geboren am 21. Oktober 1929 in Berkeley, Kalifornien
gestorben am 22. Januar 2018 in Portland, Oregon
US-amerikanische Schriftstellerin
95. Geburtstag am 21. Oktober 2024
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Ein neuer Ton in der Science Fiction
„Der König ist schwanger“ (Le Guin 2014a 139). Das ist vielleicht einer der bekanntesten Sätze der Science-Fiction-Literatur. Geschrieben hat ihn Ursula K. Le Guin in ihrem Roman The Left Hand of Darkness (1969; dt. Winterplanet 1974, Die Linke Hand der Dunkelheit 1999). Und zwar bereits vor genau einem halben Jahrhundert, also lange vor allen Gender- und Queer-Debatten. Kein Wunder also, dass der Roman als „der Klassiker geschlechterexperimenteller Science Fiction“ (Löchel 2012 164) gilt. Man könnte ihn getrost neben Virginia Woolfs ebenfalls phantastischen Roman Orlando (1928) stellen, einen anderen Klassiker der geschlechterexperimentellen Literatur. Vermutlich ist es kein Zufall, dass beide Romane von Frauen geschrieben wurden, Neigen sie doch von jeher eher dazu, die herkömmlichen Geschlechterrollen subversiv in Frage zu stellen und zu unterlaufen.
Le Guins großangelegtes Unternehmen, in einem Science-Fiction-Roman die Bedeutung der biologischen Geschlechtlichkeit für die Gesellschaft zu erproben, wird bis heute immer wieder in zahlreichen Übersetzungen neu aufgelegt. In feministischen Kreisen wurde der Roman in den Jahren nach seinem Erscheinen dafür kritisiert, dass die Einheimischen des Planeten während ihrer geschlechtslosen Phase mit männlichen Personalpronomen und Artikel adressiert werden. Andere Frauenrechtlerinnen hielten dem entgegen, das Geschehen werde der Sicht eines in einer zweigeschlechtlichen und männlich dominierten Gesellschaft sozialisierten Mannes berichtet. Dem entspreche die Erzählweise. Le Guin stellte sich in mehreren Texten der Kritik und räumte ein, dass sie nicht unberechtigt sei. So hat sie sich in dem zuerst 1976 erschienenen und überarbeiteter Form erneut veröffentlichtem 1987 Aufsatz “Is Gender Necessary?” beziehungsweise „Is Gender Necessary? Redux“ dafür entschuldigt, dass alle GethianerInnen als Männer erscheinen. Denn sie habe versäumt, deren Androgynität nicht nur aus männlicher, sondern auch aus weiblicher Sicht zu schildern. Nicht nur aufgrund der kritischen Auseinandersetzung mit dem Roman Die linke Hand der Dunkelheit hatte die Neue Frauenbewegung seither einen großen Einfluss auf Le Guins literarisches und essayistisches Schaffen.
Doch schon zuvor hatte sie einen völlig neuen Ton in die bis dahin techniklastige und oft martialische SF gebracht und ihr ganz neue Themenfelder eröffnete, indem sie etwa philosophische, anthropologische, soziale, ökologische und nicht zuletzt Geschlechterfragen aufwarf. Es ist also keineswegs übertrieben, wenn in einem einschlägigen Nachschlagewerk konstatiert wird, sie habe „in der SF neue Maßstäbe gesetzt“ (Alpers u.a. 1988 652).
Nicht weniger innovativ war Le Guin auf dem Gebiet der Utopien, das sie mit ihrem SF-Roman The Dispossessed (1974, dt. Planet der Habenichtse 1976, Die Enteigneten 2006, Freie Geister 2017) neu belebte. In Freie Geister stehen sich die kapitalistische organisierte Gesellschaft des Planeten Urras und die der AnarchistInnen des ihn umkreisenden Mondes Anarres gegenüber. Tatsächlich hat die Gesellschaft letzterer allerdings wenig mit einer anarchistischen Utopie gemein. Vielmehr leidet sie an etlichen Schwächen des zur Zeit der Entstehung des Romans ‚real existierenden Sozialismus’.
Hatten die UtopistInnen von Platon über Thomas Morus bis hin zu William Morris perfekte und für die Ewigkeit gedachte Staats- oder wie Charlotte Perkins Gilman Gesellschaftsformen entworfen, so ist LeGuins anarchistische Gemeinschaft auf dem Mond Anarres alles andere als vollkommen und befindet sich weiterhin im Wandel. Mit ihrer, wie es im Untertitel heißt „ambigen Utopie“ löste die Autorin in den 1970er-Jahren eine regelrechte Welle feministischer Utopien wünschenswerter, aber auch prekärer Gesellschaften aus. Genannt seien hier nur Sally Miller Gearharts The Wanderground (1978) und Marge Piercys utopischer Gesellschaft in dem Städtchen Mattapoisett des Romans Women at the Edge of Time (1976).
Le Guins SF-Roman The Word For World Is Forest (1972; dt. Das Wort für Welt ist Wald 1975) wiederum lässt sich kaum anders denn als vehemente Kritik am Vietnamkrieg und der Umweltzerstörung lesen. Die Ähnlichkeiten mit dem cineastischen Blockbuster Avatar sind derart verblüffend, dass die Vermutung nahe läge, Le Guin habe sich von James Camerons Film inspirieren lassen, wäre er nicht erst an die vier Jahrzehnte nachdem Le Guins Buch erschienen war, gedreht worden.
Le Guin stellt in ihren Science-Fiction-Romanen nicht selten Gedankenexperimente an. So geht sie in Die linke Hand der Dunkelheit etwa der Frage nach, was wäre, wenn das Geschlecht eines Menschen nicht von vorneherein und ein für alle Mal feststünde, sondern unvorhersehbar variabel wäre. „Science Fiction sagt nicht vorher, sie beschreibt“ (Le Guin 2014a 6), fiktive „Orte und Ereignisse […], die es nie gegeben hat und nie geben wird“ (Le Guin 2014a 7), erklärte die Autorin einmal. Daher sagen die Gedankenexperimente ihrer Science Fiction Le Guin zufolge nichts über die Zukunft aus, sehr wohl aber – indirekt – über die Gegenwart, darüber, wie die Menschen und die Verhältnisse hier und heute sind.
Nicht minder bekannt als ihre SF-Werke, sind in Deutschland ihre Fantasy-Romane, allen voran die Erdsee-Reihe, in der sie schon lange vor Harry Potter einen jungen Magier auf eine Zauberschule und in diverse Abenteuer schickte. Obwohl bereits in Die Gräber von Atuan, dem 1972 erschienen zweiten Band der Reihe von einer Jugendlichen handelt, aus deren Perspektive das phantastische Geschehen geschildert wird, hat sich nach Le Guins eigener Aussage weitere 18 gedauert, bis es ihr in Tehanu, dem vierten Band der Reihe erstmals gelang, eine „vollkommen ausgereifte Frau ins Zentrum einer Romanhandlung zu stellen“ (2018a 10).
Le Guins Romane zeichnet nicht nur ein in der SF und Fantasy selten anzutreffender philosophischer Tiefgang aus, sie haben auch stets eine ausgeprägte gesellschaftskritische und politische Dimension. Sind ihre SF-Romane meist in dem von ihr geschaffenen Hainish-Universum angesiedelt, so ihre Fantasy-Romane nicht selten in der Erdsee-Inselwelt, dessen ursprünglich auf eine Trilogie angelegte Saga schließlich auf sechs Romane und einige Kurzgeschichten anwuchs. Postum erschien hierzulande eine reich illustrierte Prachtausgabe aller ihrer literarischen Erdsee-Texte (2018a). Einige davon waren bis dahin überhaupt noch nicht ins Deutsche übertragen worden.
Natürlich schrieben Frauen Science-Fiction-Romane, seit es das Genre gibt. Doch galt es noch immer als ausgesprochene Männerdomäne, als Ursula K. Le Guin 1970 die Bühne betrat und für The Left Hand of Darkness mit dem Hugo Award und dem Nebula Award als erste Frau die beiden bedeutendsten US-amerikanischen Auszeichnungen für literarische SF abräumte. Es dauerte nur vier Jahre, bis sie wiederum mit beiden Preisen ausgezeichnet wurde. Diesmal für The Dispossessed. Zwei Romane mit beiden Preisen gekrönt zu bekommen, diese Ehre war bislang noch niemandem widerfahren. Doch dabei blieb es nicht. Im Lyaufe ihres Lebens hat Le Guin rund 50 weitere Preise und Auszeichnungen eingeheimst. Darunter 2015 mit dem Kurd-Laßwitz-Preis auch den bedeutendsten der deutschsprachigen SF-Gemeinde. Kein Wunder also, dass Le Guin heute längst zu den kanonisierten Science-Fiction-AutorInnen zählt.
Nicht nur SF und Fantasy
Ist Le Guin hierzulande vor allem für ihre SF- und Fantasy-Romane bekannt, so wird sie im englischsprachigen Raum völlig zu Recht als weitaus vielfältigere Autorin anerkannt, die sich gleichermaßen sicher in so verschiedenen Textsorten wie der Lyrik und dem Essay bewegt. Nicht zu reden von ihren zahlreichen Kinder- und Jugendbücher. Zudem verfasste sie Libretti, Drehbücher und etliche Rezensionen etwa zu Werken von Margaret Atwood, Doris Lessing, Donna Leon, Stefan Zweig oder T. C. Boyle. Erst nach ihrem Tode wurde 2018 eine Sammlung mit essayähnlichen Texten in deutscher Übersetzung publiziert. Sie trägt den Titel Keine Zeit verlieren (2018b) und versammelt Einträge aus Le Guins 2010 ins Leben gerufenem Blog „über Alter, Kunst, Kultur und Katzen“, wie der Untertitel des Bandes ankündigt. Erst ein Jahr zuvor war die englischsprachige Originalausgabe unter dem Titel No Time to Spare. Thinking about What Matters (2017) erschienen. Es war das letzte ihrer Bücher, das Le Guin noch selbst herausgab.
In die Wiege gelegt
Der am 21. Oktober 1929 geboren Autorin war ihr literarisches Talent quasi in die Wiege gelegt. Denn als Schriftstellerin trat sie in die Fußstapfen ihrer Mutter Theodora Kroeber (geb. Kracaw), die etwa Legenden kalifornischer Natives wiederzählte. Auch ein Jugendbuch über die Abenteuer eines geflügelten Karussellpferdes zählt zu Kroebers Œuvre. Der Beruf ihres Vaters Alfred L. Kroeber scheint sich ebenfalls in Le Guins Werk mit seinen zahlreichen interkulturellen Begegnungen und gelegentlichen Konflikten bemerkbar zu machen. Er war Anthropologe. Doch zeugt Le Guins schriftstellerische Tätigkeit nicht nur von Kenntnissen im Fachgebiet ihres Vaters, auch soziologische, gesellschaftspolitische, psychologische Themen und Fragen der Geschlechtlichkeit werden in verschiedenen ihrer Werke behandelt. Nicht selten macht sich dabei ihre Nähe zu anarchistischen Ideen, den psychoanalytischen Auffassungen C. G. Jungs, und vor allem zu taoistischen Vorstellungen, mit denen sie sich zeitlebens befasste, bemerkbar.
Ein Leben zwischen den USA, England und Australien
Le Guin wurde 21. Oktober 1929 in Berkeley geboren, in dessen Nähe sie gemeinsam mit ihren drei älteren Brüdern aufwuchs. Als junge Frau zog sie an die Ostküste und besuchte das Radcliff College der Cambridge University in Massachusetts, wo sie 1951 ihren Bachelor in Literaturwissenschaft ablegte. Ein Jahr später schloss sie an der New Yorker Columbia University ihr Studium mit einem Master in Französisch ab.
1953 heiratete sie in Paris den Historiker Charles A. Le Guin, mit dem sie drei Kinder hat.
Bewegte sich Le Guin literarische durch Raum und Zeit ebenso selbstverständlich wie in diversen Fantasy-Welten, so verbrachte sie ihr Leben in der wirklichen Welt zumeist in den USA. Während eines durch ein Fulbright-Stipendium finanzierten Forschungsaufenthaltes in Frankreich lernte sie 1953 den Historiker Charles Le Guin kennen und heiratete ihn bald darauf. Das Ehepaar bekam zwei Töchter und einen Sohn. Ende des Jahrzehnts zog Le Guin mit ihrer Familie nach Portland.
Seit den 1950er-Jahren unterrichtete Le Guin an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten Französisch. In späteren Jahrzehnten hielt sie in den USA, England und Australien zudem Workshops in Creative Writing ab. Im Februar 2017 wurde sie in die American Academy of Arts and Letters gewählt. Es war dies die letzte große Ehrung, die ihr zu Teil wurde. Ursula K. Le Guin starb am 22. Januar 2018 in Portland. Ihre Werke aber leben weiter, so lange sie gelesen werden. Und da ist so bald kein Ende abzusehen.
(Text von 2018)
(Bei dem Text handelt es sich um eine überarbeitete und wesentlich erweiterte Version meines Beitrags über Ursula K. Le Guin im von Luise F. Pusch herausgegebenen Kalender Berühmte Frauen für das Jahr 2019. R.L., 2018)
Verfasserin: Rolf Löchel
Links
Ursula K. Le Guins Homepage:
http://www.ursulakleguin.com/UKL_info.html
Literatur & Quellen
Werkauswahl Ursula K. Le Guin:
Die Geißel des Himmels. 1974.
Das Wort für Welt ist Wald. 1975.
Is Gender Necessary? 1976
Das zehnte Jahr. 1987.
Die zwölf Striche der Windrose. 1980.
Always Coming Home. 1985
Is Gender Necessary? Redux. 1987
Planet der Habenichtse. 1999.
Lavinia. 2008.
Erdsee. 4 Romane in einem Band. 2013.
Die Linke Hand der Dunkelheit. 2014a.
Rückkehr nach Erdsee. (Erdsee-Zyklus 5) 2014b.
No Time to Spare. Thinking about what matters 2017.
Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe. 2018a.
Keine Zeit verlieren. Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen. 2018b.
Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führen und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft“. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Matthias Fersterer. Drachen Verlag, Klein Jasedow 2020, 96 S., 10 Euro
Sekundärliteratur:
Alpers, Hans Joachim/Fuchs, Werner/Hahn, Ronald M./Jeschke, Wolfgang. 1988. Lexikon der Science Fiction Literatur. Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe. München. Heyne Verlag. S. 651-653.
Löchel, Rolf. 2000. Anarchie und Gender: Zwei Utopische Klassiker von Ursula K. Le Guin. In: literaturkritik.de Jg. 2, H. 7/8 S. 126-128. Marburg. Verlag LiteraturWissenschaft.
Löchel, Rolf. 2012. Utopias Geschlechter. Gender in deutschsprachiger Science Fiction von Frauen. Sulzbach im Taunus, Ulrike Helmer Verlag.
Löchel, Rolf. 2018. Ursula K. Le Guin. In: Berühmte Frauen. Kalender 2019. Hrsg. v. Luise F. Pusch. Berlin, Suhrkamp Verlag. Ohne Paginierung.
Nestvold, Ruth. 1999. Androgyne, Amazonen und Cyborgs – Science Fiction von Frauen. In: Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann (Hrsgin.): Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart/ Weimar. Metzler Verlag. S. 219-230.
Ulbrich, Renate. 1998. LeGuin, Ursula K(roeber). In: Ute Hechtfischer, Renate Hof, Inge Stefan und Flora Veit-Wild (Hrsgin.): Metzler Autorinnen Lexikon. Stuttgart/ Weimar. Metzler Verlag. S. 295-296.
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