Die allseitig reduzierte Großmutter - Reduoma
Vorbemerkung: Der Titel der Glosse variiert den Titel von Helke Sanders feministischer Filmklassikerin „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit - Redupers“ aus dem Jahre 1978. Sanders Filmtitel wiederum war eine sarkastische Anspielung auf das DDR-Ideal der „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“.
1983, vor 30 Jahren, kaufte ich meinen ersten Computer. Ich schrieb gleich eine Glosse über die meist männlich benannten Computer (Commodore, Sirius usw.) und sprach fortan nur noch von meiner „Compute“ (so auch der Titel der Glosse) oder kurz „Pute“. Die meisten Frauen lehnten damals Computen ab. Etwa fünf Jahre später hatten viele ihre Abneigung überwunden und arbeiteten im Büro oder zu Hause mit den Puten ganz selbstverständlich auf du und du. Diese Pionierinnen müssten jetzt wie ich alle um die siebzig sein, zwischen 65 und 85. Wir sind nicht gerade Digital Natives, aber mit der Pute doch bestens und mit sozialen Netzwerken leidlich vertraut.
Der Boston Globe brachte am 30. Juli in seiner sog. G-Beilage („Living“) als Titelgeschichte „Learning to ‚like’ it“ (hier online), mit folgendem Anrisstext:
Classes in Facebook and other Social Media offer older adults options for keeping in touch with grandchildren, reconnecting with friends and networking about health issues. (Kurse zu Facebook und anderen Sozialen Medien bieten älteren Menschen Möglichkeiten, mit den Enkelkindern und FreundInnen in Kontakt zu bleiben und sich über Gesundheitsprobleme auszutauschen.)
Dieses Interessenspektrum deckt zwar einige menschliche Grundbedürfnisse ab, ist aber nicht sonderlich breit gefächert. Stark reduziert, möchte frau sagen. Was meine Facebook-Freundinnen und -Freunde im sog. Ruhestand alles so beschäftigt, sieht ganz anders aus. Vor allem treiben ihre diversen politischen Anliegen sie um, seien sie nun feministisch, ökologisch, friedensbewegt, finanzkritisch, tierschützerisch oder alles zusammen.
Die Autorin des Globe-Artikels hat eine Facebook-Schulung für die Alten besucht und beginnt ihren Bericht mit:
They adjust their reading glasses to make out the letters on the screen. They type with one finger. They have their user names and passwords written down on paper. (Sie rücken ihre Lesebrillen zurecht um die Buchstaben auf dem Bildschirm zu erkennen. Sie tippen mit einem Finger. Ihre Benutzerinnennamen und Passwörter haben sie auf Papier notiert.)
Die Alten sind offenbar ziemlich ungeschickt und unwissend, um nicht zu sagen unterbelichtet und „tütelig“. Geradezu rührend hilfsbedürftig. Wie die Alten eben so sind:
Facebook student Zoya Melnikova … has a hard time logging in because she forgets her password a lot. (Melnikova fällt das Einloggen schwer, weil sie dauernd ihr Passwort vergisst.)
Und der oben zitierte Anrisstext stammt von einer Expertin und wird uns, weil er so schön ist, ein zweites Mal serviert: „34 percent of people over 65 are now on Facebook … They use facebook to keep in touch with their grandchildren, reconnect with old friends, and even network with other people who are suffering from similar chronic diseases“. Besonders schön finde ich dieses „even“: Wow, die Oldies sind sogar imstande zu netzwerken!
Obwohl keine US-Amerikanerin, gehöre ich doch auch zu der Gruppe der über 65-jährigen Facebook-Nutzerinnen. Ich nutze es im wesentlichen beruflich, um auf neue Artikel und Bücher von mir hinzuweisen oder Vortragstermine anzukündigen. Gerne verlinke ich auch zu feministischen Artikeln und empfehle Filme und Bücher, die mir gefallen haben, und dauernd klicke ich „gefällt mir“ bei den Postings, die ich so bekomme. Mich über chronische Krankheiten mit anderen auszutauschen, ist mir noch nicht eingefallen.
Als Nächstes soll es für die Altchen in Boston einen Twitter-Kurs geben. Der Artikel schließt mit dem Satz: „Once they get the simple instructions … it just opens up the world. (Wenn sie die einfachen Anleitungen erstmal kapiert haben, eröffnet es ihnen die Welt.)“
Das deutet immerhin an, dass die Alten sich auch für was anderes interessieren könnten als für ihre Enkelkinder, FreundInnen und Krankheiten. Für die ganze Welt nämlich. So ist’s recht! Dieses schöne Zugeständnis wird allerdings erkauft durch eine weitere überflüssige Infantilisierung der Alten und die Unterstellung, dass ihnen die Welt vor der Twitternutzung verschlossen war.
Wem nützt das Bild von den beschränkten Alten, die sich nur für ihre Krankheiten und Enkelkinder interessieren? Wenn die Frau die Pille nicht mehr schluckt, soll sie wenigstens jede Menge andere Pillen schlucken, sonst verarmt Big Pharma noch. Außerdem wissen wir aus den täglichen Lamentationen über den Notstand in der Kinderbetreuung, dass viele Familien mit Kindern ohne die unbezahlte Arbeit der Großmütter nicht existieren könnten. Großmütter, die außer ihren Enkelkindern noch anderes im Kopf haben, z.B. Bücher schreiben, den Garten bestellen, Cello spielen, gegen Kohlekraftwerke demonstrieren und Vorträge halten, sind eigentlich nicht erwünscht, denn wer soll sich denn dann um die Enkel kümmern? Da wir gerade unser drittes Enkelkind bekommen haben, erlebe ich derzeit hautnah, dass die kleine Familie mit dem jüngsten Enkelkind nicht klarkommt ohne ziemlich intensiven Einsatz von zwei Großelternpaaren.
Permanenter Widerstand ist angesagt gegen die Unterstellungen unserer Umwelt, die still und leise oder laut und schrill unser Selbstwertgefühl erodieren und uns gefügig machen sollen. Ich habe zum Glück viel Übung im Widerstand. Als Teenager und junge Frau musste ich mich gegen die Botschaften wehren, die über Lesben und Schwule im Umlauf waren, sonst hätte ich mich gleich umbringen können, denn die allgemeine Ansicht war, Homosexuelle wären besser tot. Als erwachsene Frau, d.h. seit mindestens 50 Jahren, muss ich mich täglich gegen den Sexismus unserer Gesellschaft wehren. Fast die Hälfte meines Lebens bin ich als feministische Linguistin im Widerstand gegen die arrogante Ignoranz der Maskulinguistik.
Solcherart kampferprobt bin ich gut vorbereitet auf die nächste Schlacht. Die beiden großen Pionierinnen der Frauenbewegung, Simone de Beauvoir und Betty Friedan, erkannten die Parallelen zwischen der Zurichtung der Frauen und der Bevormundung der Alten und widmeten sich dem Kampf gegen die Altersdiskriminierung, sowie sie in die Jahre gekommen waren. Sie schrieben im vergangenen Jahrhundert die beiden wichtigen Abrechnungen mit der Altersdiskriminierung, Das Alter [La Vieillesse] (1970, Beauvoir) bzw. Mythos Alter [The Fountain of Age] (1993, Friedan). Es ist an der Zeit, sie wieder zu lesen, zur Stärkung für den ziv- bzw. senilen Ungehorsam. Auch Helke Sanders "Der letzte Geschlechtsverkehr" und Gloria Steinems "Doing Sixty and Seventy" sind in diesem Zusammenhang sehr zu empfehlen! Werde diese Ideen gleich mal auf Facebook und Twitter verbreiten. •••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••••
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12 Kommentare
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08.08.2013 um 18:14 Uhr anne
eine starke frauenpersönlichkeit auch im fortgeschrittenen alter ist Heidi Hetzer (76), gelernte automechanikerin , berühmte rennfahrerin (schnellste frau Berlins) und mehrfache oma. ihr vorbild ist Clärenore Stinnes, die als erste 1927-1929 mit dem auto die welt umrundete. Heidi Hetzer plant eine 2-jährige weltreise mit ihrer `Oldie` (1930er Hudson Super 8). “wenn ich ankomme, bin ich 79 Jahre.” (H.H.)
ihr weiteres ziel ist, mehr charity machen und für die gleichberechtigung der frauen kämpfen. mehr als 150 preise gewann sie als rallyefahrerin - einfach supra jenseits der 50, 60, 70 frech - frei - feministisch.
http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/opel-haendlerin-hoert-auf-heidi-hetzer-faehrt-jetzt-um-die-welt/6830272.html
06.08.2013 um 15:14 Uhr Lena Vandrey
Ein “Engelkind” ist wohl ein kleines Mädchen - oder was sonst könnte es sein?
Über das Alter ist zu sagen, dass das “Kurzzeitgedächtnis” abnimmt, und das “Langzeitgedächtnis” nimmt zu. Ist es nicht vorteilhaft, dass wir von dem Mist, der uns gestern Abend im Fernsehen überrieselt hat, heute nichts mehr wissen, während die Lehre und die Erfahrung aus älteren Epochen uns immer noch nutzen kann?
Protestieren möchte ich gegen die Erwähnung von Simone de Beauvoir als Vorbild. Sie hat über Lesben und ihre eigenen lesbischen Erlebnisse so schlimm geschrieben wie NIEMAND! Das alles ist bekannt, und selbst Alice Schwarzer hat sich eines Tages aufraffen müssen und über dieses traurige Thema Farbe bekennen.
“Wie stark sind wir, mein Freund!“schreibt Beauvoir an Sartre. Sie hatte eine Nacht verbracht mit einem jungen jüdischen Mädchen, Bianca Bienenfeld, später Gamblin, und schrieb, es sei wie Stopfleber gewesen, aber von schlechter Qualität!...
Als Reaktion auf Anne Koedts Buch “Der Mythos des vaginalen Orgasmus” sagte Beauvoir, dass “die Mädchen der Frauen-Bewegung sich nur um ihre Klitoris drehen würden”. Das war ein Interview von Schwarzer im “Nouvel Observateur”. In der deutschen Fassung ist dieser Satz weggelassen!...
Der Personen-Kult ist eine hässliche Sache, und warum lautere Lesben noch immer die große Leit-Kuh empfehlen, ist unverständlich.
Fatal für eine Bewegung, dass sie (solche) Heldinnen nötig hat…
06.08.2013 um 15:12 Uhr lfp
Hallo Julia,
ich sage die/der Teenager, genau wie die/der Fan, die/der Coach etc. Im Engl. sind diese Wörter geschlechtsneutral, d.h. sie können je nach Geschlecht mit “she” oder “he” pronominalisiert werden. Es gibt keinen Grund, sie im Deutschen plötzlich zu maskulinisieren, wie es unsere Männersprache automatisch tut, nach dem Motto: Ein Mensch ist ein Mann, es sei denn, das Gegenteil wird bekanntgegeben”.
06.08.2013 um 09:55 Uhr Julia H.
Hallo Luise,
in dem vorletzen Absatz hast Du Dich als “Teenager und junge Frau” bezeichnet, und das obwohl Teenager ein “männliches” Wort ist. Wenn Männer sowas schreiben, bist Du höchstempört. Aber in Deinem Text fällt es Dir nicht einmal auf. Liegt hier vielleicht doch ein Widerspruch in Deinem Verhalten vor?
Neugierige Grüße
Julia
06.08.2013 um 03:14 Uhr Alison
“Ihre Benutzerinnennamen und Passwörter haben sie auf Papier notiert”
Ja, natürlich haben sie das. Bei den Hunderten von Namen und Passwörter für jede Webseite und Dienstleistung ist es unerlässlich, sie niedergeschrieben zu haben und bei Papier kann keinEr die hacken. Noch dazu, wenn frau sie auch alle paar Monate sie ändern soll….
Ich habe ein ganzes Büchlein voll davon.
05.08.2013 um 23:49 Uhr anne
die großmütter sind alles andere als `tütelig`- sondern frei - frech - feministisch - zukunft gestalten -, denn die alt-68erinnen sind es gewohnt, sich politisch zu engagieren und unterschiedliche rollen zu spielen. diese frauengeneration ist geprägt durch die frauenpolitischen aktivitäten der 60er und 70er jahre… zu den großvätern gefragt, antwortete eine aktive `mir ist meine energie zu schade, um die männer meiner generation für ein engagement zu motivieren`.... http://www.lokalkompass.de/dinslaken/leute/frauen-ab-55-frech-frei-feministisch-zukunftswerkstatt-m1721448,323292.html
05.08.2013 um 23:35 Uhr Jürgen A.
@lfp
So wird das aber nix mit dem generischen Femininum, solange wir kein attraktiveres Identifizierungsangebot vorgesetzt bekommen.
05.08.2013 um 20:55 Uhr lfp
@Julia, @Jürgen A.
Ich habe das generische Femininum benutzt. Als Großmütter dürfen sich gern auch Großväter und andere männliche Alte (neudeutsch: Senioren) angesprochen fühlen.