Brexit, Brexitus oder Braustritt? Sollte Englisch EU-Arbeitssprache bleiben?
Der Brexit bringt jede Menge Probleme mit sich. Was bisher noch kaum thematisiert wurde: Er verschiebt auch das sprachliche Gleichgewicht. Die EU unterscheidet zwischen Amtssprachen und Arbeitssprachen. 24 Amtssprachen haben wir und 3 Arbeitssprachen, nämlich - in alphabetischer Reihenfolge - Deutsch, Englisch und Französisch. JedeR EU-BürgerIn kann vor und in EU-Gremien in ihrer Muttersprache auftreten und muss nicht unbeholfen in irgendeiner Fremdsprache radebrechen. Ich hielt mal eine Rede vor dem Europarat, auf Deutsch, und wurde von den oberhalb des Vortragssaals in ihren Glaskästen sitzenden Dolmetscherinnen simultan in alle Muttersprachen der Anwesenden übersetzt. Die EU leistet sich da einen Riesenaufwand, denn keine EU-Bürgerin soll wegen ihrer Muttersprache diskriminiert werden. Die „ökonomische Ungleichheit“ ist schlimm genug, sie soll nicht auch noch durch eine „sprachliche Ungleichheit“ verschärft werden. Die EU sorgt damit nicht nur für sprachliche Gerechtigkeit, sondern verschafft auch vielen Frauen gut bezahlte Arbeitsplätze, denn die meisten, die da dolmetschen, sind Frauen.
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Helmut Kohl im Vergleich zu seinem „weltläufigen“ Vorgänger Helmut Schmidt als "Hinterwäldler" verspottet wurde, weil er sich mit den anderen „Großen dieser Welt“ nicht auf Englisch unterhalten konnte und stur auf seiner Muttersprache bestand. Zwar mochte ich auch keinen Kohl, aber ihn wegen seiner Sprache zu verunglimpfen, fand ich ungerecht - Thatcher und Reagan, die auch keine andere Sprache vernehmen ließen als ihre Muttersprache, galten deswegen noch lange nicht als hinterwäldlerisch.
Im Jahre 1992 habe ich mich dem europäischen Sprachproblem schon einmal gewidmet. Damals schrieb ich: „Die Länder Europas wachsen zusammen, aber wir haben keine gemeinsame europäische Sprache. Deutsch ist die am weitesten verbreitete Sprache in der EG, aber in den Gremien dominieren Englisch und Französisch. Nun soll Deutsch zur dritten EG-Sprache aufgewertet werden, stand in der Presse zu lesen…“
Nun, das Problem hat sich ja inzwischen erledigt.
Nach dem Brexit ist aber zu fragen, ob Englisch die dritte Arbeitssprache bleiben oder ob nicht eine andere Sprache, etwa Italienisch, Spanisch oder Polnisch, diesen privilegierten Platz einnehmen sollte.
Mit dem Austritt Englands gibt es in der EU keinen Mitgliedsstaat mehr, in dem Englisch die Hauptsprache ist. Neben Malta (0,4 Mio.) ist Irland mit seinen 4,6 Mio. EinwohnerInnen das einzige EU-Land, in dem Englisch (zweite) Amtssprache ist, allerdings eine ziemlich ungeliebte, denn es ist die „Sprache der Eroberer“. Und das gilt nicht nur für Irland:
Die meisten Weltsprachen entstanden durch kriegerische Expansion von Staaten, in denen die entsprechende Sprache gesprochen wurde, und anschließende langdauernde Hegemonie der eroberten Gebiete. Dies gilt für alle Regionen der Welt und sowohl für die Weltsprachen der Antike wie für jene der Neuzeit oder der Gegenwart.
So schwingt in dem Begriff Weltsprache stets ein gewisser imperialer Hintergrund mit […] Viele der neuzeitlichen Weltsprachen sind ehemalige Kolonialsprachen, deren Verbreitung auf anderen Kontinenten vor allem durch Eroberung, Kolonisation und Ausrottung erfolgte. (Quelle: hier)
Es ist nicht einzusehen, wieso die verschmähte Europäische Union eine Sprache, die in der EU nur noch 5 Mio., also weniger als 1 Prozent (widerwillige) MuttersprachlerInnen hat, als eine ihrer 3 Arbeitssprachen privilegieren sollte. Länder wie Italien (60 Mio.), Spanien (46,5 Mio.), Polen 38,5 Mio.) Portugal (10,6 Mio.) und Ungarn (10 Mio.) könnten sich zurückgesetzt fühlen.
Aber: Englisch ist mit 38% die meistgelernte Fremdsprache der EU:
Noch sind die 3 Arbeitssprachen der EU „auch die drei meistgesprochenen und meistgelernten Sprachen […] ; nämlich Deutsch (18 %; 14 %), Englisch (13 %; 38 %) und Französisch (14 %; 14 %) (in Klammern jeweils der prozentuale Anteil der EU-Bevölkerung, der diese Sprache als Muttersprache bzw. Fremdsprache spricht). Verhandlungen, Besprechungen und alle Veröffentlichungen der Europäischen Organe müssen in diesen drei Sprachen geführt bzw. bekanntgegeben werden." (Quelle: Wikipedia)
Da haben die BritInnen der EU also noch ein vertracktes Problem aufgehalst: Dass sie die Sprache des einzigen Mitgliedslandes, das die Union verlassen hat, weiter als Arbeitssprache behalten müssen, weil sie innerhalb der Union die meistgelernte Sprache ist.
Ich bin gespannt, wie die Union dies Problem lösen wird. Mein Vorschlag: Sie sollte eine dritte Kategorie einführen: Neben den Amtssprachen und Arbeitssprachen auch noch Hilfssprachen. Arbeitssprachen sind die drei Sprachen, die EU-weit den größten Anteil an MuttersprachlerInnen haben. Das wären zur Zeit Deutsch, Französisch und Italienisch. Hilfssprache ist diejenige Sprache, die von den meisten EU-BürgerInnen verstanden wird. Im Moment ist das das Englische, obwohl nach dem Brexit nur knapp 1 Prozent MuttersprachlerInnen übriggeblieben sind. Zu überlegen wäre noch, ob als Hilfssprachen nicht auch solche EU-Sprachen gelten könnten, die zwar weder zu den meistgesprochenen noch zu den meistgelernten Sprachen der EU, dafür aber zu den 12 Weltsprachen gehören. Das wären dann Spanisch und Portugiesisch - die sich wie das Englische wegen ihrer Kolonialgeschichte weit über den Globus verbreiten konnten.
Was genau unter "Hilfssprache" zu verstehen ist, was ihre Funktionen in der Eu sind, wäre noch festzulegen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe das Englische - auch deshalb, weil es wegen seiner „uneuropäischen“ grammatischen Struktur viel leichter zu entpatrifizieren ist als die europäischen Genus-Sprachen. Ich war schon immer anglophil, habe Englisch studiert, über das Englische meine Dissertation geschrieben, lebe seit 30 Jahren mit einer US-Amerikanerin zusammen und verbringe jedes Jahr 4 Monate in den USA. Durch meine engen Kontakte mit Ländern, die die „Weltsprache Nr. 1“ sprechen (und in der Regel deshalb auch keine andere), erlebe ich aber auch, dass die Einengung des Blicks durch die sprachliche Hegemonie den Einsprachigen nicht so gut bekommt. Die Eindimensionalität und Nabelschau kann im schlimmsten Fall zu selbst- und fremdschädigendem Verhalten wie der Wahl Donald Trumps oder dem Brexit führen. Es wäre interessant zu untersuchen, ob auch die AnhängerInnen der europäischen RechtspopulistInnen überwiegend Einsprachige sind.
Die EU als Inbegriff der Vielsprachigkeit könnte den Einsprachigen/Monokultis helfen, mehr Menschen verstehen zu lernen als nur sich selbst, indem sie die „Weltsprache Nummer 1“ ein bisschen degradiert. Sie könnte damit anfangen, indem sie das Wort „Brexit“ meidet und stattdessen von „Braustritt“, „Brortie“ oder „Bruscita“ spricht. Diese Worte klingen so seltsam, dass auch mögliche Nachahmungen wie Fraustritt, Nuscita oder Dortie weniger einladend wirken.
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5 Kommentare
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28.06.2016 um 19:24 Uhr iris welker-sturm
Zunächst herzlichen Glückwunsch zum Luise-Büchner-Preis!
...und Bruscita und Fraustritt finde ich sehr gut erfunden.
vor zwei Wochen habe ich einen Text zum Thema geschrieben, in dem ich auch mit den Begriffen spiele:
Brexit wie Grexit
aus Angst vor dem exit.
Das G für die Größe
ist schon verloren
noch gibt es ein bremsendes brr
doch es schüttelt den Rest
auch das B könnt entfallen
und rex oder rechts stünd zur Stund
nicht für Regierung und Monarchie
sondern für Auto-Demontag(i)e.
Herzliche Grüße aus Darmstadt
iris
die wortstellerin
28.06.2016 um 16:43 Uhr Amy
Klasse Hinweise auch zu `United Queendom` ; UK hat sich von selbst verabschiedet . Und die Queen hält sich bislang aus der Brexit-Debatte heraus. Wird UK demnächst - wie ursprünglich personifiziert - als `BritanniA` wahrgenommen ? ” Die Nationalallegorie der Britannia geht auf Pallas Athene, Schutzgöttin des Stadtstaats Athen bzw. ihrem römischen Gegenbild Minerva, eine der drei Schutzgottheiten Roms zurück. ” Helvetia, Britannia , Austria, Germania etc. , damals hatten die Schutzgöttinnen hohes Ansehen . United Kingdom bleibt für viele anscheinend ein Synonym für beiderlei Geschlechter - das alte Ritual , dass Frauen sich bitteschön mitgemeint zu fühlen haben, wenn von Rentnern, Ärzten, Apothekern, Herrschern, von Fürstentum, Herzogtum etc. gesprochen wird. Sicherlich hatte das auch etwas mit der Thronfolge in den `Königreichen` zu tun; bis zur jüngsten Neuregelung hatten zunächst alle Söhne des `Throninhabers` vor den Töchtern in der Reihenfolge ihrer Geburt das Anrecht auf den britischen Thron. Nach einem Beschluss der Commonwealth-Staaten von 2011 ist die rund 300 Jahre alte Regelung der Thronfolge geändert worden: Entscheidend ist nunmehr ausschließlich die Reihenfolge der Geburt unter den Geschwistern, weibliche Nachkommen werden nicht mehr hinter später geborene männliche gereiht. (Wiki) . U.Queendom zu benennen und fortzuführen , wäre also längst überfällig , da vielen bedeutenden Frauen in der Geschichte aufgrund der Ungleichheit der Geschlechter und bei der Ausübung der politischen Ämter die Thronfolge verweigert wurde. Und warum sollte sich nicht demnächst eine männliche Nachfolge unter dem Begriff UQ bewähren können? Brexit bedeutet auch Neuanfang bzw. sich neu sortieren. https://de.wikipedia.org/wiki/Britannia_(Personifikation) - http://gulfnews.com/opinion/thinkers/why-not-united-queendom-1.756670
28.06.2016 um 11:41 Uhr Luise F. Pusch
“Ausbritt” finde ich super! Das “United Kingdom” habe ich schon seit Jahrhunderten kritisiert, so scheint es mir. Es ist eine sture Frechheit gegen die Queen und alle Frauen. Ähnlich wie die “Frauenmannschaft”. Aber auf uns hört ja keiner. ;-) :-((
28.06.2016 um 10:45 Uhr Christoph Päper
PS: Stört den anglistischen Feminismus eigentlich die Bezeichnung „United Kingdom (of …)“ gar nicht? Das Staatsoberhaupt ist doch pratisch seit Menschengedenken eine „Queen“, weshalb „United Queendom (UQ)“ angebrachter schiene.
28.06.2016 um 10:39 Uhr Christoph Päper
*Ausbritt?
In Brüssel, Straßburg, Frankfurt etc.pp. entwickelt sich schon seit Jahrzehnten eine eigene Varietät des Englischen, die die EU bisher selbst noch als „misuse“ bezeichnet. http://ec.europa.eu/translation/english/guidelines/documents/misused_english_terminology_eu_publications_en.pdf
Ich glaube, das Konstrukt „Hilfssprache“ wäre genau das richtige, um solche muttersprachliche Deutungshoheit zurückzuweisen. Schließlich haben weder Menschen aus England, noch aus anderen britischen geopolitischen Einheiten, Nordamerika, Australien, Neuseeland, Indien, Südafrika, Hongkong oder dem restlichen ehemaligen Empire/Commonwealth irgendwie mehr Recht, die Sprache, die wir „Englisch“ nennen, zu verwenden und weiterzuentwickeln als Menschen, die sie als Ausweichmöglichkeit in der Kommunikation untereinander verwenden, weil sie keine andere gemeinsame Sprache beherrschen.
Ich weiß nicht, ob man bei einer solchen Definitionsänderung, die für praktische Belange wenig Bedeutung hat, zwingend eine dritte Nationalsprache zur Arbeitssprache befördern sollte. Wenn man das täte, sollte man meines Erachtens allerdings stärker auf Sprachfamilien achten und daher eine slawische Sprache den romanischen Alternativen vorziehen.