Facebookspeak: Civilians - Die neuen ZivilistInnen
Wir sehen hier in Boston regelmäßig die NewsHour von PBS (Public Broadcasting Service). Deren sechsköpfige Redaktion ist übrigens ethnisch ziemlich und gendermäßig komplett paritätisch besetzt. Vorgestern sprach NewsHour-Redakteur Ray Suarez mit den GründerInnen der neuen Website „Daily Download“, Lauren Ashburn und Howard Kurtz, über „Wahlkampf und Facebook: Alte Medien in der Neuen Welt“. Wie üblich sagten alle viel Interessantes, Neues und Wichtiges, das ich wie üblich leider bald wieder vergaß. Aber eins blieb mir im Gedächtnis hängen und beschäftigt mich seither: Die neue Bedeutung des Wortes „civilians“ (ZivilistInnen), der ich hier zum ersten Mal begegnete.
Ray Suarez fragte, ob sich nach der Rede Mitt Romneys vor der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) vor allem „civilians“ so lautstark im Netz geäußert hätten, oder ob sich auch die beiden Wahlkampagnen, Obamas und Mitt Romneys, beteiligt hätten. Lauren Ashburn antwortete, es seien schon überwiegend „civilians“ gewesen, und Howard Kurtz ergänzte, JournalistInnen und AktivistInnen hätten sich aber auch beteiligt. Allen Dreien schien das Wort „civilians“ in dieser Bedeutung völlig geläufig. (Übrigens können Sie das interessante Gespräch hier ansehen - und überhaupt lohnt sich ein Besuch der Newshour-Webseite immer.)
Unter ZivilistInnen verstand ich bisher Menschen, die „nicht dem Militär angehören und kein Mitglied einer anderen Kampforganisation sind“, wie es das deutsche Wiktionary formuliert. Das Wort „ZivilistInnen“ kommt heute in fast jeder Nachrichtensendung vor (natürlich heißt es immer „Zivilisten“), und zwar immer im Kontext von erlittener Gewalt: „Gewalttaten gegen Zivilisten“, „unschuldige Zivilisten getötet“, „Massaker an Zivilisten“.
Üblicherweise sind ZivilistInnen also Opfer, die ohne Absicht in kriegerischen Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft geraten sind. Die Opfer Hitlers und des Bombenkriegs waren überwiegend ZivilistInnen. Die Opfer des Bürgerkriegs in Syrien, von denen wir täglich hören müssen, sind überwiegend ZivilistInnen.
Nun könnte man annehmen, der Bedeutungsbestandteil „unbeteiligt“ hätte halt zur Ausdehnung des Gebrauchs von „Zivilisten“ geführt - ähnlich wie „Luftschiffe“ auf „richtige Schiffe“ zurückgehen und „Flughäfen“ auf „richtige Häfen“. Aber mich macht es trotzdem nervös, wenn ich plötzlich zur „Zivilistin“ werde, nur weil ich mich ohne politische oder wirtschaftliche Agenda im Internet bewege.
Längst kooperieren soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter mit Wirtschaft, Politik, Kirche und Militär, die nur zu gern die neuen Informationsströme nutzen, die Facebook- und Twitter-UserInnen über sich verbreiten. Wir, die an politischen und wirtschaftlichen Machtkämpfen „Unbeteiligten“, sind per definitionem die ZivilistInnen. Das sollte uns gründlich zu denken geben, denn es gilt: Je unbeteiligter, desto gefährdeter. Machthaber sorgen immerhin für ihre Armeen, aber nicht für deren unschuldige Opfer.
Die Bezeichnung „ZivilistInnen“ für uns „unschuldige“ NutzerInnen macht aber auch überdeutlich, welches Bild die Gegenseite von sich hat. Wirtschaft, Politik, Finanzwesen sind Kampfmaschinen. Zumindest verbal machen sie ja auch schon lange kein Hehl mehr daraus. Schier endlos ist die Liste der militärischen Begriffe, die nahezu flächendeckend unsere Lebenswelt erobert haben. Die Wirtschaftslenker heißen nicht mehr „Manager“ wie in gemütlicheren Zeiten, sondern „CEOs“ (chief executive officers). Sie starten permanent Offensiven oder feindliche Übernahmen. Die Werbung bombardiert uns mit ihren Werbekampagnen. Die Politik liebt ebenfalls Kampagnen und ist permanent im Wahlkampf, denn nach der Wahl ist vor der Wahl. AnhängerInnen werden rekrutiert.
Die, die sich noch nicht haben rekrutieren lassen, sind ZivilistInnen, und es wird ihnen schlecht bekommen. Höchste Zeit für zivilen Ungehorsam.
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8 Kommentare
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17.07.2012 um 03:23 Uhr Alison
Seit 1951 in den USA, mit lange Aufenthalte in Oesterreich, aber immer wieder in den USA. Es ist mir NICHT gelaeufig, Menschen, die sich nicht im Wahlkampf engagieren, als “civilians” zu bezeichnen.
Ein Officer ist jemand der einen Office, also einen Amt (staatlich, staedtisch, aber auch in ein Verein) besetzt, nicht nur ein hoeheres Mitglied des Militaers. Alle gewaehlte PolitikerInnen sind “office holders”, die Obleute samt Kassier/innen & Schriftfuehrer/innen eines Vereins sind “the officers of the club”, ein Polizist wird auch hoefflich mit “Officer” angesprochen, und so gesehen ist CEO kein militaerisches Begriff.
Die Militarisierung der allgemeine Gesellschaft kehrt wieder, leider, und endet in den Totalitaeritaet, den gewisse conservative Kraeften zwar lautstark verdammen, aber insgeheim herbeifuehren.
16.07.2012 um 19:20 Uhr anne
z.b. die `guardia civil` gab/gibt sich gar nicht so zivil(gewaltfrei), eine spanisch-paramilitärisch ausgerichtete polizeieinheit - ob polizei oder militär , beide sind scharf bewaffnet, hochtechnisiert. unter dem begriff `civil` zeigt sich viel militärisches . es gibt ein computER-spiel mit namen `civil attack`, ein weltkriegsszenario mit div. kriegsschauplätzen. und virtuelle tötungsrituale sollen den jungen noch-zivilisten als befehlsempfänger das einüben, planen und ausführen von milit. strategie f.d. zukunft schmackhaft machen.
statisten wurden z.b. gesucht für militärische übungseinsätze mit dem namen `civilians on the battlefields`, (afghanistan).
unter zivilist lese ich auch die nicht-aktive militärische pflicht und insofern bedeutet die zivil/courage gewaltfreier bürgerinnenmut, eine friedliche konfliktaustragung, wie ziviler ungehorsam - wir leben mitten in kriegerischen auseinandersetzungen, das militär rüstet auf, das patriarchat bläht sich auf mit drohgebärden und macho-gehabe und der begriff `civil` im militärischen sinne verbreitet sich weiter wie ein `lauffeuer`...?
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13449
16.07.2012 um 16:44 Uhr Barbara J. Speck
Das Patriarchat ist eine ‘kriegerische Veranstaltung’, eine Kampfesgesellschaft bzw. eine Kampfmaschine - durch und durch. Und da drin müssen wir Frauen bzw. kämpfenden Feministinnen leben! Rhetorische Frage: Wann schaffen wir es endlich ab?
Barbara am Davidsrain in Basel
16.07.2012 um 16:29 Uhr Joey Horsley
@SnapHappy and ginster michel:
Thanks for your comments. Just to clarify: my observation was limited to the previously unfamiliar use of the word “civilian.” I too was aware that terms such as “CEO” and “civil” have long been used in non-military contexts.
16.07.2012 um 09:22 Uhr SnapHappy
@Joey Horsley:
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Wir kommen aus unterschiedlichen Generationen und ich denke das macht auch einiges aus, da unsere Erfahrungen und auch die Umstände unter denen wir aufgewachsen sind sicherlich sehr unterschiedlich sind. Als ich 1989 in New York gearbeitet habe waren die Bezeichnung wie z.B. CEO etc. bereits geläufig und ich denke dass man diese Begriffe einfach deswegen z.B. auch im Deutschen oder Italienischen (in andern Ländern/Sprachen natürlich auch) benutzt, hat einfach damit zu tun, dass man sich angepasst hat um einen gemeinsamen Sprachgebrauch zu finden ohne ständig hinterfragen zu müssen mit “wem” man es zu tun hat.
Ich habe mich in meinem Kommentar auf den Sprachgebrauch, der mir nicht “neu” erscheint bezogen, da ich -im Gegensatz zu Ihnen- die Analyse nicht oder nur sehr bedingt teile. Und ich halte es für überflüssig zu polemisieren, denn selbstverständlich haben unterschiedliche Menschen, mit unterschiedlichen Hintergründen, unterschiedliche Wahrnehmungen. Ich respektiere die Wahrnehmung anderer, muss aber die Schlüsse die daraus gezogen werden nicht teilen, bin aber immer daran interessiert.
16.07.2012 um 08:11 Uhr ginster michel
auch ich verstehe das Wort ‘civil’ oder civilian’ als buergerlich,BuergerIn…. aber es entbehrt trotzdem nicht einer gewissen Komik, wenn man das Wort ins Verhaeltnis zum Militaer/militarisiert setzt.
16.07.2012 um 05:19 Uhr Joey Horsley
@SnapHappy:
Ich lebe seit 1940 in den USA, habe erst durch diese Glosse (und die PBS Fernsehsendung) die weitere Bedeutung von “civilians” (ZivilistInnen) kennen gelernt. Für mich ist es also doch etwas Neues. Vor Allem aber finde ich die treffende linguistisch-politische Analyse der Glosse wichtig und originell.
15.07.2012 um 21:01 Uhr SnapHappy
Ich habe von 1989 - 1991 in New York gelebt und ich kenne das Wort “civilians” seit jeher in beiden Bedeutungen (Zivilisten und “Bürger”). Ich habe nicht das Gefühl, dass das etwas Neues ist.