(Wilhelmina Abeles)
geboren am 23. März 1921 in Mirkov / Mirschikau (Westböhmen, tschech. Republik)
deutsch-tschechisch-US-amerikanische Germanistin und Kulturhistorikerin
100. Geburtstag am 23. März 2021
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
„Immer mit dem Gesicht nach Böhmen“ könnte über dem Leben der kulturhistorisch arbeitenden Germanistin Wilma Iggers stehen. Obwohl sie schon in Jugendjahren emigrierte und nachher nur noch besuchsweise oder zu Forschungszwecken zurückkam, blieb sie Böhmen emotional wie wissenschaftlich immer eng verbunden. Ihre Arbeiten zur Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im deutsch- und tschechischsprachigen Raum haben Forschungslücken geschlossen. Als Zeitzeugin ist Wilma Iggers eine mitreißende Erzählerin und große Brückenbauerin zwischen Zeiten, Nationen und Kulturen.
1 Kindheit und Jugend
Kurz nach der Staatsgründung der Ersten Tschechischen Republik geboren, wuchs Wilhelmina Abeles, so ihr Geburtsname, in einer Familie säkularisierter Juden in Mirschikau und Bischofteinitz im westböhmischen deutschsprachigen Grenzgebiet auf. Der Vater Karl Abeles (1896-1954), der in der Erinnerung der Tochter von seinen Zeitgenossen als charismatischer Mann empfunden wurde, führte mit Verwandten die familiär-genossenschaftliche „Kompanie Abeles & Popper“. Die in der Nähe von Bischofteinitz gelegenen Höfe wurden gemeinsam bewirtschaftet, alles gehörte allen. Es war mehr Pragmatismus als Ideologie in die Gründung der Kompanie eingeflossen, die erfolgreich wirtschaftete. Der Vater veranlasste, dass Wilma und ihre 1923 geborene Schwester Marianne regelmäßig in der Landwirtschaft mitarbeiteten. Wilma Iggers‘ sprichwörtliche Bescheidenheit und ihr bodenständiger Pragmatismus sind sicherlich auf diese Sozialisation zurückzuführen.
Die Familie gehörte zum deutschsprachigen Bürgertum von Bischofteinitz, wo sie ab 1925 ihren Wohnsitz hatte. Enge Kontakte zur weitläufigen Verwandtschaft in der näheren Umgebung prägten das Leben in der Familie. Als Volksschülerin hatte Wilma keine jüdischen Mitschülerinnen und erfuhr nach eigener Aussage wenig Antisemitismus. Sie sympathisierte im jugendlichen Alter mit der Sozialdemokratie. Die Mutter Elsa, geborene Ornstein (1897-1950), die von ihrer Tochter als intelligent, gebildet und humorvoll beschrieben wird, sorgte jedoch dafür, dass dies nicht öffentlich bekannt wurde. Erst nach dem Besuch der Deutschen Grundschule für Mädchen lernte Wilma Tschechisch, um das Gymnasium im ca. 10 Kilometer entfernten Domažlice (Taus) besuchen zu können. Während sich die Mehrheit der Deutschen in der Tschechischen Republik in den 1930er Jahren dem Nationalsozialismus zuwandte, entwickelte Wilma nun starke Bindungen an die Tschechen und alles Tchechische. Als die Familie 1938 wegen der Zuspitzung der politischen Lage und der Zunahme antisemitischer Umtriebe beschloss, nach Kanada auszuwandern, wäre sie aus Solidarität am liebsten in Böhmen geblieben.
Der Vater Abeles organisierte die Auswanderung, die für Wilma einen großen Einschnitt bedeutete und den Verlust eines „Paradieses“ und „meiner Tschechoslowakei“* Die Gruppe der Emigranten bestand aus den Mitgliedern der Kompanie und einigen weiteren Familien. Trotz der frühzeitigen Planungen musste die Flucht dann im November 1938 überstürzt stattfinden. Das Münchener Abkommen vom September hatte die politischen Verhältnisse grundlegend verändert. Das Abkommen war für Wilmas „Glauben an die Anständigkeit der Welt“ und die Verlässlichkeit der Politik – und nicht nur für sie – „der denkbar größte Schock.“* Über Brüssel, Antwerpen und England gelangte die 39köpfige Auswanderergruppe schließlich im November 1938 nach Hamilton / Ontario. Trotz der Trauer über den Verlust des bisherigen Lebens machte sich das junge Mädchen kaum Sorgen; sie vertraute darauf, dass ihr Vater die Herausforderungen meistern würde. Es galt, in der Umgebung von Hamilton eine Farm zu bewirtschaften, eine neue Sprache zu lernen und sich in der neuen Gesellschaft zurechtzufinden.
2 Studium
Ab Januar 1939 besuchten die Schwestern Abeles die Oberschule (Central Collegiate) in Hamilton und lernten ungemein rasch Englisch. Wilma begann mit Hilfe eines Stipendiums bereits im Herbst 1939 ein Studium an der streng reglementierten baptistischen McMaster University und wählte auf Anraten ihres Vaters Französisch und Germanistik als Studienfächer. Viele Mit-Emigranten, die sich von ‘praktischen’ Berufen mehr versprachen und deren Lebensmodell für Frauen das Ergreifen eines solchen frauentypischen Berufs und nach der Heirat das Abtauchen in einen Haushalt vorsah, kritisierten die Studienpläne. Sie bewerteten dies erst positiver, als Wilma später Dozentin an verschiedenen Universitäten wurde.
Wie schon in der Grundschulklasse und dem Gymnasium – dort war sie die einzige Jüdin gewesen – war sie zunächst eine Außenseiterin. Die eher atheistisch eingestellte Studentin kam sich in dieser frommen Umgebung als einzige Person kontinental-europäischen Ursprungs auf dem Campus isoliert vor. Und als weibliche, wenig religiöse, nicht aus den üblichen osteuropäischen Ländern stammende, gut englisch sprechende, studierende Person entsprach sie auch nicht unbedingt dem Bild, das sich der durchschnittliche Kanadier vom jüdischen Einwanderer machte.
Die junge Emigrantin fühlte sich auch nicht als Deutsche, sondern bewahrte eine Loyalität gegenüber den Tschechen und der Tschechoslowakei. Ihr „Held“ war, neben ihrem Vater, der Präsident der Ersten Tschechischen Republik, Masaryk. Weniger bedeutsam war dagegen für sie, wie auch für ihre Familie, die jüdische Identität. Auch wenn die Familie das Judentum nicht leugnete, waren bereits die Großeltern nicht mehr im religiösen Judentum verankert.
Die soziale Distanziertheit der Kanadier gegenüber den Einwanderern war ungewohnt. Wilma Iggers zeichnet retrospektiv von ihrem damaligen Leben auf der kanadischen Farm das Bild einer relativ isolierten, sich gegenseitig unterstützenden Auswanderer-Gemeinschaft, die ein karges Leben im europäischen Stil führte. Dennoch etablierten sich die Familien ökonomisch und sozial erfolgreich in der neuen Umgebung. Die anfänglich sehr bescheidenen familiären Ressourcen und Lebensumstände zwangen Wilma dazu, neben ihrem Studium verschiedene Jobs in Haushalten, in der Landwirtschaft oder als Französischlehrerin anzunehmen. Nach dem Bachelor-Abschluss 1942 prüfte sie in der Postzensur Ottawa die Briefe deutscher Kriegsgefangener und gab Deutschunterricht für Studienanfänger.
3 Familie, Beruf und zivilgesellschaftliches Engagement
Wilma – die ihren Vornamen Wilhelmina seit den 1940er Jahren nur noch abgekürzt verwendet – setzte ihr Master-Studium in Germanistik an der Universität von Chicago fort, wo sie sich zum ersten Mal mit Schwarzen befreundete. Dort lernte sie auch den Geschichtsstudenten Georg Iggers kennen, dessen Familie ebenfalls 1938 aus Hamburg emigriert war. Sie heirateten 1948 und bekamen zwischen 1951 und 1956 drei Söhne. Beide arbeiteten wissenschaftlich und in ihrem gesellschaftspolitischen Engagement eng zusammen.
In den 1950ern lehrten die Iggers’ an verschiedenen Colleges in den USA, u.a. am Philander Smith College für schwarze Studierende in Little Rock, Arkansas. Dort begann auch ihr Engagement für die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, das bis heute anhält. Später sind beide aktiv in der Friedensbewegung. Während des Vietnamkriegs berieten sie viele Kriegsdienstverweigerer.
Ein Eindruck des täglichen Arbeitspensums von Wilma Iggers während dieser Jahre: In Little Rock hatte sie ein Unterrichtspensum von 15-18 Wochenstunden. Dazu kamen Sitzungen, Korrektur- und Benotungsarbeiten. Der Arbeitstag reichte – wegen der wachsenden Familie und des heißen Klimas – von frühmorgens bis spätnachts, korrigiert wurde notfalls auch in der Badewanne. Wenn beide Eltern arbeiteten, wurden zur Kinderbetreuung und Erledigung von Hausarbeiten auch Studentinnen engagiert.
Seit Sommer 1945 promovierte Wilma Iggers mit einer Arbeit über Karl Kraus, die sie 1951 abschloss. Sie hatte alle notwendigen Kurse für die Promotion absolviert, musste aber bis zur Beendigung des Krieges für die Amerikaner am 14. August 1945 („VJ Day“, der Victory over Japan Day) wieder in der Postzensur in Ottawa arbeiten. Die Arbeit an der Dissertation gestaltete sich schwierig, was weniger an der Verfasserin lag, als vielmehr an einer Mischung aus plötzlicher, möglicherweise persönlich motivierter Distanz und unzuverlässiger Betreuung seitens des Doktorvaters Arnold Bergstraesser sowie langen zeitlichen Verzögerungen im Begutachtungsverfahren durch vier Professoren. Das Rigorosum, das als „gründliche Prüfung über die Literaturgeschichte, Kultur und Politik in Deutschland und Österreich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert“ (Iggers 2002, S. 50) angesetzt war, musste dann verschoben werden, denn am vorgesehenen Tag wurde das erste Kind der Iggers, Jeremy, geboren. Die ein halbes Jahr später nachgeholte „(…) Prüfung verlief, abgesehen von den eisigen Blicken meiner Professoren, problemlos.“ (Iggers 2002, S. 50) Entlassen wurde die frisch gekürte Doktorin dann mit der Frage, was sie denn mit einem Doktortitel wolle, wo sie doch nun ein Kind habe. Das war für sie sehr belastend und unschön. Die Betroffene vermutet aber, dass es anderswo nicht besser gewesen wäre und überhaupt hätte sie die „Hoffnung auf ein Happyend niemals“ (Iggers 2002, S. 50) aufgegeben.
Nach Zwischenstationen in Arkansas, New Orleans und Chicago ließen sich die Iggers’ 1964 in Buffalo nieder, wo Wilma bald als Germanistin am Canisius College arbeitete und ihr Mann als Historiker eine Professur an der staatlichen Universität von Buffalo bekleidete.
4 Europa
Zugleich reisten beide seit den 1960er Jahren vermehrt nach Europa, wo sie internationale Kontakte knüpften. Am Anfang stand ein längerer Forschungsaufenthalt Georgs in Frankreich. Von 1960 bis 1962 lebte die Familie deshalb in der Nähe von Paris. Weil sie in Göttingen eine Wohnung fanden, nach der sie in vergleichbaren deutschen Universitätsstädten erfolglos gesucht hatten, kamen sie anschließend in die südniedersächsische Provinz – und kamen immer wieder. Sie fanden in Göttingen viele Freunde, nicht nur an der Universität, und lebten zeitweise die Hälfte des Jahres dort, die andere Hälfte in Buffalo. Seit dem Ende der 1970er Jahre pflegte das Ehepaar zudem Kontakte über den „Eisernen Vorhang“ hinweg mit Forschungsreisen z. B. nach Polen, Ungarn, China, in die DDR und in die Tschechoslowakei, wo sie sich auch mit DissidentInnen trafen. Inzwischen leben Wilma und Georg Iggers nur noch in den USA, wo ihre Söhne, Schwiegertöchter und zahlreichen Enkel wohnen.
5 „Erweiterte ‘Mischpochologie’“
Wilma Iggers sammelte schon früh Zeugnisse der Sozial- und Kulturgeschichte der Juden in Böhmen und Mähren und hatte damit ihr Thema gefunden. Die Germanistin publizierte zahlreiche Aufsätze über böhmische Themen in der deutschen und tschechischen Literatur und gilt heute als ausgewiesene Expertin für böhmische Geschichte und Kultur. Natürlich ist die böhmische Thematik nicht zufällig: „Meine wissenschaftlichen Arbeiten, besonders über die Juden in den böhmischen Ländern, entstammen meinem Interesse an der Welt, aus der ich komme und sind – scherzhaft ausgedrückt – eine erweiterte ‘Mischpochologie’.“ (Iggers 2002, S. 307) Das zeigt sich bereits im Zusammenhang mit ihrer Dissertation über den ebenfalls in Böhmen geborenen Schriftsteller und Sprachkritiker Karl Kraus. Als sie Ende der 1940er Jahre die Arbeit schrieb, war Kraus außerhalb der europäisch-jüdischen Flüchtlingskreise kaum bekannt. Diese Unbekanntheit erschien ihr ebenso interessant wie die Person Kraus als eine kontroverse Reaktionen auslösende Gestalt. Ihre wegweisende Studie wurde erst 1967 unverändert veröffentlicht. Der Bekanntheitsgrad von Kraus nahm in diesem Zeitraum rasant zu. Es entstand eine Kraus-Renaissance, es bildete sich eine internationale Fangemeinde, aber der einerseits lobende, andererseits teils höchst missbilligende Tenor der Sekundärliteratur veränderte sich kaum. Neben einer Einführung in Leben, Werk und Denken thematisierte Wilma Iggers in ihrer Dissertation den absoluten und zentralen Wert der Sprache bei Kraus (Stichworte: Leidenschaft, Moral). Sie zeigt, wie sich daraus seine Kritik an Literatur und Literaturschaffenden sowie eine Fundamentalopposition zur Presse ableitet. Immer noch und immer wieder liest Wilma gerne Kraus. Sie schätzt seine Kriegsgegnerschaft, seine Sprachbegabung, seine Schlagfertigkeit, kritisiert aber auch seinen starken Antisemitismus und seine Einstellung gegenüber Frauen.
In den 1980er Jahren erhielt Wilma die Gelegenheit, eine Auswahl von Texten in einer Anthologie zu veröffentlichen. Das 1986 erschienene Lesebuch „Die Juden in Böhmen und Mähren“ füllt eine sozial- und kulturgeschichtliche Forschungslücke, indem es Einblicke in die Vielfalt der tausendjährigen Geschichte und der eigenen Lebenswelt der Juden in Böhmen und Mähren vermittelt. Das Buch umfasst in vier chronologisch angeordneten Abschnitten den Zeitraum zwischen 1744 und dem Anfang der 1950er Jahre.
Als Minderheit handelten die Juden oft in Reaktion auf Strukturen der Mehrheitsgesellschaft, etwa indem sie sich – oft vergeblich – anstrengten, dem Antisemitismus entgegenzuwirken. Wilma Iggers’ These lautet: Die Juden in Böhmen und Mähren konnten es keinem recht machen, egal wie sich verhielten. Letztlich konnten sie im Vielvölkerstaat mit wechselnden Loyalitäten zu verschiedenen Ethnien und in verschiedenen ethnischen Bündnissen nur widersprüchliche Identitäten entwickeln. Deutlich wird auch der enge Zusammenhang von Gesetzgebung und sozialem Aufstieg bzw. Abstieg der Juden. Die überwiegend autobiographischen Berichte thematisieren die Auswirkungen von Industrialisierung und Verstädterung auf das jüdische Leben wie auch den kulturellen, religiösen und familialen Wandel in dieser Bevölkerungsgruppe. Auf die Heterogenität des jüdischen Lebens deuten unterschiedliche Typen von Erziehungsmustern hin. Allen Berichten gemein ist jedoch das Narrativ vom „schweren Kampf ums Dasein.“ Auch nach der Verfolgung und Ermordung der Juden im Nationalsozialismus verbesserte sich ihre Situation nicht wesentlich: wieder wurden die wenigen tschechischen Juden, die den Nationalsozialismus überlebten und/ oder zurückkehrten, diskriminiert und waren nunmehr mit „rotem“ Antisemitismus konfrontiert.
Das positiv rezipierte Buch versammelt eine Unmenge heterogener Quellen. Man erkennt die ungeheure Fleißarbeit, die nötig war, um diese in den verschiedenen Bibliotheken, Archiven und bei den Nachkommen auszugraben und die meisten Quellen auch ins Deutsche zu übersetzen.
Auch nach ihrer Emeritierung im Jahr 1991 setzt Wilma Iggers ihre Forschungen und ihre Publikationstätigkeit fort. Direkt an das Lesebuch schloss sich eine Neuausgabe von Kohns jüdischem „Gil Blas“ an. In dem 1834 zuerst veröffentlichten ‘Schelmenroman’ erzählt ein armer Schächtersohn von seiner Jugend und seinem Aufstieg zum gebildeten Hauslehrer und geadelten Kaufmann. Die genauen Schilderungen der jüdischen Milieus – insbesondere das des (Klein-) Handels –, jüdischer Gebräuche und Riten zeichnen den dokumentarischen Wert des Buchs aus. Sprachlich elegante Formulierungen und die humorvolle Darstellung machen es auch zu einem Leseerlebnis. Kohn schreibt gegen die Autorität des orthodoxen Judentums. „Heine war ihm seelenverwandt, aber wir können annehmen, dass er ihm auch Vorbild war,“ schreibt Wilma Iggers in ihrem Nachwort.
Auf die Initiative der Verlegerin Marion Berghahn geht ein weiteres Buch zurück, das erschien, als Wilma bereits 79 Jahre alt war: „Frauenleben in Prag“. Es handelt sich um Porträts von 12 Prager Frauen aus allen ethnischen Gruppen, mit denen sie sich „trotz aller Unterschiede wenigstens teilweise identifizieren konnte.“ Dafür wurden gedruckte Quellen ebenso herangezogen wie literarische Vermächtnisse aus internationalen Archiven und familiären Nachlässen. Während der Recherchen ergab sich der überraschende Befund, dass deutsche nicht-jüdische Frauen offenbar nur geringen eigenen schriftstellerischen Ehrgeiz hatten und sich auf die üblichen Beschäftigungen des weiblichen Bürgertums beschränkten; die Materiallage gibt für sie nicht viel her. Bei den tschechischen Nicht-Jüdinnen scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Das Buch macht den eigenständigen Beitrag dieser Frauen für die Prager Kulturlandschaft klar erkennbar und relativiert damit gängige Ansichten.
Wilma Iggers war darüber hinaus als Expertin an der Ausstellung „Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen“ beteiligt, die 2004/05 im Deutschen Historischen Museum Berlin gezeigt wurde. Unter dem Titel „Das verlorene Paradies“ knüpft ihr Beitrag in dem Ausstellungskatalog ebenso an die eigene Fluchtgeschichte an wie an den Verlust des multiethnischen, friedlichen, gleichberechtigten und pluralistischen Zusammenlebens in der Ersten tschechischen Republik. Die nachfolgenden historischen Entwicklungen in der Tschechoslowakei / Tschechien – Stichworte: Münchner Abkommen, Zweite Republik, Protektorat, Holocaust, Befreiung 1945 und Vertreibung der Sudetendeutschen – prägten das politische Bewusstsein der Menschen, wurden aber auch in kommunistischer Lesart interpretiert bzw. instrumentalisiert. Wilma Iggers zeigt, wie geschichtliche Erinnerung für Geschichtspolitik vereinnahmt wird: Was taucht wie in Schulbüchern, im Kino, als Briefmarke, als Gedenkstätten-Broschüre auf? Auch erfährt man umgekehrt von den Leerstellen der Erinnerungspolitik: So war es in der kommunistischen Zeit beispielsweise problematisch oder mit Tabus besetzt, die weitverbreitete Kollaboration (oder Passivität) im Protektorat, den Holocaust, den Antisemitismus oder die Befreiung eines Teils des Landes durch die US-Armee anzusprechen. Allein zu Zeiten der vorsichtigen Reformversuche Ende der 1960er oder in den Kreisen der Dissidenten wurde dies diskutiert. Mit der ‘samtenen Revolution’ 1989 verschob sich die Erinnerungspolitik erneut: Heute wird zum Beispiel das KZ Terezín (Theresienstadt) mehr in den Mittelpunkt gerückt, die Vertreibungen der Sudetendeutschen werden kritischer gesehen und auch die Roma in die Holocaust-Forschung einbezogen. Es gibt inzwischen keine alleingültige offizielle Geschichtsschreibung mehr. In der Entwicklung einer offeneren und auch kontroversen Geschichtsforschung sieht Wilma Iggers einen Hoffnungsschimmer für eine bessere interkulturelle Verständigung.
6 Heimat im Plural
1966 war Wilma Iggers erstmals wieder nach Bischofteinitz zurückgekehrt, es sollte nicht das einzige Mal bleiben. Bei den regelmäßigen Besuchen in den Folgejahren traf sie nicht nur alte Schulfreundinnen wieder, sondern lernte - kommunikativ hochbegabt und sehr menschenzugewandt - viele neue Bewohner und Bewohnerinnen ihrer alten Heimat kennen, mit denen sie sich anfreundete. Für ihre Verdienste erhielt sie 2002 die Ehrenbürgerschaft von Horšovský Týn (Bischofteinitz) sowie 2004 den Gratias-Agit-Preis, den das tschechische Außenministerium an Personen verleiht, die sich Verdienste um die „Verbreitung des guten Rufs der tschechischen Republik“, wie es auf der offiziellen tschechischeen Homepage heißt (www.czech.cz), erworben haben.
Ebenfalls 2002 erschien die mit ihrem Mann Georg verfasste Doppel-Autobiographie „Zwei Seiten der Geschichte“, in der beide ausführlich über ihr bewegtes Leben berichten. Das Buch ist inzwischen in diverse andere Sprachen übersetzt und auf Englisch, Tschechisch, Spanisch und Chinesisch erhältlich.
Die Biographie von Wilma Iggers zeigt, dass es verschiedene Zugehörigkeiten und Bezugspunkte geben kann. Heimat wird zum Plural. Es gibt den Verlust, aber Wunsch-Orte kann man immer wieder finden. Wilma Abeles Iggers, wie sie sich in ihren Publikationen nennt, ist es gelungen, sich ihre multiethnische böhmische Kindheits- und Jugendkultur zu bewahren und sie ihren ZuhörerInnen wie LeserInnen näherzubringen. Aber dies dient nicht der Aus- und Abgrenzung, sondern, im Gegenteil, der Verbindung verschiedener Kulturen und Identitäten. Wilmas erzwungene migrantische Mobilität, ihre Mehrsprachigkeit, ihre prägende Sozialisation in einem traditionell kulturell gemischten und dynamischen Umfeld sind ein gutes und Mut machendes Beispiel für kulturelle Pluralität, die Menschen zusammenbringt.
Die mit einem * Sternchen gekennzeichneten Zitate entstammen den privaten Aufzeichnungen von Wilma Iggers, die den Autorinnen vorliegen.
Verfasserin: Andrea Gabler (unter Mitarbeit von Dagmar Friedrich und Frauke Geyken)
Links
www.zweiseitendergeschichte.de
http://www.mzv.cz/jnp/en/foreign_relations/public_diplomacy/gratias_agit_award/booklets_of_gratias_agit_award_2004_2012.html, letzter Zugriff: 15.3.2016.
Suche: Vilma Abelesová-Iggersová http://www.czech.cz/de/Rund-um-CZ/Fakten-uber-CZ/Personlichkeiten-der-Gegenwart/GRATIAS-AGIT-PREIS-2011, letzter Zugriff: 15.3.2016.
Literatur & Quellen
Werke von Wilma A. Iggers (Auswahl)
- Karl Kraus. A Viennese Critic of the Twentieth Century, The Hague 1967.
- The Flexible National Identities of Bohemian Jewry, in: East Central Europe 7/1 (1980), S. 39-48.
- Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch, München 1986.
- (engl. Ausgabe) The Jews of Bohemia and Moravia: A Historical Reader, Detroit 1992.
- Juden zwischen Tschechen und Deutschen, in: Zeitschrift für Ostforschung 37/3 (1988), S. 428-442.
- Die Prager Juden zwischen Assimilation und Zionismus, in: Pazi, Margarita / Zimmermann, Hans Dieter (Hg.): Berlin und der Prager Kreis, Würzburg 1991, S. 19-29.
- Joseph Seligmann Kohn: Der jüdische Gil Blas. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von W. Iggers, München 1993.
- Jüdinnen in Böhmen und Mähren um 1900, in: Dick, Jutta / Hahn, Barbara (Hg.): Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 1993, S. 157- 166.
- Women of Prague: Ethnic Diversity and Social Change from the Eigtheenth Century to the Present, 1995.
- (dt. Ausgabe) Frauenleben in Prag. Ethnische Vielfalt und kultureller Wandel seit dem 18. Jahrhundert, Wien u.a. 2000.
- Die jüdische Frau in Böhmen und Mähren und ihr Verhältnis zur Religion, in: Saurer, Edith (Hg.): Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten, Wien u.a. 1995, S. 261-277.
- Refugee Women from Czechoslovakia in Canada: An Eyewitness Report, in: Quack, Sybille (ed.): Between Sorrow and Strength. Women Refugees of the Nazi Period, Cambridge 1995, S. 121-128.
- (mit Georg G. Iggers): Autobiographie im Dialog (IMIS-Beiträge Heft 2), Osnabrück 1996.
- 1913. After two hundred years in which virtually no work by a Jewish woman writer has appeared in Prague, Babette Fried writes two collections of ghetto stories. in: Gilman, Sander L. / Zipes, Jack (ed.): Yale Companion to Jewish Writing and Thought in German Culture 1906-1996, New York / London 1997, S. 306-312.
- Zeiten der Gottesferne und der Mattheit. Die Religion im Bewußtsein der böhmischen Juden in der ersten tschechoslowakischen Republik, Leipzig 1997.
- Die Emigration der deutschen und österreichischen Juden in die Tschechoslowakei, in: Hoensch, Jörg K. / Biman, Stanislav / Lipták, Lubomír: Judenemanzipation - Antisemitismus - Verfolgung in Deutschland, Österreich-Ungarn, den Böhmischen Ländern und in der Slowakei (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 6), Essen 1999, S. 143 -154.
- Das jüdische literarische Milieu in Prag, in: Hahn, Hans Henning / Stüben, Jens (Hg.): Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 127-137.
- Das verlorene Paradies, in: Flacke, Monika (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Band II, Berlin 2004, S. 773-798.
- (mit Georg G. Iggers): Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten, Göttingen 2002.
- Die Problematik der Vertreibungen im 20. Jahrhundert aus der Sicht einer Zeitzeugin und Historikerin, in: Strobel, Thomas / Maier, Robert (Hg.): Das Thema Vertreibung und die deutsch-polnischen Beziehungen in Forschung, Unterricht und Politik, Hannover 2008, S. 123-133.
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