Biographien A. S. Byatt Das Geheimnis der Melusine: Überlegungen zu A.S. Byatts Roman "Besessen" - von Renate Kraft
Das Geheimnis der Melusine: Überlegungen zu A.S. Byatts Roman "Besessen" - von Renate Kraft
In ihrem Roman ‚Besessen‘ erzählt A. S. Byatt die Geschichte zweier Liebespaare als Montage sehr verschiedenartiger Texte: viktorianischer Dichtungen und Nachdichtungen, wissenschaftlicher Abhandlungen und Biografien, Erzählerberichte und Dialoge auf mehreren Zeitebenen, Briefe und Tagebucheinträge aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Was wie eine postmoderne Zitatencollage anmutet, ist in Wahrheit eine Erzählung aus ganz und gar erfundenen Bestandteilen. Nur den mythologischen Kern, die Sage von der schönen Melusine, gibt es auch außerhalb des Romans.
Die Sage wird im Verlauf des Romans mehrfach erzählt, in fragmentarischer Form zumeist, dafür fast immer mit einer Interpretation versehen. „Sie heiratete einen Sterblichen“, berichtet etwa der smarte Macho Fergus Wolf, „um eine Seele zu bekommen“, und er wiederholt damit eine gängige Erzählvariante, der zufolge Melusine vor allem auf Erlösung von ihrer Feen-Natur angewiesen ist. Die Erlösung misslingt, weil ihr Ehemann, Ritter Raimondin, „natürlich“ (meint Fergus Woolf), sein Versprechen bricht und Melusine mitsamt ihrem verheimlichten Fischschwanz im Bade beobachtet, worauf sich Melusine in einen Drachen verwandelt und davonfliegt, „mit schrecklichem Krach und Geheul“.
Die akademischen Feministinnen des Romans, die von der Autorin zuweilen ins Lächerliche gezogen werden, verstehen die Melusinen-Sage dagegen als sexuelle Fantasie mit mythologischen Bezügen. Melusine im Bade, da genießt eine selbstbestimmte Frau ihre vollkommene weiblich-männliche Gestalt. Der Fischschwanz der Melusine wird so zum Ausweis weiblicher Autonomie, Melusine selbst zum Vorbild für ihre Schwestern aus dem 20. Jahrhundert.
Die Sage von der schönen Melusine, die im Roman zum Gegenstand so unterschiedlicher Deutungen wird, wurde von dem französischen Schriftsteller Jean d‘Arras im 14. Jahrhundert auf der Basis alter Chroniken und mündlich tradierter Erzählungen niedergeschrieben und verbreitete sich in der Folge in ganz Europa. In der Fassung des Jean d‘Arras weist sie einige Ungereimtheiten auf: Da wünscht sich Melusines Mutter, ihre Töchter möchten der menschlichen Natur näher gebracht und dem Gesetz der Nymphen und Feen entzogen werden. Aber es ist gerade die Feen-Natur der Töchter, ihre überirdische Schönheit und ihre Zauberkräfte, die ihren weniger begünstigten Ehemännern zu Glück, Ehre und Reichtum verhelfen.
Andererseits: Warum gebiert die schöne Melusine ihrem Ehemann lauter missgestaltete Söhne? Offenbar können ihre Zauberkräfte hier nichts ausrichten. Warum schließlich bleibt der Umstand, dass Melusine den Ritter Raimondin von quälenden Schuldgefühlen befreit, ein blindes Motiv, ohne Auswirkungen auf die weitere Handlung? Stattdessen rückt Melusines Verwundbarkeit in den Fokus des Erzählens, ihr Angewiesensein auf Raimondins Loyalität, die bekanntlich dem sozialen Druck auf Dauer nicht standhält, so dass er den Fischschwanz seiner Frau ausspäht und öffentlich bekannt macht.
Hier wirkt sich wohl auch die Uneinheitlichkeit der Überlieferung aus, auf die Jean d‘Arras zurückgriff und deren Brüche er nur oberflächlich glättete. Offenbar hatte bereits während des Mittelalters im Medium des Erzählens über die Melusine eine Auseinandersetzung über das Schicksal des Weiblichen im Patriarchat stattgefunden, in deren Verlauf sehr unterschiedliche Bilder von der Melusine entstanden waren.
Der Erzählauftrag des Jean d‘Arras wiederum bestand darin, den Herrschaftsanspruch des Hauses Lusignan durch eine Familiensaga mit übernatürlichen Einflüssen abzufüttern. Dazu passt, dass d‘Arras zwar die besonderen Fähigkeiten der Melusine hervorhebt, gleichzeitig jedoch die Geltung der gesellschaftlichen Strukturen, in die Melusine gerät, bekräftigt. Auf diese Weise verwandelt er die Geschichte von der Erlösung eines Mannes durch eine machtvolle Frau sukzessive in den Bericht vom Schicksal einer auf Erlösung durch einen Ehemann angewiesenen Fee in der Menschenwelt.
In der fiktionalen Welt von Byatts Roman haben sich die beiden weiblichen Hauptfiguren, die Viktorianerin Christabel LaMotte und die moderne Maud Bailey, auf je eigene Weise mit der Figur der schönen Melusine beschäftigt. Christabel hat ein Versepos verfasst, Maud eine wissenschaftliche Monografie herausgegeben. Im Fortgang der Romanhandlung rekonstruiert Maud zusammen mit dem schüchternen Doktoranden Roland Michell eine heimliche Liebesbeziehung Christabels mit ihrem Dichterkollegen Thomas Henry Ash, und während der gemeinsamen Detektivarbeit verlieben sich auch Maud und Roland ineinander.
Die Ähnlichkeiten zwischen den Romanfiguren Christabel und Maud sowie ihrem mythologischen Vorbild Melusine sind unübersehbar. Schon durch ihre äußeren Merkmale, beispielsweise die langen blonden Haare, werden die drei Figuren miteinander verbunden. Sowohl Christabel als auch Maud haben zunächst eine Frau geliebt und beide erleben in ihren Beziehungen zu Männern eine Verwundbarkeit, in der sie sich der Melusine ähnlich fühlen.
Christabel LaMotte bezieht sich zu Beginn ihrer Liebesgeschichte mit Ash ausschließlich auf die machtvolle Seite der Melusinenfigur. Der Fischschwanz der Melusine repräsentiert für sie die wilde Seite der Frau, eine animalische Kraft, von der sie annimmt, dass sie den gewöhnlichen Mann erschreckt, wenn er sie entdeckt. Ohne es so zu benennen, versteht sie den Fischschwanz als phallisches Symbol, das den Wunsch aller Menschen nach Wirkungsmacht und Unverwundbarkeit verkörpert.
Ihre unbekümmerte Selbstgewissheit kommt Christabel abhanden, als sie von Ash schwanger wird. Dem rechtlosen Status einer ledigen Mutter in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts kann sie zwar entgehen, indem sie ihre Tochter heimlich zur Welt bringt und sie von ihrer verheiraten Schwester großziehen lässt. Dennoch bezahlt sie für die Freiheit, die sie sich genommen hat, einen hohen Preis: den Verlust ihres Kindes, die Schuldgefühle, als ihre Lebensgefährtin Blanche (die sie zugunsten von Ash verlassen hat) sich in der Themse ertränkt, und die demütigende Situation einer unverheirateten Frau am Rande der Großfamilie. In ihrem letzten Brief an Ash beklagt die alt gewordene Christabel die Einsamkeit und Nutzlosigkeit ihres Lebens, „wie eine alte Hexe in einem Turm“.
Aber trotz der prüden Moral ihrer Zeit ist Christabel sich ihrer Sexualität vollkommen sicher. Aus der Perspektive des überraschten Ash wird geschildert, wie genau sie ihre sexuellen Wünsche und Genussmöglichkeiten kennt und wie zielstrebig sie sie verwirklicht. Verbergen muss sie einzig ihre außereheliche Beziehung und deren Ergebnis, die Schwangerschaft, weil das patriarchalische Gesetz im Namen von Sitte und Anstand vor allem die Frauen bestraft.
Maud Bailey hingegen, Nutznießerin der neuen Lebensmöglichkeiten von Frauen im 20. Jahrhundert, scheint ihre Sexualität ebenso vollständig verbergen zu wollen wie Melusine ihren Fischschwanz, dessentwegen sie in der Menschenwelt so verwundbar ist. Als in der Sage Raimondin in Melusines Zimmer eindringt und ihr ihr Geheimnis entreißt, zerstört er das fragile Gleichgewicht der Kräfte in ihrer beider Ehe.
Diese Bemächtigung ist es, die Maud in ihren sexuellen Beziehungen fürchtet und die sie in der Erinnerung an die Affäre mit Fergus Wolf mit dem Bild des ‚gemarterten Betts‘ umschreibt. Deswegen müssen in der sich anbahnenden Liebesbeziehung Mauds mit Roland die Machtverhältnisse sorgfältig austariert werden, deshalb müssen die beiden eine Éducation sentimentale in ihren weißen Einzelbetten absolvieren, bevor die unnahbare Maud sich hingeben kann.
Doch indem Byatt die Liebesgeschichte von Maud und Roland als sexuelle Erlösung Mauds erzählt, geht ein charakteristisches Merkmal der Melusinenfigur verloren. Noch in der Fassung des Jean d‘Arras braucht Raimondin Melusine genauso nötig wie sie ihn, Macht und Abhängigkeit sind auf beide Geschlechter verteilt.
Bei Byatt fehlen Roland zwar alle Attribute äußerer Macht und gesellschaftlicher Privilegierung, auch wird die gemeinsame Detektivarbeit als ein Musterbeispiel von Interdependenz konstruiert. Der Bericht von der ersten Liebesnacht jedoch zeigt Roland ausschließlich als Subjekt, Maud ausschließlich als Objekt des sexuellen Handelns: Er „ergriff Besitz von ihr und erwärmte sie mit seinem Körper, bis es keine Grenzen mehr zu geben schien“ - bedarf nicht auch Roland der Erwärmung? Wird er nicht auch ergriffen von der Lust, die zwischen Maud und ihm entsteht?
Indem die Erzählerin das, was Roland in der Begegnung mit Maud erlebt, weitgehend ignoriert (zugunsten dessen, was er bewirkt), kippt das so mühsam hergestellte Gleichgewicht zwischen den Liebenden in die altbekannte Schieflage zurück. Und die Leser:nnen warten vergeblich auf Bilder von einer Sexualität, in der durch eine Wechselseitigkeit von Begehren, Macht und Hingabe beide, Roland und Maude, erlöst werden könnten.
Literatur:
Byatt, A.S.: Possession. A Romance, London 1990, dt. Besessen, übers. v. Melanie Walz, Frankfurt/M. 1993
Hülk, Walburga: Melusine – Lusignan: Fiktive Genealogie im Namen der Mutter. Zum altfranzösischen Melusinenstoff, in: Roebling, Irmgard (Hg.): Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien, Pfaffenweiler 1992, S. 35-47
Lelle-Roll, Diana: Geschichten von Liebe, Leben und Tod. Zur Funktionalisierung der Intertextualität in Antonia S. Byatts ‚Possession. A Romance‘, Trier 2004
Liebs, Elke: Möglichkeitsfrauen und Wirklichkeitsmänner. Nachdenken über die Ursachen der vegetativen und ideellen Dystonie im literarischen Umfeld des Melusinen-Motivs, in: Roebling, Irmgard: Lulu, Lilith, Mona Lisa ...Frauenbilder der Jahrhundertwende, Pfaffenweiler 1989, S. 99-124
Moog, Hanna (Hg.): Die Wasserfrau. Von geheimen Kräften, Sehnsüchten und Ungeheuern mit Namen Hans, München 1987
Von Nixen und Brunnenfrauen. Märchen des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Berlin/Wien 1982
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