(Ingrid Hella Irmelinde Bernstein)
geboren am 16. April 1935 in Limlingerode, Thüringen
gestorben am 5. Mai 2013 in Heide, Schleswig-Holstein
deutsche Schriftstellerin, Lyrikerin
10. Todestag am 5. Mai 2023
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Sarah Kirsch, in den 1980er Jahren als “bedeutendste Lyrikerin der Gegenwart” gefeiert (Jochen Hieber zit. in Kane), wurde in den 1960ern als Mitglied einer Gruppe kritischer junger DDR-DichterInnen bekannt. Sie wichen ab von der offiziellen Ideologie, die Literatur müsse vor allem die Werte und Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft widerspiegeln. „Ich habe in der DDR gelernt: ‘Ich sagt man nicht.’ ... Wir mussten doch immer etwas Allgemeines schreiben … Das Ich-Sagen war mein Glück” (Kirsch/Radisch). Kirschs Bildsprache, gegründet auf präzise Beobachtung der Natur und des Alltags, ihre oft überraschenden Assoziationen, ihren raffinierten Gebrauch der Umgangssprache und des Satzbaus sowie ihr Gespür für Rhythmus fasste Peter Hacks als “Sarah-Sound” zusammen. Auf ihre bevorzugten Themen – Liebe und Resignation – reagierten manche DDR-Kritiker mit Distanzierung, andere wiederum waren – wie auch ihre LeserInnen im Westen – fasziniert von ihrer Fähigkeit, mit so spürbar persönlichen Gedichten politische und universelle Inhalte zu transportieren. Ihre frühen literarischen und journalistischen Arbeiten, besonders die fünf auf Tonband-Interviews mit Frauen basierenden Texte, die sie 1973 unter dem Titel Die Pantherfrau veröffentlichte, und Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See, eine Sammlung von Short Stories über Frauen aus demselben Jahr, beleuchten die Geschlechterrollen und die Lage der Frauen in der damaligen DDR. Die DDR verstand sich als egalitär, war in der Praxis und in ihren Einstellungen jedoch noch recht patriarchal. Aber während Kirsch später einräumte, dass Frauen (einschließlich ihrer Vorbilder Bettina von Arnim und Annette von Droste-Hülshoff) historisch benachteiligt waren, verwahrte sie sich gegen die Versuche westlicher Feministinnen, sie für die Frauenbewegung zu beanspruchen.
Ingrid Bernstein wird am 16. April 1935 im Pfarrhaus ihres Großvaters in Limlingerode im Südharz (Nord-Thüringen) geboren. Später nennt sie sich Sarah aus Solidarität mit den von den Nazis ermordeten Juden und aus Protest gegen die antisemitischen Ansichten ihres Vaters, eines Fernmeldetechnikers. Sie wächst in Halberstadt auf, das noch im April 1945 schwer bombardiert wird. Trotzdem beschreibt Kirsch später ihre Kindheit als glücklich: “Ich hatte eine Mutter, von der kommt das Urvertrauen. Deswegen habe ich nie Angst … Diese Mutter war ein großes Geschenk” (Kirsch/Radisch). Liebevoll und einfühlsam, lehrt die Mutter die Tochter ihr Wissen über Pflanzen und ist ihr auch als leidenschaftliche Leserin früh ein Vorbild.
Aus Liebe zur Natur macht Ingrid Bernstein nach dem Abitur zunächst eine Forstarbeiterlehre, die sie jedoch bald wieder aufgibt: “ständig Bäume fällen, ... das habe ich nicht ausgehalten. Ich sah von meinem Wald nichts mehr übrigbleiben….“ (Kirsch/Wagenbach). Sie wechselt zum Biologiestudium an der Universität Halle, das sie 1959 abschließt. Sie arbeitet auch – damit die “Entfremdung zwischen Künstler und Volk” überwunden werde, wie es der „Bitterfelder Weg“ verordnet – eine Zeitlang in einer Zuckerfabrik, in einer LPG und in der Heimerziehung. Schon mit 14 hat sie angefangen, Gedichte zu schreiben, aber jetzt widmet sie sich ernsthaft dem Schreiben, zusammen mit dem Lyriker Rainer Kirsch, den sie 1960 heiratet. Trotz ihrer einigermaßen aufmüpfigen Einstellung wird Sarah Kirsch in den Schriftstellerverband aufgenommen und besucht das Johannes-R.-Becher-Institut für Literatur in Leipzig (Kirsch: “Erbrecher- Institut”). 1967 veröffentlicht sie ihren ersten Solo-Gedichtband, Landaufenthalt, und wird über Nacht berühmt: “Mit Sarahs Gedichten war ein neuer, bisher ungehörter Ton in der deutschen Lyrik zu hören.” (Heinz Czechowski, zit. in Kane). Die Gedichte dieses Bandes und der beiden folgenden, Zaubersprüche (1973) und Rückenwind (1976), auf privaten Erfahrungen gründend und oft kritisch gegenüber den Lebensbedingungen in der DDR, werden von den kulturellen Autoritäten der SED mit Misstrauen beäugt. Dennoch wird Kirsch als wichtiges Talent anerkannt, erhält Preise und darf ins Ausland reisen.
1968 lässt sie sich von Rainer Kirsch (“Prinz Herzlos”) scheiden und zieht nach Ostberlin, wo sie von Übersetzungen bescheiden leben kann. 1969 gebiert sie ihren Sohn Moritz; sein Vater ist der Lyriker Karl Mickel. Kirsch verlässt die DDR 1977: Sie hat den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet, wird daraufhin von der Partei und vom Schriftstellerverband ausgeschlossen, beantragt ein Ausreisevisum und erhält es prompt.
Kirsch zieht zuerst nach Westberlin und bekommt 1978 ein Stipendium für die Villa Massimo in Rom. Dort lernt sie den 18 Jahre jüngeren Komponisten Wolfgang von Schweinitz kennen, mit dem sie einige Jahre zusammenlebt. Sie sehnt sich nach einem zurückgezogenen kreativen Leben in der Natur und bezieht schließlich ein ehemaliges Schulhaus in der Gemeinde Tielenhemme in Dithmarschen. Hier hält sie Schafe und einen Esel, beginnt mit Aquarellmalerei – und schreibt jeden Tag. Mehr und mehr wendet sie sich Prosatexten wie Allerlei-Rauh (1988) zu: In ihnen verbinden sich gegenwärtige und frühere Erfahrungen mit Märchenmotiven, subjektive Eindrücke mit umfassenden, dunkleren Themen wie Naturzerstörung und Vergänglichkeit.
Sarah Kirsch bekam viele Preise und Auszeichnungen, darunter den Petrarca-Preis (1976), den Droste-Hülshoff-Preis (1997) und den Georg-Büchner-Preis (1996). Sie starb nach kurzer Krankheit am 5. Mai 2013, ihre Asche ruht im Garten ihres Tielenhemmer Hauses.
(Text von 2017; die ausführlichere englische Version finden sie hier. )
Verfasserin: Joey Horsley
Zitate
„Das Ich-Sagen war mein Glück.“
Literatur & Quellen
Fricke, Lucy. 2013. “Eine andere Art der Einsamkeit.” taz.am Wochenende vom 19. 10. 2013. LITERATUR. 24-25. http://www.taz.de/!439508/
Kane, Martin. 1997. “’Aus der ersten Hälfte meines Landes:’ Sarah Kirsch in the GDR,” in Mererid Hopwood and David Basker (eds), Sarah Kirsch. Cardiff. University of Wales. 13-33.
Kirsch, Sarah. Werke: in fünf Bänden. Hg. von Franz-Heinrich Hackel. Stuttgart. Deutsche Verlags-Anstalt.
Radisch, Iris. 2005. “Man muss demütig und einfach sein.” Interview. DIE ZEIT 14.04.2005 Nr.16. http://www.zeit.de/2005/16/L-Kirsch-Gespr_8ach
Sarah Kirsch. Erklärung einiger Dinge. Dokumente und Bilder. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Rheinbek bei Hamburg. rororo 4877.
Wagenbach, Klaus. 1979. “Von der volkseigenen Idylle ins freie Land der Wölfe. Ein Gespräch mit Sarah Kirsch.” Freibeuter 2. Berlin. Freibeuter/Wagenbach. 85-93.
Wagener, Hans. 1989. Sarah Kirsch. Berlin. Colloquium Verlag. Köpfe des 20. Jahrhunderts.
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