Biographien Marlene Stenten Marlene Stenten: Vorgeburtliche Erfahrung
Marlene Stenten: Vorgeburtliche Erfahrung
Ich las in Secheheye Tagebuch einer Schizophrenen, und da wurde mir klar, ich war irgendwo einmal in einem grünen Sein, in dem ich mich sehr glücklich fühlte.
Jedoch eines Tags begann alles zu gleiten. Ich versuchte mich festzuhalten in einer Gallertmasse und dann dachte ich, lass los, halte dich nicht so fest, sonst gibts Ärger. Ich geriet immer mehr ins Rutschen, und meine Mutter erzählte mir später „herausgeschossen sei ich aus ihr wie aus einer Pistole, eine schnelle glückliche Geburt“. Sie liebte mich deswegen. Mir aber war, als sei ich mit den Füßen nach vorne gestürzt und nicht mit dem Kopf, wie es eigentlich richtig gewesen wäre.
Alsdann hätte ich auch gerne gewusst, wo ich mich aufhielt, bevor ich mich erinnern konnte, war aber überzeugt, daß ich nie dorthin fände. Ich hatte mich leider nicht bemüht, die Kunst des Meditierens zu erlernen, wie sollte ich da zurückfinden in eine Nichtzeit, Vorzeit, Vakuum.
Einmal während einer Gruppenreise durch die UDSSR hielt ich mich spätabends in Moskau auf, und begegnete einer Hochzeitsgesellschaft. Das Brautpaar sang mitreißend die Straße entlang, dass es mich ergriff und ich noch lange hinter ihnen herlief, als die anderen Gäste sich schon zerstreut hatten. Nachts im Hotelbett liegend, erfüllt vom Gesang, war mir, als hätte ich dies alles schon einmal erlebt: In einem ganz anderen Zustand, unendlich fremd und dennoch wie um einen einzigartigen Frühlingstag wissend, hörte ich ein Paar, Frau und Mann singen, derart, dass ich sie irgendwo hinter einer Hecke im Grünen endlich ortete. Und ich hörte, hörte ihnen zu und dann war es plötzlich, als sei ich aufgegriffen worden und verschwand.
Es gab noch eine Erfahrung, die begann zeitlich etwas vor meinem Weggang aus Berlin und setzte sich fort, als ich in Kreuzlingen in der Schweiz lebte. Wiederholt, manchmal Nacht für Nacht träumte ich, dass die Wand rechts an meiner Schlafseite sich öffnete, manchmal erst, indem ich drauf blickte, aufriss - es ging viel zu schnell, um Konkretes dahinter auszumachen, nur die starken Farben, rötlich, orange, rot- braun, und Weite und Tiefe des Raumes. Jedoch es blieb stets das gleiche Gefühl in mir zurück - ich hatte etwas unendlich Wichtiges verloren oder verlöre es noch und könnte es nie mehr wiederfinden. Und während ich noch suchte, den Blick unverwandt auf der Wand, begann diese sich bereits zu schließen, manchmal verdämmernd, sich auflösend zuweilen, immer von links nach rechts sich zusammenschiebend, ineinanderfallend. Einmal fand ich mich erwachend, schreiend im Bett knieend, mit den Händen an der normalen Zimmerwand kratzend. Wer damals in meiner Nähe schlief, hörte mich oft schreien.
Ich sprach zu keiner/m von diesem Traum. Wenn ich schwiege, so glaubte ich, bliebe eines Nachts die Wand offen und ich erführe, was es damit auf sich habe. Viel später sinnierte ich: die Wand hätte mich in sich hineinreißen können. Das war mir aber damals nicht eingefallen, gewiss hätte ich dann Angst gehabt.
Nach meinem Umzug von der Grenzstadt Kreuzlingen nach Konstanz erlebte ich kein einziges Mal mehr die aufreißende und sich verschließende Wand, stattdessen spürte ich mich selbst in einer lang zurückliegenden langwährenden Zeitlosigkeit mit vielen anderen Wesen wie in einer Wand, die man aber in allen Richtungen durchschreiten konnte. Wir waren in einem Zustand der Glückseligkeit und niemand wollte weg. Irgendwann aber begannen einige zu erzählen, daß man dort und fort und anderswohin gehen könne, solle, müsse. So entstand eine Unruhe. Unser Miteinandersein lichtete sich, wir wurden sichtlich weniger in einem für mich unangenehmen rasanten Tempo. Ich war bei den Wenigen, die nicht wegwollten. Dann aber wurde mir klar, ich muss jetzt auch gehen, sonst: bin ich hernach ganz alleine hier, und die Letzte will ich nicht sein.
So löste auch ich mich endlich, bewegte mich, mir schien bei ziemlich dunklem abnehmendem Mond, auf etwas wie die Erde oder einen anderen Planeten zu. - Und ich glaube, dann geschah, dass ich dort auf die beiden wunderbar singenden Frau und Mann traf, mich nicht mehr empfand, wahrscheinlich in ihren Körpern verschwand.
Worauf vermutlich alles wie aufs neue begann, ich aber zutiefst wusste, ich werde mich nie ändern. Ich bleibe so, dass ich immer suche, die Gemeinschaft, die Gruppe und ich gehe erst, wenn mir nichts anderes übrig bleibt.
(Mündlich vorgetragen von der Autorin am 18.8.2007 in Zürich)
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