Biographien Swetlana Alexijewitsch
(Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch)
geboren am 31. Mai 1948 in Stanislaw, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (heute Iwano-Frankiwsk, Ukraine)
belarussische (weißrussische) Schriftstellerin
Nobelpreis für Literatur 2015
75. Geburtstag am 31. Mai 2023
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Swetlana Alexijewitsch ist heute die bedeutendste und konsequenteste Vertreterin der Protokoll-Literatur, die in Deutschland mit Erika Runges Bottroper Protokollen (1968) ihren Anfang nahm und von Sarah Kirsch (Die Pantherfrau, 1974) und Maxie Wander (Guten Morgen, du Schöne, 1977) erfolgreich fortgesetzt wurde. Alexijewitsch selbst nennt als ihre Vorläufer und Vorbilder nicht diese Autorinnen, sondern Daniil Granin und den Weißrussen Ales Adamowitsch und ihr Blockadebuch (1977-80) über die Belagerung Leningrads.
Weltbekannt wurde Alexijewitsch durch ihr bisher letztes Buch (1997), in dem sie ihre Technik des intensiven Zuhörens und Fragens und der anschließenden Destillierung endlosen Tonbandmaterials zu einem vielstimmigen Roman auf ein Thema anwandte, das uns alle unmittelbar angeht: Die Katastrophe von Tschernobyl und ihre Auswirkungen auf die Menschen, die sie erlebt und bisher überlebt haben. »Man meint, dass wir nach all den Jahren alles über Tschernobyl wüssten, dass ... niemand mehr etwas darüber hören möchte. Tatsächlich aber ist Tschernobyl nicht nur nicht vergessen – es wurde nie richtig verstanden.«
Wenn der abgegriffene Spruch »Life is stranger than fiction« irgendwo zutrifft, dann auf die Geschichten, die Alexijewitsch zusammengetragen hat. Die meisten von uns wissen z.B. nicht, dass in der Todeszone um Tschernobyl, kurz Zone genannt, sogenannte Liquidatoren (die verseuchte) Erde in der Erde begraben haben, zusammen mit den Häusern und den Möbeln darin… Eine Mutter erzählt, dass die Ärzte ihr rieten, ihren verstrahlten sterbenden Mann nicht zu streicheln, sie würde damit nicht nur sich selbst, sondern auch dem Kind, das sie erwartete, schweren Schaden zufügen.
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Die Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen studierte in Minsk Journalistik und arbeitete dann für Zeitungen und Zeitschriften. Über ihre halbdokumentarische Methode und gegen deren Trivialisierung schreibt die Schriftstellerin: »Das Leben bietet so viele Versionen und Interpretationen für ein und dasselbe Ereignis – Fiktion oder Dokumentation allein reichen nicht aus, um die ganze Bandbreite zu erfassen. Ich musste eine andere narrative Strategie finden. ... Für Außenstehende mag es wie ein simpler Vorgang aussehen: Die Leute haben mir eben ihre Geschichten erzählt. Aber es ist nicht ganz so einfach. Es ist wichtig, was du fragst und wie du es fragst und was du wahrnimmst und was du aus dem Interview auswählst.«
Ihr erstes Buch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (1985, dt. 1987) lässt erstmals russische Soldatinnen des zweiten Weltkriegs zu Wort kommen: »Oft bleibt nach einem langen Tag voller Worte und Fakten nur ein einziger Satz zurück (aber was für einer!): ›Ich war noch so klein, als ich an die Front ging, dass ich im Krieg sogar noch gewachsen bin.‹ Diesen Satz halte ich dann in meinem Notizbuch fest, obgleich ich Dutzende Meter Tonbandaufzeichnungen besitze, vier, fünf Kassetten voll.«
»… Auf der Erde [sind] schon über dreitausend Kriege geführt worden. Und Bücher darüber gibt es noch mehr. Doch alles, was wir über den Krieg wissen, haben uns Männer erzählt. … Frauen schweigen. Nur .. im Kreis ihrer Frontfreundinnen weinen sie und erzählen … von einem Krieg, der das Herz stocken lässt. In den Erzählungen der Frauen finden wir nie…was wir sonst ohne Ende hören: Wie die einen heroisch die anderen töteten und siegten. [Es] kommen keine Helden und keine ihrer unglaublichen Taten vor, sondern einfach Menschen, die eine unmenschliche menschliche Arbeit tun.
… Eine ganze Welt blieb uns verborgen. Ein separater weiblicher Kontinent. Aber was hindert uns, dorthin vorzudringen? … Einerseits die undurchdringliche Mauer männlichen Widerstands, ich würde es sogar männliche Verschwörung nennen, und andererseits … unsere fehlende Neugier, die vielleicht daher rührt, dass niemand dort irgendwelche Entdeckungen erwartet.«
In Alexijewitschs zweitem Buch, Die letzten Zeugen (1985, dt. 1989) erzählen RussInnen der Jahrgänge um 1930-1940, was sie als Kinder im Krieg erlebt haben: »Dinge, die niemand, am allerwenigsten Kinder, sehen und erleiden dürften« (Klappentext).
Das dritte Buch, Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen (1989, dt. 1992) erhielt seinen Titel von den jungen Soldaten, die ahnungslos in den Krieg geschickt wurden und in Zinksärgen zurückkamen.
Das vierte Buch, Im Banne des Todes (neuer Titel Seht mal, wie ihr lebt), 1993, dt. 1994) handelt von Menschen, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht fertigwurden und Selbstmord begingen oder begehen wollten.
In all ihren Büchern geht es um Krieg, Tod, Töten, Sterben, grausames Leid und seine Auswirkungen auf die »kleinen Leute«, nicht die da oben. Nach dem vierten Buch wollte sie endlich ein positives Thema behandeln und ein Buch über die Liebe schreiben – da kam ihr die ultimative Katastrophe dazwischen… Sie arbeitete zehn Jahre lang an Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft.
1998 erhielt Alexijewitsch dafür den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Ihr Stück über Tschernobyl Gespräche mit Lebenden und Toten wurde 1999 Hörspiel des Jahres.
Heute lebt Swetlana Alexijewitsch in Paris im Exil. Seit der Diktator Lukaschenko an der Macht ist (1994), ist in Weißrussland kein Buch mehr von ihr erschienen.
Ich finde, wenn eine den Literatur-Nobelpreis verdient hat, dann Swetlana Alexijewitsch.
(Text von 2007)
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Nachtrag am 21.6.2013: Alexijewitsch lebt seit 2011 wieder in Minsk, Weißrussland. Im Herbst bekommt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Nachtrag am 8.10.2015: Soeben hat Swetlana Alexijewitsch den Literaturnobelpreis bekommen. Endlich!
Verfasserin: Luise F. Pusch
Zitate
Ich glaube, die wichtigste Arbeit müssen die Philosophen leisten: Sie müssen ein völlig neues System der Argumentation ausarbeiten, eine neue Sprache. Denn unser Weltbild ist immer noch, dass wir im Zentrum der Ereignisse stehen, dass wir die Hauptsache sind. Als ich sah, wie die Leute die Sperrzone von Tschernobyl verließen, in die sie erst in 20 000 Jahren zurückkehren können, hat sich bei mir die Vorstellung vom Menschen als Herrscher der Welt in Luft aufgelöst. Und als ich im Fernsehen sah, wie der Tsunami in Japan Schiffe wie Streichholzschachteln hinwegfegte, hatte ich das gleiche Gefühl: Mein Gott, wie kommen wir nur darauf, dass wir die Herrscher sind?
(Interview im »Tagesspiegel«, 8. Oktober 2015)
Links
Svetlana Alexievich - Светлана Алексиевич. Персональная страница. Голоса страны Утопии. Offizielle Webseite (russ. und engl.).
Online verfügbar unter http://alexievich.info/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.: Swetlana Alexijewitsch 2013. Reden anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2013.
Online verfügbar unter https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/die-preistraeger/2010-2019/swetlana-alexijewitsch, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
IMDb: Svetlana Alexievich. Filme.
Online verfügbar unter https://www.imdb.com/name/nm6714046/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Aleksievič, Svetlana A. Veröffentlichungen. Deutsche Nationalbibliothek.
Online verfügbar unter http://d-nb.info/gnd/115696938, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Nobelprize.org: The Nobel Prize in Literature 2015.
Online verfügbar unter http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2015/, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Texte online
Alexijewitsch, Swetlana (2003): Herrlicher Hirsch, gejagt. Katastrophe und Glück – Bekenntnisse zur Liebe in Rußland. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. In: Lettre International, Nr. 061, Sommer 2003.
Online verfügbar unter http://www.lettre.de/content/swetlana-alexijewitsch_herrlicher-hirsch-gejagt, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Alexijewitsch, Swetlana (2008): Henker und Beil. Vom Ende des Roten Menschen. Sowjetische und russische Lebensläufe. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. In: Lettre International, Nr. 082, Herbst 2008.
Online verfügbar unter http://www.lettre.de/content/swetlana-alexijewitsch_henker-und-beil, zuletzt geprüft am 05.05.2023.
Literatur & Quellen
Werke
Alexijewitsch, Swetlana (1994): Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder. (=Зачарованные смертью) Übersetzt von Ingeborg Kolinko. Frankfurt am Main. S. Fischer. ISBN 3-10-000818-9. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (1999): Seht mal, wie ihr lebt. Russische Schicksale nach dem Umbruch. (=Зачарованные смертью) Deutsche Erstausgabe unter dem Titel: Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder. 1. Aufl. Berlin. Aufbau-Taschenbuch-Verl. (AtV, 7020) ISBN 3-7466-7020-9. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (2013): Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. (=Час second-hand) Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Berlin. Hanser. 2013. ISBN 978-3-446-24150-3. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (1987): Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg. (=Последние свидетели. Книга недетских рассказов) Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Überarb., aktualisierte Neuausg. München. Hanser Berlin. 2014. ISBN 978-3-446-24647-8. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (1992): Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen. (=Цинковые мальчики) Übersetzt von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt. Erw., aktualisierte Neuausg. München. Hanser Berlin. 2014. ISBN 978-3-446-24528-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (1987): Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. (=У войны не женское лицо) Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. 1. Aufl. Berlin. Suhrkamp. 2015 (Suhrkamp-Taschenbuch, 4605) ISBN 978-3-518-46605-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (1997): Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. (=Чернобыльская молитва. Хроника будущего) Übersetzt von Ingeborg Kolinko. Ungekürzte Taschenbuchausg. München, Zürich, Berlin. Piper. 2015 (Piper, 30625) ISBN 978-3-492-30625-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana (2002): Mascha + Nina + Katjuscha. Frauen in der Roten Armee 1941 – 1945. Ausstellungskatalog. Herausgegeben von Peter Jahn. Berlin. Links. ISBN 3-86153-281-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana; Werner, Frank et al. (2011): Gespräche mit Lebenden und Toten. Hörspiel. 1 CD (78 min). München, [Hamburg]. Der Hörverlag. ISBN 978-3-86717-804-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Schuenke, Christa und Strutzyk, B. (Hg.) (2013): Fremde Heimat. Texte aus dem Exil. Berlin. Matthes & Seitz. (Zeugnisse & Dokumente, No. 10) ISBN 978-3-88221-096-5. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Weiterführende Literatur
Alexijewitsch, Swetlana; Rakusa, Ilma et al. (1998): Swetlana Alexijewitsch, Ilma Rakusa, Andreas Tretner. Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Frankfurt am Main. Börsenverein des Deutschen Buchhandels. (Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, 1998) ISBN 3-7657-2098-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Alexijewitsch, Swetlana; Schlögel, Karl (2013): Swetlana Alexijewitsch. Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Texte, Red. Martin Schult. Übersetzt von Ganna-Maria Braungardt und The Hagedorn Group. Frankfurt am Main. Börsenverein des Deutschen Buchhandels. (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2013) ISBN 978-3-7657-3283-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Sauer, Jutta (Hg.) (2002): Erich Maria Remarque Friedenspreis der Stadt Osnabrück. Verleihung an Swetlana Alexijewitsch und MEMORIAL, Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge 2001. Osnabrück. Stadtbibliothek. ISBN 3935326734. (WorldCat-Suche)
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