Heidi und Klara im Heu
(zum 180. Geburtstag Johanna Spyris am 12. Juni 2007)
Vor einiger Zeit habe ich - nach vielen Jahrzehnten - noch einmal beide Heidi-Bände gelesen, Heidis Lehr- und Wanderjahre und Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Und ich muß sagen, auch ich konnte brauchen, was ich inzwischen gelernt hatte und kam zu überraschenden Einsichten, die ich dem Publikum nicht vorenthalten möchte.
Im ersten Band erfahren wir, wie das fünfjährige Waisenkind Heidi zu seinem menschenscheuen Großvater auf die Alm kommt und ihn um- und umkrempelt; wie es Freundschaft schließt mit dem Geißenpeter und seiner blinden Großmutter; und wie es dieser Idylle entrissen und nach Frankfurt versetzt wird in die Familie des verwitweten reichen Kaufmanns Sesemann, dessen gelähmte Tochter Klara sich eine Gespielin wünscht. Im Hause Sesemann regiert das Fräulein Rottenmeier und macht dem Heidi das Leben so schwer, daß es schließlich vor Sehnsucht - nach der Heimat, so wird vermutet - mondsüchtig wird. Klaras Arzt verordnet, daß das Heidi wieder zurückmuß in seine Schweizer Berge, nur dort könne es gesund werden.
Weshalb Klara gelähmt ist und weshalb ihr der Doktor bisher nicht helfen konnte, erfahren wir nicht. Aber im zweiten Band kommt Klara zu Heidi und dem Großvater auf die Alm, hochgetragen von zwei kräftigen Männern. Den Rückweg vier Wochen später kann sie fast zu Fuß antreten. Sie ist geheilt.
Die Heidi-Legende der Schweizer Tourismusbranche betont, daß Klara ihre Heilung der reinen kräftigen Bergluft und der guten Milch der Geiß Schwänli verdankt, die der Großvater immer mit extra heilkräftigen Alpenkräutern gefüttert hat. Klara ist zu Kräften gekommen und kann nun auf eigenen Füßen stehen. Diese Version läßt sich zwar aus Spyris Text auch herauslesen, aber sie ist doch wohl mehr als unglaubwürdig. Eigentlich meinte Spyri (die auch mal heftig um die spröde Betsy Meyer warb) ja auch ganz was anderes, aber das konnte sie nur indirekt mitteilen und verpackte es in der Mär von der heilkräftigen Bergluft.
Es ist wohl klar, daß die arme Klara eine der vielen Hysterikerinnen war, die das 19. Jahrhundert bevölkerten. Hysterie hat mit frustrierter Sexualität zu tun. In Frankfurt schlafen Heidi und Klara in getrennten Zimmern, tagsüber immer unter Aufsicht der sexualfeindlichen Rottenmeier. Kein Wunder, daß Heidi mondsüchtig wird und Klara nicht gesunden kann!
Die beiden Liebenden (die natürlich von ihrer Liebe noch nix wissen und bis ans Ende des Buches auch nix wissen dürfen) werden wieder getrennt. Aber endlich endlich kommt Klara zu Heidi auf den Berg. Beide sind fast außer sich vor Liebesraserei - Spyri nennt es verschämt Freude. Der Geißenpeter merkt als erster, was los ist:
Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinüberriefen: "Gute Nacht, Peter!", gab er durchaus keine Antwort, sondern hieb mit seiner Rute so grimmig in die Luft hinein, als wollte er diese völlig entzweischlagen.
Jaja, die Rute. Aber sie hilft dem Peter nix - Klara und Heidi sind im siebten Himmel:
Zu allem Schönen, das Klara heute auf der Alp schon gesehen hatte, kam nun noch der Schluß. Als sie oben auf dem Heuboden auf dem grossen weichen Bette lag, zu dem nun auch das Heidi emporkletterte, da schaute sie durch das offene runde Loch gerade mitten in die schimmernden Sterne hinein, und voller Entzücken rief sie aus: "O, Heidi; sieh, es ist gerade, wie wenn wir auf einem hohen Wagen in den Himmel hineinfahren würden!'"
Die Sexualsymbolik braucht wohl nicht weiter erläutert zu werden. Heidi und Klara reisen im Himmelbett mit Volldampf in die Hochzeitsnacht.
Damit wir von dem Offenkundigen abgelenkt werden, wendet sich die Autorin aber nun wieder ihrer Lieblingsverschleierung zu, dem Beten, und obendrein versetzt sie das Heidi noch in einen Instantschlaf:
Jetzt richteten sich die Kinder noch einmal auf und sagten jedes ein Nachtgebet. Dann legte sich das Heidi auf seinen runden Arm und schlief augenblicklich ein. Aber Klara blieb noch lange wach, denn etwas so Wunderbares wie diese Schlafstätte im Sternenschein hatte sie noch in ihrem Leben nicht gesehen.
Ich gehe davon aus, daß Heidi sich schlafend gestellt hat, damit Klara sie umso besser bewundern konnte. Der letzte Satz ist wohl so zu lesen: "etwas so Wunderbares wie das schlafende Heidi im Sternenschein hatte sie noch in ihrem Leben nicht gesehen."
Nun die beiden sich endlich gekriegt haben und vereinigt sind, könnte ja Klaras Gesundung kräftig voranschreiten. Nichts da! Spyri bekommt Angst vor der eigenen Courage und schaltet wieder die fromme Großmama ein. Die schickt zwei Betten auf die Alm, die wieder von zwei Männern keuchend den Berg hochgetragen und dann mühsam auf dem Heuboden untergebracht werden (bis dahin hatte die Leserin nie den Eindruck, daß dort oben mehr Platz sei als für ein kuscheliges Lager im Heu, und ausgebaut wurde der Heuboden in der Zwischenzeit auch nicht. Aber es war der Autorin wohl dringend mit der Korrektur der Idylle). Haben wir nicht grad gelesen, dass Klara "etwas so Wunderbares wie diese Schlafstätte" noch nie in ihrem Leben gesehen hatte?
Es war wohl etwas zu wunderbar, wieder muß das Liebespaar auseinandergerissen und mit durchaus unnötigem Aufwand in getrennte Betten verbracht werden, nach denen niemand verlangt hatte. Zum Glück ist die Hütte für getrennte Schlafzimmer aber zu klein. Und so kann Klaras Heilung, trotz ängstlicher Verschleierungsmaßnahmen der Spyri, doch noch gelingen.
Vordergründig wird die Heilung ausgelöst durch den Vandalismus des Geißenpeter an Klaras Rollstuhl. Er läßt ihn den Berg runtersausen, und nun muß Klara schon laufen, will sie zu ihrem Heidi kommen, das zwischen duftenden Blumen verlockend auf der Alm sitzt, fast wie die Lorelei auf ihrem Felsen.
Und was will uns die Dichterin damit sagen? Warum zerstört Peter den Rollstuhl? Weil er eifersüchtig auf Klara ist. Ursache der Heilung Klaras ist demnach letztlich die Liebe zwischen Klara und Heidi. Ist doch sonnenklara.
7 Kommentare
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03.08.2007 um 10:17 Uhr Ricky
vielen dank lb. frau pusch,
die glosse ist nicht nur herzig, in ihr steckt eine menge wahrheit die unsere gesellschaft gerne verschweigt und auch verschweigen muss*
es kann ja nicht sein, dass mädchen sich der zarten mädchenliebe hinwenden und dabei auch noch gesunden;-)
aus den beiträgen entnehme ich, dass es wieder einmal ein (geißen-?) peter ist, der für das natürlichste auf der welt eine “analyse” braucht*
oder steckt im peter doch eine kleine klara? die ohne heides liebe nicht laufen kann?
schmunzelnde grüße
ricky
28.06.2007 um 14:43 Uhr oliverg
Hm, wie’s bei Frau Pusch ist, weiß ich nicht. Aber ich kannte den Begriff nicht und wollte mich schlau machen.
http://www.google.com/search?hl=de&q=mikrokontextuelle+stilanalyse&btnG=Suche&lr;=
Google kennt den Begriff auch nicht.
Gut, das hier kennt es:
http://www.google.com/search?hl=de&q=microcontextual+style+analysis&btnG=Suche&lr;=
(aber wohl auch nicht in dieser Wortreihung?)
Aber inwiefern dei Unterszuchung auf Wort- oder Satzebene hier sinnvoller wäre als im Werkkontext, erschließt sich mir nicht spontan.
28.06.2007 um 13:26 Uhr peter
diese “interpretation” oder “analyse” sagt mehr über die “interpretierende” person aus als über das “interpretierte”, “analysierte” werk. sehr dürftig, platt und oberflächlich diese “interpretation”, die an ein paar textpassagen festgemacht werden. schon mal was von mikrokontextueller stilanalyse gehört, frau pusch?
15.06.2007 um 13:28 Uhr OliverG
Oh—ja. ;) definitiv.
Vom wem die das wohl haben? (_Noch_ fängt die Tochter mit dem “Snappy” Spinnen und setzt sie raus auf den Balkon - parallel ist sie der finale Rosa-Pink-Glitzerfan.)
(Angeregt durch Lisa Alther, die ich mal getroffen habe, hatte ich eine etwas androgyne Phase mit schulterlangen Haaren (1988 war das nicht “in” :) ) und langen Fingernägeln (außer an den Zeigefingern ;) zu viel ‘Bruch’).
Hat sich (ha:) ausgewachsen - aber manche doch arg irritiert.
15.06.2007 um 11:47 Uhr LFP
an OliverG: Wie sagt Alice Schwarzer immer: “Gegensteuern!” Das können Ihre Kinder anscheinend bestens…
15.06.2007 um 11:36 Uhr OliverG
Jett muss ich mich natürlich fragen, wieso der Sohn mehr auf die Heidi-Sachen (TV & ein Bilderbuch mit etwas mehr Text) steht als die Tochter ;)
Aber danke, das war prima ;)
10.06.2007 um 10:03 Uhr Elli Mohr
Wunderbar!! Ein Gedicht, die heutige Glosse. Zum Schmunzeln, wir habens ja schon immer gewusst!