geboren am 29. August 1947 in Boston
US-amerikanische Tierwissenschaftlerin und Autistin
75. Geburtstag am 29. August 2022
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Was für ein Leben wartet auf ein Kind, das bis zum dritten Lebensjahr kein Wort spricht, dem Blickkontakt selbst mit der Mutter ausweicht, das bei Berührungen schreit und kreischt anstatt sich in der Geborgenheit der mütterlichen Arme zu entspannen, das die Tapete abkratzt und sie dann aufisst, das in unkontrollierbaren Wut- und Zerstörungsanfällen gefangen ist und mit allem um sich wirft, was in seine Händchen gelangt, einschließlich der eigenen Ausscheidungen, andererseits stundenlang von einem winzigen Detail fasziniert ist wie zum Beispiel rieselnden Sandkörnchen. Mitte des vorigen Jahrhunderts wartet auf ein so extrem behindertes Kind lebenslanges Dahinvegetieren in einer Anstalt.
Die Unterbringung in einer solchen Einrichtung wird dem Ehepaar Grandin geraten, als sie ihre dreijährige Tochter Temple den Fachärzten vorstellen – und genau das verweigern sie. Als allerdings der Vater den Ärzten folgen will, lässt die Mutter, Eustacia Cutler, sich einige Jahre später scheiden und widmet sich fortan ihren mittlerweile vier Kindern, insbesondere der Förderung von Temple. Die Diagnose für Temples Leiden lautet „Autismus“, eine Erkrankung, die erst in den 1940er Jahren beschrieben wurde, bis dahin als „infantile Schizophrenie“ galt. Heute sind Kenntnis und Behandlung autistischer Leiden weit fortgeschritten, die Medizin spricht von „Autismus-Spektrum-Störungen“, um die enorme Vielfalt autistischer Ausprägungen zu markieren. Immer aber handelt es sich um tiefgreifende neurologische Entwicklungsstörungen, um Beeinträchtigungen derjenigen Hirnareale, die sensorische Reize verarbeiten.
Häufige Symptome des Autismus sind die Vermeidung von Körperkontakt, Reizüberempfindlichkeit, das Kind schottet sich von der Außenwelt ab, zeigt kein Interesse an der Erforschung der Umgebung, stattdessen verbleibt es in seiner eigenen, inneren Welt. Wut-, Schrei- und Zerstörungsanfälle sind an der Tagesordnung bei fehlenden sprachlichen Äußerungsmöglichkeiten. Das Erlernen von sozialer Interaktion ist bei allen Formen des Autismus extrem erschwert. „Ich verstand zwar, was gesagt wurde, konnte aber nicht antworten. Ich vermochte nur zu kreischen und in die Hände zu klatschen“, beschreibt Temple Grandin ihren Zustand als dreijähriges Kind (Durch die gläserne Tür, fortan als GT gekennzeichnet, S. 25.)
Temples Mutter ließ an ihrer Tochter sämtliche Tests und Untersuchungen vornehmen und schickte sie in eine Sprachtherapie, als Temple physische Gesundheit und Intelligenz bescheinigt wurde. Erste Erfolge stellten sich ein, wenn auch Modulation und Lautstärke der Stimme noch so lange unkontrollierbar blieben, dass sie „erst als erwachsene Frau anderen Menschen in die Augen schauen konnte“ (GT S. 26). Mühsam erlernte sie ihren Wortschatz, den sie sich nach eigenen Aussagen über Jahre wie eine Fremdsprache aneignen musste. Kaum vorstellbar, wenn man ihre heutige Eloquenz in langen Vorträgen erlebt!
Ihr gesamtes Verhalten in der Kindheit jedoch bleibt bizarr – sie verprügelt hemmungslos andere Kinder, spuckt um sich, denkt sich aber auch einfallsreiche Streiche aus – oft auf Kosten anderer Kinder, was sie jedoch kaum bemerkt oder was ihr völlig gleichgültig ist. Sie und ihre Schwester Jean aber werden von einem ebenso verständnisvollen wie kompromisslosen Kindermädchen betreut, das sich u.a. Temples extreme Geräuschempfindlichkeit bei der Erziehung zunutze macht: „Wenn du deine Suppe nicht sofort isst, lass ich eine Papiertüte zerplatzen!“ (GT S. 30). Später wirkt die Drohung, Reitstunden zu streichen, als vorzügliche Gegenmaßnahme zu ungehörigem Benehmen und/oder ausgeklügelten Streichen. Am Ende der Kindergartenzeit schreibt ihre Mutter in ihr Tagebuch: „Meine wundervolle Tochter. Wenn sie brav ist, ist sie sehr sehr brav, und wenn sie ungezogen ist, dann ist sie schrecklich. Doch auch wenn sie einen ganz schlechten Tag hat: Sie ist intelligent und sprüht vor Einfällen. Es bereitet mir viel Freude, mit Temple zusammen zu sein, und sie ist ein liebenswerter Mensch“ (GT S. 36). Temple Grandin selbst schreibt rückblickend: „Meine Kindheitserinnerungen sind heute für mich wie ein kostbarer Wandteppich. Bestimmte Muster habe ich nach wie vor deutlich vor Augen, während andere bereits ausgebleicht sind“.
Mit dem Eintritt in die Grundschule beginnt eine spektakuläre Schul- und Universitätskarriere bis hin zum Doktorgrad und zur Professur für Tierwissenschaften und zur Spezialistin für autistische Störungen. Der Weg dorthin ist ein Beispiel für die Leiden und das Genie eines autistischen Menschen und für die unermesslichen Anstrengungen, die Temple Grandin auf sich nahm, um die Symptome ihres Autismus nicht nur zu überwinden, sondern sie zu verwandeln in Fähigkeiten und Qualitäten, die für „normale“ Menschen unerreichbar sind.
Da ist ihre Sehnsucht nach Berührung, nach Umarmung und Zärtlichkeit, doch „solange ich mich zurückerinnern kann, hasste ich es, in den Arm genommen zu werden…Es war wie eine riesige, alles umspülende Flutwelle der Stimulation, und ich reagierte wie ein wildes Tier….Ich musste fliehen – häufig, in dem ich plötzlich wegsprang (Ich bin die Anthropologin auf dem Mars, fortan gekennzeichnet als A S. 57). Doch gleichzeitig „lechzte ich geradezu nach Körperkontakt. Ich sehnte mich danach, geliebt und in den Arm genommen zu werden. Mein geschädigtes Nervensystem war wie ein Gefängnis für mich, ganz so, als würde ich von einer gläsernen Schiebetür von der Welt der Liebe und des gegenseitigen Verständnisses abgeschirmt“ (GT S. 37). Sie ist besessen vom Traum einer „Zaubermaschine“, die Druck auf ihren gesamten Körper ausüben und sie von ihrer sensorischen Überempfindlichkeit entlasten könnte.
Als Jugendliche verbringt sie in einem Sommer die Ferien auf der Ranch ihrer Tante in Arizona und macht eine Beobachtung, die Folgen für ihr gesamtes Leben haben wird: sie sieht zu, wie Rinder zum Zweck der Impfung und medizinischen Behandlung in eine sog. Klappfalle getrieben werden, eine Vorrichtung, deren Seitengitter sich eng an das Tier anschmiegen lassen bis es fest eingeklemmt ist und sich nicht mehr bewegen kann. Sie erwartet, dass die Tiere in Panik ausbrechen, aber zu ihrem größten Erstaunen entspannen sie sich schon nach einigen Augenblicken in der Falle. Im Rückblick sieht sie in diesem Erlebnis die erste der sie prägenden Verbindung zwischen Kühen und sich selbst. Ein paar Tage nach ihrer Beobachtung kriecht Temple selbst in die Klappfalle, als sie von einer ihrer unerträglichen Angst- und Panikattacken gequält wurde, unter denen sie seit ihrer Pubertät litt. „Ich bat Tante Ann, die Seiten gegen mich zu pressen und die Haltebalken für den Kopf um meinen Nacken zu schließen. Ich hoffte, das würde meine Angst lindern. Fünf Sekunden später spürte ich eine Welle der Entspannung, und nach dreißig Minuten bat ich Tante Ann, mich herauszulassen. Anschließend fühlte ich mich etwa eine Stunde lang ruhig und klar. … Dies war das erste Mal, dass ich mich wirklich wohl in meiner Haut fühlte.“ (A S.58). Sie baut die Maschine für ihre Größenverhältnisse nach und kreiert so ihre erste „Umarmungsmaschine“. Im Laufe der Jahre verbessert sie immer wieder das Design, polstert sie beispielsweise mit Schaumstoff aus und konstruiert den Apparat so, dass sie den Druck von innen selbst regulieren kann. Sie nutzt die Maschine bis heute, allerdings seltener (nach eigener Aussage ca. einmal die Woche) und „…mittlerweile, da die medikamentöse Behandlung die Hypererregung meines Nervensystems verringert hat, ziehe ich sehr viel geringeren Druck vor.“ (A S. 59). Ihre Erkenntnis, dass fester Druck das Nervensystem entspannt, ist inzwischen wissenschaftlich bestätigt und genutzt: es gibt dutzende Varianten industriell hergestellter Umarmungsmaschinen, Druckstühle, Druckrollen etc. Das Internet und YouTube bieten hier eine Fülle von Informationen incl. Videos und Bauanleitungen an.
Temple Grandin brauchte die Umarmungsmaschine, um nach ihren Worten das Gefühl von Liebe und Zuwendung zu erhalten. „Ironischerweise wäre ich ein kalter, harter Stein geworden, hätte ich die Maschine aufgegeben… Ich musste körperliches Wohlbefinden fühlen, um Liebe fühlen zu können.“ (A S. 93). „Als mein Nervensystem lernte, den sanften Druck meiner Quetschmaschine zu ertragen, entdeckte ich, dass mich das Gefühl der Geborgenheit zu einer liebenswürdigeren und freundlicheren Person machte. Es fiel mir schwer, den Gedanken der Zuwendung zu verstehen, bevor ich selbst sanft umfangen worden war…. Und das half mir, das Wesen der wechselseitigen Zuwendung zu verstehen (A S.84). Der Berührungsapparat „ermöglichte mir zu lernen, wie man sanft und liebenswürdig reagiert, Mitgefühl entwickelt und trotzdem weiß, dass Sanftmut kein Symptom für Schwäche ist. Ich lernte zu fühlen“ (GT S.115).
Eins der größten Probleme für viele autistische Menschen ist der Mangel an Mitgefühl – Folge der Unfähigkeit, sich selbst körperlich liebevoll berühren zu lassen, denn dann mangelt es auch an der Fähigkeit, sich seelisch und emotional berühren zu lassen. Bis zur Konstruktion ihrer Maschine blieb auch Temple verhaftet in völliger sozialer Isolation, Wutanfällen bis zu Gewaltausbrüchen ihren Mitschülern gegenüber, von denen sie allerdings wegen ihrer Auffälligkeiten gehänselt und ausgeschlossen wurde. Die ersten Jahre ihrer Gymnasialzeit wurden zu einem Albtraum, bis sie im Alter von 13 Jahren in ein Internat für hochbegabte (Temple hatte zu der Zeit einen IQ von 137) und sozial schwierige SchülerInnen wechselte und dort bis zum erfolgreichen Schulabschluss verblieb. Bis heute spricht sie von einem bemerkenswerten Lehrer, der es verstand, hinter all dem Bizarren und Pathologischen das enorme Potential an Intelligenz und Kreativität in dieser seltsamen Schülerin zu erkennen und entscheidend zu fördern.
Als reife Frau von 47 Jahren beschreibt sie ihre Persönlichkeit so: „Ich verstehe mich besser mit Wissenschaftlern und Ingenieuren, die weniger von Emotionen motiviert sind… Meine Emotionen sind einfacher als die von anderen Menschen. Ich weiß nicht, was eine vielschichtige Emotion in einer zwischenmenschlichen Beziehung ist. Ich verstehe nur einfache Emotionen wie Furcht, Wut, Glück und Traurigkeit. … die emotionalen Nuancen sind weiterhin unverständlich für mich, und ich schätze konkrete Beweise für Erfolg und Anerkennung. …Ich werde von greifbaren Erfolgen motiviert, und ich möchte einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten. Da mein Handeln vom Verstand geleitet wird, fällt es mir immer noch schwer, Menschen, deren Motivation im Leben vorrangig auf komplexen Emotionen beruht, zu verstehen und eine Beziehung zu ihnen herzustellen…. (A S.91 ff.)
Was eine solche emotionale Schwäche für das Sozialverhalten bedeutet, lässt sich kaum ermessen. Temple Grandin fasst das so zusammen: „ Ich musste das richtige soziale Verhalten in allen sozialen Interaktionen verstandesmäßig erlernen…Mein ganzes Leben haben mir verständnisvolle Lehrer und Mentoren geholfen. Menschen mit Autismus brauchen unbedingt Führer, die ihnen beibringen, wie sie im sozialen Dschungel überleben können (A S.98).
Als 1986 ihre Autobiografie erschien, war dies ein außergewöhnliches, in gewisser Weise undenkbares Buch: nie zuvor war Autismus „von innen“ geschildert worden. Der Neurologe Oliver Sacks schreibt im Vorwort zu Temple Grandins Buch „Ich bin die Anthropologin auf dem Mars“: „Temple Grandins Stimme kam aus einer Welt, die nie eine Stimme gehabt hatte, der nie zuvor eine wirkliche Existenz zugestanden worden war – und sie sprach nicht nur für sich selbst, sondern für Tausende andere, oft hochbegabte erwachsene Autisten, die unter uns leben. Sie enthüllte uns,…dass es Menschen gibt, die sich fast unvorstellbar andersartige Welten aufbauen und ein unvorstellbar andersartiges Leben führen“(A S. 7). Temple Grandin hat als eine der ersten gezeigt, wie wichtig es ist, jede Form des Denkens zu würdigen und zu nutzen – was heute als „Neurodiversität“ bezeichnet wird, um die Resilienz von neurologischen Varianten anzuzeigen anstatt lediglich die Defizite zu fokussieren.
Als eine der größten Herausforderungen ihres Lebens betrachtet Temple Grandin im Rückblick den Übergang von Gymnasium zum College/zur Universität. Dieser Übergang ist für die meisten jungen Menschen von Spannung begleitet, aber für Menschen mit Autismus sind schon sehr viel geringfügigere Veränderungen mit ungeheuren Ängsten verbunden. Um sich überhaupt das Ende einer Lebensphase und den Beginn von etwas Neuem vorstellen zu können, war Temple angewiesen auf eine konkrete Möglichkeit, diese Veränderung konkret darzustellen. Sie berichtet, wie sie sich einmal im Gottesdienst des Internats fast zu Tode langweilte – bis sie den Priester sagen hörte: „Ich bin die Tür. Wer durch mich hindurchgeht, wird gerettet (Joh 10,9). Vor jedem von Euch befindet sich eine Tür, die den Weg zum Himmel weist. Öffnet sie, und Ihr werdet errettet.“ Temple nahm seine Rede wörtlich – so wie sie alles nur wörtlich verstehen konnte - , ihre Gedanken kreisten jetzt nur noch um das Wort „Tür“, und als sie die Worte des Gesangs hörte „Segne diese Tür, auf dass es wahr werde/Auf ewig offen für die Freude und die Liebe“, wusste sie, dass sie nur noch ihre Tür zu ihrem Himmel finden musste. Sie prüfte jede Tür auf ihre Tauglichkeit, bis sie eine kleine Holztür entdeckte, die auf das Dach des Internats hinausging und den Blick auf Berge und Himmel freigab.“ Zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich…geborgen und war zuversichtlich, was die Zukunft betraf. Ein Gefühl der Liebe und Freude umfing mich. Ich hatte sie gefunden! Die Tür in meinen Himmel….Durch diese Tür zu treten war alles, was ich zu tun hatte“ (GT 90f.). Sie hatte ein augenfälliges Symbol gebraucht, eine tatsächliche Tür, um ganz real über eine Schwelle hinweg zu einem Neuanfang schreiten zu können. Im Laufe ihres Lebens suchte und fand Temple Grandin immer wieder Türen oder Tore, die sie durchschritt, bis sie dieses Symbol für Übergänge in ihrem Leben nicht mehr brauchte.
Das Beispiel der Tür und Temples fast verzweifelte Suche nach einer Verständnismöglichkeit für das abstrakte Konzept „Übergang“ repräsentiert die spezifische Art ihres Denkens: sie ist so wichtig für ihr Selbstverständnis und für das Verständnis ihrer Schwäche wie für ihr Genie, dass sie eins ihrer Bücher mit dem Satz eröffnet: „Ich denke in Bildern. Worte sind für mich so etwas wie eine Zweitsprache“ (A S. 11). Was visuelles Denken bedeutet, erklärt Temple Grandin so: „Es sind buchstäblich Bilder im eigenen Kopf. Mein Geist funktioniert wie Google für Bilder…Wenn jemand ‚Schuh‘ sagt…, tauchen sofort in meiner Vorstellung ein Haufen Schuhe…auf.“ Sagt jemand „Kirche“, so blitzen in ihrem Kopf in schneller Folge alle Kirchen einzeln auf, die sie jemals gesehen hat. „Dann denke ich: vielleicht können wir noch Schnee oder Gewitter hinzufügen, und ich kann es festhalten und in Filme verwandeln.“
Diese MRT-Aufnahme zeigt, wie enorm vergrößert das Areal der Sehfähigkeit bei einem visuell denkenden Autisten sein kann – und liefert gleichzeitig einen Beweis dafür, dass Autismus keine psychische, sondern eine neurologische Störung ist
1979 macht Temple Grandin ihren Abschluss im Fach Psychologie und geht nach Arizona, um dort zu promovieren. Nebenbei arbeitet sie mit den Cowboys auf den Weiden und spürt, wie sich ihr Interesse immer mehr den Rindern, Viehfallen und landwirtschaftlichen Geräten zuwendet. Sie wechselt vom Hauptfach Psychologie zum Fach Tierwissenschaft und beschäftigt sich mit der Haltung von Nutztieren bis hin zum Besuch und der Arbeit in Schlachtbetrieben. Ihre Magisterarbeit schreibt sie zum Thema „Viehfallen auf Weiden“, eins der ersten Projekte in den USA, das sich mit dem Verhalten von Nutztieren und dem Umgang mit ihnen beschäftigten – eine Pionierleistung. Seither widmet sie ihre ganze berufliche Tätigkeit der Gestaltung von Systemen, die der Verbesserung der Behandlung von Nutztieren dienen.
Ihr einzigartiges Talent, Tiere zu verstehen, beruht ihrer Überzeugung nach (und die Neurowissenschaft gibt ihr Recht) auf der Gleichartigkeit ihres Denkens und ihrer Wahrnehmung und dem Denken und Wahrnehmungsvermögen von Tieren: beide denken in Bildern, nicht sprachlich-abstrakt. „Tiere und Autisten haben keine abstrakten Bilder im Kopf, sondern nur die, die sie tatsächlich sehen“ (Ich lebe mein Leben wie ein frohes Tier, fortan gekürzt als FT, S.40). „Normale“ Menschen abstrahieren ihre Sinneswahrnehmungen genauso wie ihre Gedanken. Wenn Tiere und Autisten die wirkliche Welt wahrnehmen, nehmen sie laut Temple Grandin nichts Abstraktes wahr, sondern ausschließlich Details. Temple Grandin berichtet (FT S. 41 ff), dass sie 30 Jahre brauchte, um diesen Unterschied zu erkennen – sie verstand nicht, warum Menschen ein für Tiere irritierendes Detail nicht sahen! Sie hielt ihre und die tierische Detailorientiertheit für üblich. Eindrucksvoll schildert sie einmal, wie visuelle, detailorientierte Wahrnehmung sich abspielt: um einen Viehbetrieb in seiner Ganzheit wahrnehmen zu können, besuchte sie die Anlage ein halbes Jahr lang jeden Dienstagnachmittag für einige Stunden, bis sie alle Details zu einem Ganzen zusammenfügen konnte, das sie dann in ihrem Kopf wie einen Film abspulen konnte.
Anfangs als „Kuhversteherin“ verspottet, wurde sie schon bald auch zu Großbetrieben gerufen, wenn es Probleme mit den Tieren gab. Ihre Devise: „Probleme mit Tieren lassen sich nur dann lösen, wenn man ihre Perspektive einnimmt, und zwar wortwörtlich. Man muss denselben Gang entlanggehen wie die Tiere und tun, was sie tun.“ (FT41). Temple Grandin scheut sich nicht, auf allen vieren einen Gang fürs Vieh entlang zu kriechen, um das Detail zu entdecken, das den Tieren Angst macht und für andere „unsichtbar“ ist. „Ich lief auf allen vieren durch den Gang, genau wie die Schweine. Die Manager hielten mich sicher für verrückt, aber anders geht das nun mal nicht. Man muss sich auf dieselbe Ebene begeben wie die Tiere und die Dinge aus ihrer Perspektive wahrnehmen.“ (FT S.44). Ausgehend von ihren Beobachtungen erstellt sie Checklisten für Betriebe, damit die Menschen irgendwann so wachsam werden wie sie selbst. „Beobachtet, in welche Richtung die Ohren eines Tieres zeigen!“ Davon lässt sich ableiten, wohin das Tier schaut, woher die Irritationen kommen. Sind es laute Gespräche? Dann sollten die Personen leiser sprechen – oder am besten gar nicht. Wo verharren die Tiere? Reflektiert Licht an Metallen, Ketten usw.? Dann müssen sie abgedeckt oder entfernt werden? Gibt es starke Schatten? Schatten nehmen Tiere oft als Abgrund wahr. Hängt Kleidung herum? Gibt es Pfützen in den Laufwegen, vor denen die Tiere scheuen? Die Treibgänge sollen geschlossene Seitenwände haben – durch Gitter oder Balken entstehen bei sonnigem Wetter starke Licht- und Schattenwechsel. Lichtquellen sollen so verändert werden, dass alles gleich hell erscheint. Die Tiere sollen so geführt werden, dass sie immer das Tier vor ihnen sehen, damit sie sich nicht verlassen fühlen – alles Dinge, die bisher „unsichtbar“ waren oder denen keine Bedeutung beigemessen wurde. Einen Grund für ihre und die tierische „Detailverliebtheit“ sieht Temple Grandin auch darin, dass Autisten und Tiere Ablenkung nicht ausblenden können, sondern die Welt als „Unmenge von winzigen Details wahrnehmen“(S. FT 79). Ihr Entsetzen von den Zuständen in den meisten Vieh- und Schlachtbetrieben, das Brüllen der Tiere und das Gebrüll der Arbeiter, die Schläge und Elektroschocks, mit denen die Tiere vorwärts getrieben wurden – all das war Anlass und Motivation für Temple Grandins ungewöhnliches Engagement.
Schon bald bemerkte sie – auch das war bis dahin nicht gesehen worden –, dass die Rinder sich etwas in eine Richtung biegen wollen, auch wenn sie einen geraden Gang getrieben werden. Aufgrund dieser Entdeckung begann sie, Anlagen mit gebogenen Treibgängen zu entwerfen. Die Ruhe und Willigkeit, mit der die Tiere durch gerundete Gänge gehen, gaben ihr sofort Recht: die Tiere hatten offenbar sowohl die Möglichkeit zu normaler Bewegung als auch das Gefühl, an den Ort zurückgehen zu können woher sie kommen.
Temple Grandins ausgeprägtes visuelles Denken, das sie als grundlegende Ähnlichkeit zu den Tieren versteht und ihre daraus resultierende Fähigkeit, sich nicht nur in Tiere einzufühlen, sondern sich mit ihnen identifizieren zu können, machen sie zu einer der kompetentesten Tierwissenschaftlerin unserer Zeit. („Wenn ich mich in die Lage einer Kuh versetze, muss ich wirklich diese Kuh sein und nicht eine Person im Kuhkostüm“(A S.148). Sie selbst sagt, dass sie erst durch die Tiere verstanden hat, was ihr als Mensch fehlte und was sie brauchte.
Seit vielen Jahren gilt Temple Grandin als führende amerikanische Spezialistin für den Entwurf von Anlagen der kommerziellen Tierhaltung und als Expertin für Autismus. Ihre Entwürfe für Viehbetriebe und Schlachthöfe wurden und werden von vielen Betreibern umgesetzt, denn u.a. wurde schnell erkannt, dass Fleisch von gut gehaltenen und unverletzten Tieren lukrativer vermarktet werden kann. Weltweit bekannt wurde Temple Grandin, seit McDonald’s sie 1999 beauftragte, ihre zuvor entwickelten Tierschutzrichtlinien durchzusetzen. Sie bereist die USA, Europa, Australien, Kanada, um für Schonung und Respekt vor den Tieren zu werben und den Menschen einen humanen Umgang mit den ihnen anvertrauten Tieren zu ermöglichen. Der größte Schlachtbetrieb Europas liegt in Deutschland – der VION Schlachthof in Waldkraiburg – und ist nach ihren Prinzipien gebaut und geführt. „Mein Erfolg in der Arbeit mit Tieren beruht zum Großteil auf der einfachen Tatsache, dass ich überall Anknüpfungspunkte zwischen ihrem Verhalten und bestimmten autistischen Verhaltensweisen entdecke“ (A S.152). Ihre Arbeit mündet in ein umfangreiches Programm, in dem Design, Hinweise und Pläne gezeigt werden zu Haltung, Fütterung, Stallungen bis hin zu kompletten Hofanlagen - und eben auch Konzepte zur Gestaltung von Anlagen zur schonenden Schlachtung: das „Grandin Livestock Handling System“, das weltweit eingesetzt wird und werden kann, denn es berücksichtigt auch die Bedingungen der verschiedenen Länder, Kontinente und Religionen, z.B. die Vorschriften rituellen Schlachtens.
https://deesinglivestockhandlingsystems.com/
http://www.grandin.com/ritual/rec.ritual.slaughter.html
Maßgebliche Artikel von Temple Grandin zur Verbesserung des Tierschutzes bei der Schlachtung von Nutztieren sind in deutscher Sprache vom Hessischen Ministerium für Umwelt und Klimaschutz unter veröffentlicht worden: http://www.grandin.com/german/german.html
Neben vielen anderen Erkenntnissen zum Verhalten von und zur Kommunikation mit Tieren hat sie bewiesen, dass es möglich ist, Tieren einen stress- und schmerzfreien würdigen letzten Gang zu ermöglichen, wenn deren natürliches Verhalten und Empfinden beachtet wird – und dass sich auch im Schlachthof tiergerechte Prozesse umsetzen lassen.
Zu den bioethischen Fragen ihrer Arbeit möge Temple Grandin selbst zu Wort kommen:
„Ich glaube nicht, dass mein Beruf moralisch falsch ist. Das Schlachten ist nicht falsch, aber ich bin fest davon überzeugt, dass die Tiere menschlich und mit Respekt behandelt werden müssen. Ich habe mein Leben der Reform und der Verbesserung der Viehhaltung gewidmet. Dennoch ist es ernüchternd zu wissen, dass ich eine der effizientesten Tötungsmaschinen der Welt entwickelt habe. …Ich werde oft gefragt, ob ich Vegetarierin bin. Ich esse Fleisch… und eine rein vegetarische Ernährung mit der Beschränkung auf Milchprodukte verhindert nicht, dass Tiere geschlachtet werden. Eine Kuh muss jedes Jahr einmal kalben, um Milch geben zu können, und die Kälber werden als Fleischlieferanten aufgezogen. Ab irgendwann in ferner Zukunft, wenn Schlachthäuser überflüssig werden und lebendes Vieh durch genetisch manipulierte Produkte ersetz werden, werden die wichtigen ethischen Fragen zur Erzeugung von Pflanzen und Tieren nach unseren Wünschen sehr viel bedeutender sein…“ (A 208 f).
Temple Grandin hält bis heute unzählige Vorträge in der halben Welt, sowohl über tierwissenschaftliche Themen als auch zu Fragen des Autismus-Spektrum-Syndroms. Sie hat sowohl Bücher als auch Hunderte von Aufsätzen zu beiden Bereichen geschrieben. Mehr als die Hälfte der Schlachtbetriebe sind in den USA nach ihren Prinzipien gebaut und betrieben. Temple Grandin gehört in den USA zu den 100 bedeutendsten Persönlichkeiten, die durch ihre Arbeit wesentliche gesellschaftliche Veränderungen bewirkt haben – und hat dabei, obschon sie Tötungsanlagen konzipierte, paradoxerweise Enormes für den Tierschutz geleistet. Sie lebt in Fort Collins, Colorado, und lehrt seit 1990 an der dortigen Universität.
„Ich glaube, dass der Ort, an dem ein Tier stirbt, heilig ist. Wir müssen die konventionelle Schlachtung wieder ritualisieren und das Ritual einsetzen, um das Verhalten der Menschen zu ändern. So könnte verhindert werden, dass die Menschen abgestumpft, gleichgültig oder roh werden. Das Ritual könnte in einer ganz einfachen Maßnahme bestehen, etwa in einem Moment des Schweigens. Das wäre mein Beitrag neben der Entwicklung besserer Anlagen und dem Bau von Apparaten für die menschlichere Behandlung aller Tiere. Keine Worte. Lediglich ein reiner Augenblick der Stille. Ich sehe das Bild vor mir.“ (A S. 213)
(Text von 2022)
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
Die Welt braucht alle Arten des Denkens.
Ich bin anders, nicht weniger.
Tiere machen uns menschlich.
Die Natur ist grausam, aber deshalb wir müssen es nicht auch sein.
Ich glaube, dass es einen Sinn dafür gibt, dass Autismus, schwere manische Depression und Schizophrenie in unserem Genpool bleiben, auch wenn das schweres Leid mit sich bringt…
Ich glaube, dass es eine letzte ordnende Kraft zum Guten im Universum gibt.
Links
Temple Grandin's Website (2017).
Online verfügbar unter http://www.grandin.com/, zuletzt geprüft am 07.05.2022.
DCM Stories (2022): Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann – Ein autistischer Junge erklärt seine Welt (Film über nonverbalen Autismus). Regie: Jerry Rothwell.
Online verfügbar unter https://dcmstories.com/de/collection/warum-ich-euch-nicht-in-die-augen-schauen-kann/, zuletzt geprüft am 07.05.2022.
filmdienst.de: Du gehst nicht allein (Originaltitel: Temple Grandin). Biopic | USA 2010 | 104 Minuten | Regie: Mick Jackson.
Online verfügbar unter https://www.filmdienst.de/film/details/538637/du-gehst-nicht-allein, zuletzt geprüft am 07.05.2022.
HBO (2022): Temple Grandin. Seite über das Biopic.
Online verfügbar unter https://www.hbo.com/movies/temple-grandin/, zuletzt geprüft am 07.05.2022.
Literatur & Quellen
Quellen
Grandin, Temple (1997): Ich bin die Anthropologin auf dem Mars. Mein Leben als Autistin. (=Thinking in pictures) Übersetzung: Stefan Gebauer. Dt. Erstausg. München. Droemer Knaur. (Knaur, 77288) ISBN 9783426772881.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Grandin, Temple (2014): Durch die gläserne Tür. Lebensbericht einer Autistin. (=Emergence) Übersetzung: Manfred Jensen. Unter Mitarbeit von Margaret M. Scariano. Hannover. Verlag Rad und Soziales. ISBN 9783945668030.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Grandin, Temple; Johnson, Catherine (2010): Animals in translation. Using the mysteries of autism to decode animal behaviouor. 1. Scribner hardcover ed. New York, NY. Scribner Classics. ISBN 143918710x.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Grandin, Temple; Johnson, Catherine (2010): Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier. Eine Autistin entdeckt die Sprache der Tiere. (=Animals in translation)Ungekürzte Ausg., 4. Aufl. Berlin. Ullstein. (Ullstein, 36857) ISBN 9783548368573.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Mosca, Julia Finley (2020): Das Mädchen, das in Bildern dachte. Die Geschichte von Temple Grandin. (=The girl who thought in pictures) Übersetzung: Rainer Döhle. Mit Illustrationen von Daniel Rieley. 1. Auflage. Köln. BALANCE buch + medien verlag. (kids in BALANCE) ISBN 9783867392099.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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