Brauchen wir Opfer?
Ostern ist nahe und damit die Zeit des Osterlamms, das manche zur Erinnerung an Christus, das Lamm Gottes, zu Ostern verspeisen. Das Lamm, traditionell ein beliebtes Opfertier der HirtInnenvölker, symbolisiert dabei sowohl die Unschuld Christi (“Unschuldslamm”) als auch seinen Opfertod (“Opferlamm”).
An Opfer denken wir alle angesichts der nicht abreißenden Enthüllungen der Missbrauchs-Opfer mehr als uns lieb ist. - Allerdings ist “Opfer” ein kompliziertes, vieldeutiges Wort, wie der Vergleich mit anderen Sprachen klarmacht: Das “Musikalische Opfer” von Johann Sebastian Bach heißt auf Englisch “The Musical Offering”, auf Französisch “L’Offrande Musical” und auf Italienisch “L’Offerta Musicale” - nicht etwa “The Musical Victim”, “La victime Musical” oder “La vittima musicale”.
Sicher gibt es zahllose “musikalische Opfer” im Sinne Wilhelm Buschs, der feststellte: “Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden” - aber das lassen wir jetzt mal beiseite. Was mich interessiert, ist zum einen die Doppelbödigkeit des Wortes “Opfer”, zum anderen die denkwürdige Tatsache, dass die lateinische Bezeichnung für “unfreiwilliges Opfer” mitsamt ihren romanischen Abkömmlingen ein Femininum ist: victima / la victime / la vittima / la victima / la vítima.
Das Duden-Synonymenwörterbuch gliedert die Bedeutungen von “Opfer” wie folgt:
1. a) Opferung. b) Opfergabe. 2. Einsatz, Hingabe, Preisgabe, Verzicht; (gehoben): Aufopferung, Darangabe. 3. Geschädigter, Geschädigte, Leidtragender, Leidtragende, Toter, Tote; (gehoben): Beute.
Als feministische Linguistin stelle ich mit Befriedigung fest, dass neben den Maskulina der Bedeutung (3) (“Geschädigter” usw.) immer auch das Femininum genannt wird, wenngleich an zweiter Stelle, was der alphabetischen Anordnung - und wohl auch der faktischen Besetzung der Opferrolle - widerspricht.
Das Schillern des Opferbegriffs liegt daran, dass auch Menschen zur “Opfergabe” werden können, freiwillig oder gegen ihren Willen.
Wir ehren das freiwillige Opfer: es ist in der christlichen Ethik einer der höchsten Begriffe: Christus, der Schuldlose, opferte sein Leben für uns, die Schuldigen, und wir sind aufgerufen, ihm nachzueifern, so gut es eben geht. Viele Nazi-Opfer opferten ihr Leben im Widerstand, auch im christlichen, und gehören deshalb zu unseren NationalheldInnen, wie etwa die Geschwister Scholl. Wir trauern um die unfreiwilligen Opfer (victims) - von Erdbeben, Unfällen, von Gewalttaten, um die Opfer von Kriegen, Krankheiten, Todesopfer ganz allgemein. Die meisten Nazi-Opfer wurden einfach kollektiv abgeschlachtet oder vergast, für sie gibt es keine Denkmäler, sondern Mahnmale. Wir verabscheuen die Opfer, die zugleich Täter sind und als Selbstmordattentäter oder Amokläufer andere mit in den Tod reißen.
Die Frage ist natürlich, weshalb Opfer überhaupt notwendig sind. Am Ursprung der rituellen Opferungen steht ja die archaische Idee zorniger Götter, die durch Opfergaben besänftigt werden müssen, und wenn es der eigene Sohn ist, der dafür herhalten muss. Die Götter sind also sadistisch bis korrupt, der alttestamentarische etwa erfreute sich an der Angst Abrahams und Isaaks, die Götter der Maya verlangten Unmengen grausam gemordeter Menschen als Opfer, andere lassen sich durch Geschenke bestechen wie unsere korrupten Politiker.
Opfer müssen - wie jede Bestechung - kostbar sein, um zu wirken, und am kostbarsten sind Menschenleben. Bei Tieropfern sind natürlich die weiblichen Tiere in der Regel kostbarer als die männlichen: “Unter zwei huntert kalben soll man nicht uber zwei stierlein behalten” heißt es im Grimmschen Wörterbuch. Dieser Sachverhalt erklärt vielleicht die Weiblichkeit von lat. victima. Bevorzugt als Tieropfer - weil eben das größere Opfer - waren die weiblichen Exemplare der Gattung.
Der Opferbegriff spaltet sich auf ins Heroische auf der einen und Schreckliche auf der anderen Seite. Wenn ich mich selbst opfere, bin ich eine Heldin, wenn ich andere gegen ihren Willen opfere, mache ich mich schuldig, mache ich sie zum Opfer, viktimisiere ich sie.
Eine Möglichkeit, das eigene Leben zum Opfer zu bringen ist, es einem “höheren Zweck” zu weihen, z. B. der katholischen Kirche (“Priesterweihe”). Priester und Nonnen weihen ihr Leben der Kirche, sind Opfernde und Opfer zugleich, und während sie als Opfernde heroisch sein mögen, vergehen sie sich an sich selbst, indem sie sich einer überholten und moralisch fragwürdigen Institution “weihen”, d.h. ausliefern.
Die Wörter “Weihe” und “victima” gehen auf dieselbe indogermanische Wurzel *wig zurück. Von hier zu der bekannten verhängnisvollen Karriere des Opfers, das zum Täter wird, ist es nur ein kleiner Schritt. Die männlichen zu Tätern mutierten Opfer vergehen sich eher an anderen, die weiblichen eher an sich selbst. Aber auch Frauen sind zu allem fähig, wie die Geschichte der irischen Magdalen Asylums für “gefallene Mädchen”gezeigt hat, über die Peter Mullan den erschütternden Film “Die unbarmherzigen Schwestern” (2002) gedreht hat.
Aber schuld, so scheint mir, ist die schädliche Idee des Opfers selbst, insbesondere die Idee des heroischen Selbstopfers. Sie bedarf im Zeitalter der Selbstmordattentäter und Missbrauchspriester einer gründlichen Revision.
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12 Kommentare
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15.03.2010 um 18:14 Uhr Evelyn
@ Anne
Nein, Jesus Christus ist nicht freiwillig am Kreuz gestorben. Die Überlieferung sagt ja auch, dass er dem herrschenden System zum Opfer fiel, weil er mit seiner Lehre der bedingungslosen Liebe “gefährlich” war. Der Sinn dieses Geschehens ist nicht zu verstehen, ohne den geistigen Prozess darin zu erkennen - sonst hätte Jesus ja Revolutionär werden können und mit Gewalt und Truppen oder Partisanen gegen die Besatzer kämpfen können. Dies ist aber in seiner Lehre nicht enthalten. Wer sich für solche geistigen Prozesse interessiert, mag sich mit der wunderbaren und kompetenten Autorin Flower A. Newhouse beschäftigen (dt. Übersetzungen vorhanden), in den USA sehr bekannt, aber leider schon verstorben. Bsp: Das Werk “Christusbewusstsein”. Etwas weltlicher orientiert, aber sehr zu empfehlen, ist das Werk der deutschen Philosophin und Kulturanthropologin Christina Kessler, die ebenfalls eine strikte Liebesphilosophie vertritt, aber von Opferhaltung oder der berühmten Selbstaufopferung der Frauen ist darin nichts enthalten. Im Gegenteil: Ihr Wertekanon umfasst z.B. Selbstachtung und ein starkes Selbstbewusstsein - und das an höchster Stelle. Ich kann ihre Philosophie nur wärmstens empfehlen, zumal sie so ausgerichtet ist, das Patriarchat zu überwinden - und zwar als gesamtgesellschaftliches Denk- und Handlungsmodell. Obwohl Christina Kessler eine weltumspannende Philosophie und Handlungsanleitung ausarbeitete, die absolut nachvollziehbar ist, ist sie - ohne PR-Tross - als weiblicher, westlicher Dalai Lama nicht bekannt geworden - ein Schaden für uns Frauen. Kurzfassungen ihrer Arbeiten sind bei mir erhältlich (Luise hat meine Kontaktdaten.) Ein neues Werk, dass sich mit gesellschaftlichen Prozessen näher beschäftigt, wird demnächst erscheinen. Für mich sind die genannten Werke geistiges Rüstzeug gegen das Patriarchat im allgemeinen und gegen eine patriarchalisch organisierte Kirche - denn wenn ich mich von diesen Systemen absetze, brauche ich ja Gegenmodelle, die mich stärken und mir immer ein Möglichkeitsspektrum vor Augen halten. Mit Flammenwerfern werden wir Patriarchat und Kirche nicht niederringen können, außerdem wäre das patriarchal - mit Alternativen lassen sich jedoch Menschen gewinnen!
15.03.2010 um 11:29 Uhr Anne
ich frage mich überhaupt, ob Jesus Christus der mensch war, den uns kirchenvertreter seit über 2ooo jahren `fälschlicherweise ?` vorzeigen. kritiker gehen davon aus, dass mann in den oberen etagen der kirchenführung ganz zufrieden sei, dass sich Jesus nicht sehen liesse, denn es könnte anders sein als mann ihn den menschen präsentiert hat. die ständige, auch mit gewalt und schuldgefühlen erzwungene opferbereitschaft bis in den tod hat ja auch eine kehrseite, angst, schuldgefühle, religiöser fanatismus, gerechte kriege, kriegsverherrlichung, kreuzzüge, (sex.) machtmissbrauch ..
ich finde auch das symbol des gekreuzigten Jesus schauderhaft, angsteinflössend. es soll schriften geben, die einen anderen Jesus und einen ganz anderen verlauf seines lebens vermuten lassen.
ausserdem werden wir ständig an unsere opferbereitschaft erinnert, z.b. den gürtel enger zu schnallen, unsere opfer zu erbringen für fehlgeleitete gesellschafts/politische entscheidungen.
mir ist diese art der weihe für ein höheres wesen suspekt, weil es in meinen augen auch zu sehr an unterwürfigkeit, abhängigkeit, lebensfremdheit erinnert - das organisierte system kath. kirche, das in seiner lehre die nächstenLiebe predigt/e, hat durch menschliche unzulänglichkeiten versagt.
wie viele gläubige, die sich christen nennen, handeln nach ihrem kirchgang im sinne der nächstenliebe, setzen sich für menschenrechte ein?
stimmt es überhaupt, dass Jesus freiwillig am kreuz gestorben ist? oder ist das eine reine erfindung ... damit hat die kirche seit über 2ooo jahren auf die menschheit macht ausgeübt. ich muss ehrlich sagen, ich finde diese art des selbstopfers nicht nachvollziehbar.
15.03.2010 um 08:09 Uhr Evelyn
Mit Freude stürze ich mich wieder in die Diskussion: Meine Antwort auf die Frage “Brauchen wir Opfer?” ist eindeutig: Ja!
Der Kern der christlichen Religion ist nicht eine von Gott-Vater erzwungene und menschenfeindliche Opfergabe im Sinne eines gewaltsamen Todes des “Sohnes”, den Jesus Christus erlitt - das wäre ja vollkommen absurd. Der Kern ist eine Bewusstseinfrage und ein Handeln strikt nach dieser Bewusstseinsentwicklung. Die Liebesphilosophie eines Jesus Christus galt ihm so viel, dass er dafür auch in den Tod ging, eine völlig andere Sichtweise, also. Die Liebe zu den Menschen und zum Göttlichen siegte über das Barbarentum des unterdrückerischen und ausbeuterischen Machtsystems, in dem er lebte. Ein solches Handeln lebte uns auch Sophie Scholl in Bezug auf die Nazis vor (wenn ich auch nicht weiß, ob aus einem christlichen oder rein humanistischen Weltbild heraus). Auch viele andere christlich oder anders religiös inspirierte Menschen leben uns dies vor. Das Mysterium der christlichen Weltsicht liegt im Auftrag, dass wir alle die Liebesphilosophie auf unser Leben übertragen mögen - sicher ein Auftrag, der sich mehr an Männer als an Frauen zu richten hat (siehe hierzu die ganze Weltlage). Warum brauchen wir also dieses geistige Opfer? Weil es uns wappnet: Gegen eine überbordende materialistische Lebensweise, gegen ein Ellenbogen-Dasein um jeden Preis, gegen ein materialistisch-naturwissenschaftliches Weltbild, das in seiner rigiden Ausschließlichkeit für die Ausbeutung und Zerstörung der Erde verantwortlich ist und Grausamkeit gegenüber Mensch und Tier zulässt, gegen ein Primat der Ökonomie, das jegliche Menschlichkeit zu Grunde richtet, ja und gegen ein Patriarchat, dass in der Liebesphilosophie eines Jesus Christus niemals auch nur im Entferntesten einen Platz hatte. Das geistige Opfer schützt uns, an der Macht durch Machtmissbrauch Teil zu haben. By the way: Eine solche Interpretation findet sich eher weniger im Buchbestand des kirchlichen Umfeldes, sondern in Büchern, die der jetzigen Kirche fernstehen. Ich setze also auf das geistige Opfer, eine kämpferische Haltung für Gerechtigkeit und Gleichheit (im Sinne der Menschenrechte) schließt dies nicht aus - ganz im Gegenteil. Wahre Transzendenz hat noch nie geschadet, aber dafür brauche ich nicht in die Kirche gehen und mich in einen patriarchal-institutionellen Unsinn einreihen. Wenn ich das aber möchte, sollte ich nie vergessen, was die Institution Kirche für brutale Verbrechen hervorgebracht hat - und in ihrer ganzen Frauenfeindlichkeit noch heute hervorbringt, zum Beispiel durch das Verhütungsverbot oder die Hatz auf Homosexuelle und deren angebliche Inferiorität.
15.03.2010 um 01:21 Uhr Dürr
Wunderbare Gedanken zum Opfer, liebe Luise! Etwas, das mir immer wieder aufstösst, ist folgendes:
Bei Verbrechen hört/liest man immer wieder, dass den Tätern “unschuldige Menschen” zum Opfer fielen. Ich frage mich dann immer, wie würde das heissen, wenn jemand wüsste, dass diese Menschen nicht unschuldig, sondern (irgendwie) schuldig gewesen wären? Hätten sie dann eher getötet werden dürfen, wäre der Mörder dann weniger ein Mörder? Oder wie ist das zu verstehen?
Den anderen Aspekt des Osterfestes habe ich nie begriffen: Wie kann ein allmächtiger Vater die Wesen, die er ja selber (offenbar nicht ganz richtig) geschaffen hat, damit “erlösen”, dass er sein Kind auf eine derart sadistische Art und Weise umbringen lässt? Und was hat der für ein Herz, dass er dann, wenn sein Kind von diesen nicht ganz richtig gemachten Wesen ermordet wurde, sich ausgerechnet mit diesen Wesen “versöhnen”? Mir hat der eierlegende Hase immer besser gefallen. Heute weiss ich warum!
lg Dürr