehrer frauen sind wird übersehen.. (was nicht heist das sie daran schuld sind, aber es ist definitiv nicht hilfreich)
-alle amokläufer sind männlich.. quatsch, sind sie nicht. aber viele… die selbstmordrate von männern ist auch höher als die von frauen und warum?
-die nächsten massenmorde sind vorprogrammiert.. was ist das den für eine polemik?
-“Jungen sollen und wollen von Mädchen nichts lernen. Das wäre nämlich unter ihrer Würde.” da kann man gar nicht genug kotzen wie man müsste..
kommt doch mal aus eurem weltbild raus… wir brauchen mehr menschlichkeit, weniger weiteren blinden hass… man könnte denken ihr gehört einer religion an… der feminismus kann aber doch nicht dazu dienen mehr hass zu erzeugen. weniger ideologie, mehr menschlichkeit und nicht eine andere geschlechterverachtende gesellschaft. weg damit, weg mit den geschlechtern, hin zu “wir sind menschen”.
13.03.2009 um 22:36 Uhr Joey Horsley
Es scheint, “das Papierschiff” hat diese Glosse gar nicht gelesen. Denn sie “malt eine Welt”, die es leider doch gibt, aber nicht eine, wie Papierschiff sie darstellt. Luise Pusch behauptet gar nicht, wie Papierschiff unterstellt, dass “die bösen männer schon als kleine killer auf die welt kommen,” sondern, dass die gängige Männlichkeitsideologie sie dazu hinleiten kann. Jedenfalls lernen sie, Frauen und Mädchen zu dominieren, mit oder ohne Gewalt. Und Pusch erkennt durchaus, dass die “so abgerichteten Jungen” auch “Opfer” sind.
Ein aktuelles Beispiel aus Amerika für die allgemeine Unwilligkeit, Gewalt gegen Frauen zu erkennen und zu verurteilen war heute (13.3.2009) im Boston Globe zu lesen: als Popsänger Chris Brown seine Freundin, Popsängerin Rihanna, krankenhausreif zusammenschlug, meinten fast 50% aller befragten TeenagerInnen, sie sei daran schuld.
http://www.boston.com/news/local/massachusetts/articles/2009/03/13/many_boston_teens_surveyed_say_rihanna_is_at_fault_for_assault/
13.03.2009 um 20:17 Uhr Anne
Danke, liebe Luise, daß endlich mal nicht - wie überall in den Medien - um den heissen Brei herumgeredet wird.
Bei der Gelegenheit - ich finde es überhaupt abstossend, daß gerade junge Männer großen Gefallen an Gewaltdarstellungen empfinden - ob in entspr. Computer-Videospielen, in div. Filmen/DVD`s oder auch i.d. Musikszene, bis sie gänzlich abgestumpft sind.
Frau muss nur mal eine Videothek besuchen - erschreckend ist das große Potenzial an Gewalt- und Horrorfilmen. Ständig werden hier Gewaltszenarien vorgelebt - Opfer sind überwiegend Mädchen/Frauen, die entweder vergewaltigt, gejagt oder ermordet werden. Frau könnte auf die Idee kommen, daß die `Macher`(meistens Männer) hier ihre Frauenfeindlichkeit zum Besten geben - Botschaften , die Überlegenheit und Vormachtstellung gegenüber dem weiblichen Geschlecht dokumentieren sollen?
Gleiches gilt für die Pornographie, Kinderpornographie- eine Menschenrechtsverletzung.
Unverständlich ist mir auch, wie der Vater von Tim in seinem Haus ein derartiges Waffenlager mit 4.ooo Schuss Munition besitzt. Braucht mann das, um sich wohler, sicherer, dominanter zu fühlen - um mit Waffen männliche Macht und Stärke zu demonstrieren? Der Vater scheint mir keine positive Identifationsfigur für seinen Sohn gewesen zu sein.
Warum können Jungen nicht von Mädchen lernen, ohne fürchten zu müssen, in ihrer “Jungen-Männerwelt” mit den tradit. Strukturen v. Herrschaft, Autorität, Kontrolle als `Versager, Opfer` verlacht und ausgeschlossen zu werden?
Es scheint den VÄTERN nicht zu gefallen, deshalb wird wie üblich die Schuld bei den Frauen gesucht. Einerseits werden Verbrechen und Gewalt bekämpft, andererseits wird männliche Gewalt in der Medienwelt als Nervenkitzel zur Unterhaltung bis zum Erbrechen und bis zum Koma vorgelebt.
13.03.2009 um 20:01 Uhr Duerr
Liebe Luise,
diese Glosse - nein: Artikel - werde ich einem “Sexualpsychologen” senden, der heute Nachmittag zum Thema Kinderpornografie von “fehlgeleiteten Menschen und Personen” schwadroniert hat, und den ich darauf aufmerksam machte, dass das zu über 90 % MÄNNER sind. Meine Grundfrage lautete: Was ist das für ein Tabu, welches das Wort MÄNNERGEWALT umgibt. Wer schafft es und wer hütet es?
Sie wissen es alle! ALLE, ohne Ausnahme! Und die Folge der Abwertung von Frauen und Kindern erfahren wir in diesen Tagen gleich Dutzendweise!
Ich werde Deine Glosse auch im Lehrerzimmer aufhängen. Mal sehen, wie lange die Herren diese konstruktive Subversion verkraften!
13.03.2009 um 19:36 Uhr Papierschoff
“spalten statt versöhnen” oder? hier wird eine welt gemalt, die es so nicht gibt. als würden die bösen männer schon als kleine killer auf die welt kommen, die nur darauf aus sind frauen umzubringen oder zu verachten.
wer erzieht denn die kleinen sprösslinge? und wenn das motiv des killers wirklich war frauen zu töten, warum nur? und ist er dann nicht eigentlich eher opfer als täter, weil die welt ihn zu diesen frauenbild geformt hat?
ich finden den text jedenfalls sehr eklig und ist nicht besser als die bild-zeitung.. und am ende auch noch mit dem rtl-psychologen zu kommen, ich bitte sie.
lg
das papierschiff