Biographien Rosemarie Kilian Grenzenlos - Über menschliche und göttliche Liebe. Ein Interview mit der Kammerschauspielerin Rosemarie Kilian. Von Ilona Wu Dao Wang
Grenzenlos - Über menschliche und göttliche Liebe. Ein Interview mit der Kammerschauspielerin Rosemarie Kilian. Von Ilona Wu Dao Wang
Grenzenlos - Über menschliche und göttliche Liebe Ein Interview mit der Kammerschauspielerin Rosemarie Kilian
Von Ilona Wu Dao Wang
Damals, im Mai 2011, hatte ich die verrückt anmutende Idee, Frau Rosemarie Kilian, die Grande Dame des Kieler Theaters, anzurufen und sie um etwas Besonderes zu bitten: nicht nur um ein Interview über die Schauspielerei, ihre kulturellen Verdienste und das Theatermuseum, sondern um ein Gespräch von Jung-Autorin zu Autorin – sie verfasste das Buch „Revolutionskind« – über Gott und die Welt, die Wirtschaft und die Rolle der Frau. Und Frau Kilian, der nie etwas zu ausgefallen war, sofern ehrliche und gute Absichten dahinter standen, empfing mich.
Sie wohnte am Kieler Fernsehturm direkt am Viehburger Gehölz, in einem kleinen Reihenhaus aus rotem Backstein. Beim Klingeln an ihrer Haustür fiel mir ein Aufkleber in der linken oberen Türecke ins Auge. “Theater muss sein.” Dahinter ein großes Ausrufezeichen. Die Grande Dame - klein, drahtig, rotbraun gefärbte Kurzhaarfrisur - öffnete und bat mich mit energischen Bewegungen herein. Ich folgte ihr in ein hinteres Wohnzimmer, vorbei an einem Sammelsurium aus 30er-Jahre-Möbeln und durfte schließlich auf einem gestreiften Sofa unter dem Ölporträt Platz nehmen, das Frau Kilian in der Rolle der Goneril aus König Lear darstellte. Es mag Hunderte stilvolle Arten geben, einen Teetisch zu decken, aber an so einem Tisch sitzen zu dürfen, war zur Rarität geworden, einfach weil es nur noch wenige GastgeberInnen dieser alten Ära gab. Dünne Gläser in Teeglashaltern aus Neusilber, auf den Untertassen zierliche Teelöffel, mehrere Sorten Gebäck nach Art und Form sortiert auf Tellern mit Goldrand, passende Zuckerdose, gläserne Karaffe mit Rum.
Schnell wurde klar, dass es schwer werden würde, meine Fragen zu stellen, denn Frau Kilian hatte einen jugendlich lebhaften Geist und sie war neugierig. Mit Mühe gelang es mir immer wieder, sie dezent daran zu erinnern, dass ich doch Fragen los werden wollte.
Es fiel auf, dass Frau Kilian für ihre Antworten immer nur sehr kurz nachdenken musste. Ein Gespräch mit ihr war wie ein Federballspiel, mit guten elastischen Schlägern und guten Bällen mit echten Gänsefedern, denn ihre Art der Konversation war schnell und leicht.
Wang: “Frau Kilian, wie kamen Sie zum Schreiben, und sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Bühnentalent und Schreibdrang?”
Kilian: “Ja doch! Sprechen und Schreiben, ergänzt sich das nicht? Wir Schauspieler bekleiden Jahre und Jahrzehnte Rollen, sprechen fremde Texte und erfüllen sie mit Leben. Irgendwann entsteht dann der Wunsch, selbst zu erzählen, mit eigenen Worten zu erzählen, eigene Freude, eigenen Schmerz auszudrücken, und dann fangen viele an zu schreiben.”
Wang: “Wie lange haben Sie für die Arbeit an Ihrem Buch “Revolutionskind Erinnerungen an Leben und Bühne” gebraucht?”
Kilian: „Drei Jahre. Wohl gemerkt aber neben meinem Beruf. Bis ich 85 wurde, war ich ja noch mit Vertrag fest im Ensemble. Oft habe ich täglich daran gearbeitet, an freien Abenden auch mal bis in die Nacht, aber wenn wir eine Premiere hatten, kam es auch vor, dass ich vier Wochen gar nicht zum Schreiben kam.”
Wang: “Gab es für Sie Schwierigkeiten im Schreibprozess?”
Kilian: “Ja, das Schwierige bestand darin, dass ich keine Gesprächspartner darüber hatte, weder über die damalige Zeit noch über das Schreiben. Ein anderes Problem war manchmal das löcherige Gedächtnis.”
Wang: “Löcheriges Gedächtnis? Nein, das glaube ich gerade Ihnen nicht.“
Kilian: “Doch! Manchmal glaubte ich in einem bestimmten Haus mit der und der Rolle auf der Bühne gestanden zu haben, aber das stimmte überhaupt nicht. Wenn ich das dann anhand meiner Tagebücher, die ich zum Glück lebenslang führte, oder mit den Bühnenjahrbüchern verglich, zeigte sich, dass ich dort ganz andere Rollen gespielt hatte oder in dem Jahr schon andernorts war. Auch habe ich über die Jahre so viele Menschen kennen gelernt, dass ich mir unmöglich alle Namen und Gesichter merken konnte.”
Wang: “Man bemerkt in ihrem Buch, dass Sie eine grundsätzliche Religiosität haben, die über eine begrenzte Art des von der Kanzel gepredigten protestantischen Glaubens hinausgeht. Wie kamen Sie zu diesem Glauben und was ist Ihr zentrales Thema dabei?“
Kilian: “Ja, ich bin von Haus aus evangelisch, aber schon meine Eltern hatten einen sehr freien Umgang mit dem Glauben und gingen nicht oft in die Kirche. Aber Glaube war immer auf völlig undogmatische Weise Thema. Meine zentrale Frage war immer wieder und ist es auch immer noch: Was ist der Sinn meines Lebens?”
Wang: “In Ihrem Buch haben Sie wiederholt von “Zeichen und Botschaften” beim Sterben oder nach dem Tod von Verwandten und Bekannten berichtet. Glauben Sie an so etwas wie eine Kontinuität über den Tod hinaus, auch noch Jahre nach dem Tod?”
Kilian: „Ja, unbedingt. Der frühe Tod meiner Mutter war ein Schock für mich. Aber irgendwann merkte ich, dass sie um mich war, bis heute noch merke ich eine gewisse Geborgenheit durch sie. Das ist mir ein Zeichen dafür, dass sie sich in einer bestimmten Sphäre befindet und nicht auf die Welt wiedergeboren ist.”
Wang: “Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie das Gefühl hätten, von einer Seele eines verstorbenen, vertrauten Menschen aufgefordert zu werden, sein oder ihr Leben aufzuschreiben. Würden Sie schreiben?”
Kilian: “Ja, das würde ich.”
Wang: “Sie schreiben ab und zu, dass Sie mit Freunden das damals nicht unpopuläre Gläserrücken probiert hatten, mit teilweise verblüffendem Erfolg. Sie erhielten unvermutete Antworten über den Verbleib auch von noch lebenden Menschen, die sich kurz darauf bestätigten. Darum die Frage: Haben Sie schon mal mit Fremdgefühlen zu tun gehabt, also mit Gefühlen, die nicht ihre eigenen sind, sondern die einer Kontinuität eines Verstorbenen?”
Kilian: “Nein, so weit ist es nie gekommen. Ich versuche immer wieder eine derartige Verbindung zum Übersinnlichen zu bekommen, aber bis auf ein paar Träume, in denen ich den Tod naher Menschen träumte, und etwas Gläserrücken, gelingt es mir nicht.”
Wang: “Was denken Sie über die Phänomene Zeit und Raum?”
Kilian: “Ich denke, dass alles so unendlich und grenzenlos ist, dass wir es unmöglich fassen können.” Frau Kilians Augen leuchten während des Gesprächs oft begeistert, zuweilen sogar übermütig auf. Ich merke, dass man sich mit ihr auf diese Weise Stunden unterhalten konnte, allein nur zu diesem Themengebiet, dabei hatte ich doch auch frauenspezifische Fragen mitgebracht.
Wang: “Sie deuten in Ihrem Buch an, dass der Zweite Weltkrieg einen gesellschaftlichen Einschnitt gebracht hat und besonders zu einem Nicht-mehr-Funktionieren von vielen Ehen und Familien führte?”
Kilian: “Ja, das konnte man wirklich beobachten. Wohl besonders in Deutschland. Mag sein, dass die Ehen im Kaiserreich oft nicht gut waren, aber es wurde daran festgehalten. Sie wurden oft mit einer gewissen Würde aufrecht erhalten. Man hielt viel von Stabilität. Die Weimarer Republik, spätestens der Zweite Weltkrieg brachte wirklich einen Einschnitt und danach gab es viel Turbulenz. Viele Ehen gingen nach dem Krieg auseinander, und die unsinnigsten, unglaublichsten Verbindungen entstanden, in denen man aber immer ein bestimmtes geistiges Niveau bemerken konnte. Menschen, von denen man annahm, sie blieben zusammen, spurteten auseinander. - Alles in unglaublichem Tempo. Oft auch mit großer Dramatik. Man könnte sagen, das Grundelement des menschlichen Zusammenlebens brach zusammen. Und insgesamt ist viel menschliches Format den Bach hinunter gegangen.”
Wang: “Sind Sie auch der Meinung, dass die Emanzipationswelle im letzten Jahrhundert kaum etwas oder wenn ja dann eher Widersinniges hervor gebracht hat, so das Frauen beispielsweise ‚Karriere’ machen dürfen, aber dennoch Haushalt, Pflege, Kinder wie nebenbei als Hobby schaffen sollen und sie eine größere Last tragen als je zuvor?”
Kilian: “Ja, das sehe ich so. Es hat sich nicht wirklich zum Besseren gewandelt, vor allem, wenn wir mal bedenken, wie lange schon dafür gekämpft wird. Habe ich in meinem Buch eigentlich erwähnt, dass meine Mutter schon in den zwanziger Jahren so etwas wie eine Art Frauenberatungsstelle und Eheberatungsstelle aufgemacht hatte?” (Ich schüttele erstaunt den Kopf sie fährt fort.) “Meine Mutter beriet Frauen, die sich Hilfe und Rat suchend an sie wandten und konnte sie dann wieder an andere tatkräftig helfende Stellen weiter verweisen. Es ging um Fragen von Gewalt durch die Ehemänner, Trunksucht, Schulden usw. Ihre Beratungen waren sehr beliebt, es kamen immer mehr. Das Problem: Sie kamen immer in unsere Wohnung, die ja eine Dienstwohnung im Bankgebäude war. Mein Vater meinte irgendwann, das könne so nicht weiter gehen, und so hat meine Mutter die Beratungen ins Gemeindezentrum ausgelagert.”
Wang: “Hätten Sie einen Lösungsansatz, um die Situation der Frauen zu verbessern?”
Kilian: “Das Problem ist, dass Frauen immer noch den Fehler machen, Männer nachzuahmen, aber sie reißen das Ruder nicht herum, um in eine andere Richtung zu segeln. Wir sind noch immer in einem Patriarchat, allerdings in einem nicht mehr und immer weniger funktionierenden. Vielleicht ist jetzt die Chance gekommen, jetzt da nun die Finanzwelt zusammenbricht. Die Krise ist ja noch nicht zu Ende. Wir werden in dieser Hinsicht nur verdummt. Die Krise geht weiter. Ich denke, die Finanzwelt wird noch international zusammenbrechen. Macht wird umverteilt und neue Wege werden beschritten.” Wang: “Empfinden Sie auch die Generation der Nachkriegsgeborenen, vor allem der zwischen 45 und 55 Geborenen als besonders ordentlich, begrenzt und spießig?”
Kilian: “In gewisser Weise schon. Das ist die Generation, die politisch versagt hat. Aber letztendlich mache ich mir und meiner Generation den Vorwurf: Wir haben sie falsch erzogen.”
Wang: “Welche Botschaft würden Sie gerne weitergeben?”
Kilian: “Ich würde den Menschen nahe legen, dass wir ohne uns um die allumfassende menschliche und göttliche Liebe zu bemühen, gar nicht wirklich existenzfähig sind.”
Wang: „Vielen Dank Frau Kilian!“
Rückblickend erinnere ich mich, dass wir an jenem Tag noch viele gedankliche Federbälle losschwirren ließen, bis ein Blick auf die Uhr verriet, dass ich dreieinhalb Stunden auf dem gestreiften Sofa unter dem Goneril-Portrait verbracht hatte! Ich machte mir Vorwürfe, eine alte Dame so sehr überstrapaziert zu haben und kündigte mein Losgehen an, was nur den Auftakt zu einem regen Haustürgespräch im Stehen war und der Beginn einer »Fittich-Freundschaft« wurde. Ich durfte noch oft anrufen und sie etwas fragen. Zu meinem kranken Hund sagte sie einmal in freundlich-resolutem Ton: »Du musst Dir einfach mehr Mühe geben!« Das war sehr typisch für sie: Mühe, Herzblut und langer Atem. Zu ihrem 94. Geburtstag durfte ich neben ihr sitzen. Einige Stunden Vortrags- und Vorleseunterricht, viele Anregungen und ideelle Geschenke habe ich von ihr erhalten. Einmal ein Kalenderblatt aus einem Literaturkalender. Über der Abbildung der Autorin Jane Bowles stand in Blockbuchstaben: FEBRUAR. - Der Monat, den sie mit ihrem Tod am 31.1. 2014 leider nicht ein weiteres Mal erlebten sollte.
Nun merke ich es auch, das Grenzenlose: Die Impulse und Ideen dieser wunderbaren Frau leben weiter und ihre Tatkraft bleibt ansteckend.
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