(Sabiha Sertel (Sabiha Zekeriya))
geboren 1895 in osman. Thessaloniki (heute Griechenland)
gestorben am 2. September 1968 in Baku, Aserbaidschan
türkische Journalistin und Schriftstellerin
55. Todestag am 2. September 2023
Biografie
Sabiha Sertel (auch unter dem Namen Sabiha Zekeriya bekannt) war eine namhafte Journalistin in den letzten Jahren des Osmanischen Reichs und den ersten Jahren der Türkischen Republik. In ihren Artikeln behandelte sie Fragen der Frauenrechte und kritisierte staatliche Unterdrückung, Imperialismus, Faschismus und soziale Ungleichheiten in der Türkei. Mit diesen Themen und Positionen setzte sie sich sozialem und politischem Druck aus, wurde inhaftiert und ging schließlich ins Exil.
Sie wurde 1895 als eines von sechs Kindern von Atiye Hanım und Nazmi Efendi in Thessaloniki geboren. Ihr Protest gegen die Unterdrückung der Frau begann bereits in ihrer frühen Kindheit, als sie die äußerst ungleiche Beziehung ihrer Eltern miterlebte: Ihr Vater, ein pensionierter Büroangestellter, ließ sich von ihrer Mutter scheiden, weil diese eines Abends zu spät von ihrer Schwester nach Hause kam. Da war Sabiha etwa acht Jahre alt.
Sabiha besuchte die Terakki Mektebi (die Fortschrittsschule) in Thessaloniki und absolvierte von 1902 bis 1911 die Oberschule. Sie bildete sich danach bei der Tefeyyüz Cemiyeti (Gesellschaft für Fortschritt) weiter, die sie gemeinsam mit anderen jungen Frauen gegründet hatte, denen aufgrund ihres Geschlechts eine höhere Bildung verwehrt war. In diesen Jahren veröffentlichte sie erste Essays und lernte den Journalisten Zekeriya Sertel kennen. Nachdem das Osmanische Reich den Balkankrieg verloren hatte, zog sie 1913 mit ihrer Familie nach Istanbul.
Im Jahr 1915 heiratete sie Zekeriya Sertel und bekam 1917 ihre erste Tochter Sevim. Das Ehepaar rief am 6. März 1919 zusammen mit anderen Intellektuellen die Zeitschrift Büyük Mecmua (Große Rundschau) ins Leben. In dieser Zeitschrift schrieb Sabiha Sertel eine Kolumne mit dem Titel „Cici Anne“ (eine Bezeichnung für eine mütterliche Freundin, die sie auch als Signatur für die Kolumne verwendete).
Beeinflusst von der ersten Welle des Feminismus und der internationalen Frauenwahlrechtsbewegung thematisierte sie in dieser Zeit vor allem die Rechte der Frauen. In ihren späteren Memoiren Roman Gibi (Wie ein Roman, 1969) ging sie auf diese Jahre ein und beschrieb Büyük Mecmua als eine Plattform, auf der sie über den Umbau des Landes diskutierte, weg vom türkischen Nationalismus und Neu-Osmanismus hin zu Sozialismus und Feminismus.
Ihre Memoiren weisen darauf hin, dass die Keime für Atatürks Reformen nach dem Unabhängigkeitskrieg (1919-1923) in den intellektuellen Debatten in Büyük Mecmua zu finden sind, ebenso wie in den erfolgreichen Kämpfen der Frauen um gleiche Rechte. Daher sind die von ihr verfassten Beschreibungen dieser Jahre wichtig, um eine Alternative zu den vorherrschenden Diskursen in der Geschichtsschreibung zu bieten, die sich stark auf eine „Ein-Mann-Figur“ als Retter der Nation stützen.
Als Zekeriya Sertel, der Herausgeber von Büyük Mecmua, 1919 inhaftiert wurde, weil seine Zeitschrift die westliche Besetzung des Landes kritisierte, führte Sabiha Sertel die redaktionellen Aufgaben trotz der strengen Zensur der Nachkriegszeit allein weiter. Ihr Mann konnte das Gefängnis verlassen, aber bald darauf musste die Zeitschrift eingestellt werden. Im Jahr 1919 zogen die beiden mit ihrer Tochter in die USA, um dank eines Stipendiums des Philanthropen und Industriellen Charles Crane zu studieren.
Nachdem sie am Barnard College Englisch gelernt hatte, belegte Sabiha Sertel Soziologiekurse an der Columbia University und studierte zwischen 1921 und 1923 Community Organization (Organisation von Gemeinschaften) an der New York School of Social Work. 1922 wurde ihre zweite Tochter Yıldız geboren. Sie besuchte Kurse von Franklin H. Giddings, machte sich mit seinem Konzept des „Bewusstseins der Art/Gemeinschaft“ vertraut, und später in den Kursen von William F. Ogburn mit den Werken von Morgan, Le Play, Engels und Bebel. Sie beteiligte sich an der Organisation und Gewerkschaftsbildung der Arbeiter, die aus dem Osmanischen Reich in die USA ausgewandert waren. Sie schrieb nicht nur über die Arbeitsbedingungen der Einwanderer, sondern führte auch umfangreiche demografische Erhebungen durch und organisierte gemeinsam mit den eingewanderten Arbeitern Spendenaktionen, um die Türkei in ihrem Krieg gegen die westliche Besatzung zu unterstützen.
Sie beendete ihr Studium und kehrte in die Türkei zurück, um sich nach dem Unabhängigkeitskrieg 1923 mit ihrer Familie in Ankara niederzulassen. Ihre Töchter waren zu diesem Zeitpunkt sechs und zwei Jahre alt. Man bot ihr eine Stelle in der Kinderschutzbehörde an, für die sie zunächst eine Sozialstudie durchführen wollte, um die Lebensbedingungen der Kinder zu untersuchen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Auswirkungen des Krieges, sondern auch in Bezug auf Gesundheit, Kinderarbeit, Bildung usw. Das Projekt wurde nicht genehmigt, und als ihr Mann seine Stelle bei der Generaldirektion für Presse und Information aufgab, zogen sie nach Istanbul.
Sie begannen 1924 mit der Herausgabe der Zeitschrift Resimli Ay (Illustrierte Monatsschrift) in Istanbul. Im selben Jahr begann Sabiha Sertel auch mit einer Kolumne in der Tageszeitung Cumhuriyet (Republik). Neben Resimli Ay beteiligte sie sich auch an der Herausgabe von Resimli Perşembe (Illustrierter Donnerstag) und Çocuk Ansiklopedisi (Kinderenzyklopädie). In ihrer Kolumne in der Cumhuriyet kritisierte sie das Fehlen einer effizienten Sozialpolitik, wobei sie sich auf den Fall einer Frau bezog, die ihr Neugeborenes aufgrund von Armut aussetzte. Daraufhin wurde sie wegen Regimekritik und Anstiftung zum Klassenkampf verurteilt. Auch viele ihrer anderen Schriften in Resimli Ay setzten sie gerichtlichem und außergerichtlichem Druck aus.
Im Jahr 1925 wurden einer der Autoren und der Herausgeber von Resimli Ay, Zekeriya Sertel, vom Unabhängigkeitsgericht in Ankara verhaftet (ein Gericht, das Regierungsgegner verfolgte). Sabiha Sertel gab die Zeitschrift in der Folge allein heraus, doch als Resimli Ay aufgrund von Rechtsstreitigkeiten eingestellt werden musste, setzte sie die Zeitschrift 1926 unter dem Titel Sevimli Ay (Die liebenswerte Monatsschrift) fort. In ihren Erinnerungen erwähnt sie später ihren Artikel über Geburtenkontrolle in Sevimli Ay; dies führte zu einem weiteren Gerichtsverfahren. Nach der Rückkehr ihres Mannes erschien Resimli Ay ab 1926 wieder. In dieser zweiten Erscheinungszeit von Resimli Ay schlossen sich viele andere bekannte Schriftsteller und Dichter, wie Nazım Hikmet, dem Team an. Die Zeitschrift wurde damit zu einer Plattform für neue Literatur mit einer einfacheren Sprache und mehr Interesse am Leben und den Kämpfen der Menschen, insbesondere der Arbeiter und Bauern.
Sabiha Sertel wurde erneut vor Gericht gestellt, weil sie 1930 einen Artikel über die Psychologie eines Führers aus einer amerikanischen Psychologiezeitschrift mit dem Titel Savulun Geliyorum (Geh aus dem Weg, ich komme) übersetzt hatte. Da die politische Haltung von Resimli Ay immer mehr polizeiliche Aufmerksamkeit auf sich zog, stellten die Eigentümer die Zeitschrift 1931 ein.
Mitte der 1930er Jahre begann das Paar für die Zeitung Tan (Morgenröte) zu arbeiten. Sabiha Sertel wurde bis zur Enteignung 1945 eine der antiimperialistischen und antifaschistischen Autorinnen der Tan (siehe unten). In der Zwischenzeit übersetzte sie unter anderem Karl Kautskys „Der Klassenkampf“, Adoratskis „Dialektischer Materialismus“, Lenins „Sozialismus und Krieg“ und August Bebels „Frau und Sozialismus“ ins Türkische. Sie veröffentlichte „Tan Cep Kitapları“ (Taschenbücher) nach dem Motto „hundert Bücher pro Jahr“ , ein Beispiel aus den USA. 1936 schrieb sie den Roman Çitra Roy ile Babası (Çitra Roy und ihr Vater) über eine junge sozialistische Frau, die in Indien unter dem britischen Kolonialismus lebt. Im Jahr 1936 gab sie die Zeitschrift Projektör heraus. Für Tan führte sie 1937 im Ausland Interviews mit PolitikerInnen und DenkerInnen wie Geneviève Tabouis. Zudem schickte sie Artikel an die Zeitschrift Voix Européenne.
Sie erhielt dreimal Schreibverbot, das erste Mal 1941, weil sie die Kollaboration der Türkei mit Deutschland während des Zweiten Weltkriegs kritisierte, das zweite Mal 1942, weil sie sich gegen die nationalistische Bewegung in der Türkei wandte, und das dritte Mal im gleichen Jahr, weil sie über den Kolonialismus im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit beiden Weltkriegen schrieb.
Als die Spannungen zwischen den linken Schriftstellern und den Nationalisten zunahmen, wurde die Zeitung Tan am 4. Dezember 1945 durch eine Studentengruppe völlig verwüstet. Daraufhin wurden sowohl Sabiha als auch Zekeriya Sertel verhaftet und 1946 ins Sultanahmet-Gefängnis gebracht. Aufgrund der zunehmenden politischen Repressionen konnten sie nach ihrer Entlassung nicht mehr als Journalisten arbeiten und verließen 1950 das Land.
Sabiha Sertel verbrachte den Rest ihres Lebens in Paris, Budapest, Moskau und Baku (Aserbaidschan). In diesen Jahren arbeitete sie für den Rundfunk in Budapest und Leipzig sowie für die Türkische Kommunistische Partei (TKP) im Ausland. Sie schrieb Bücher über die Dichter Tevfik Fikret und Nazım Hikmet, den Schriftsteller Sabahattin Ali sowie über ihr eigenes Leben von den 1920er bis Ende der 1940er Jahre (Roman Gibi).
Sie war eine mutige Schriftstellerin und Journalistin. Ihre eigene Herkunft und Geschichte als Kind einer „Dönme“-Familie (im Türkischen: abwertender Begriff für jüdische Menschen, die im 17. Jahrhundert zum Islam konvertierten) hat sie in der bei Gründung des neuen Nationalstaates geschaffenen nationalen Identität begraben. Auch sprach sie nicht für andere ethnische Minderheiten, die durch eben dieses Projekt der Nationenbildung unterdrückt wurden. Darauf weist David Selim Sayers in seiner Einleitung zur Neuauflage von Roman Gibi hin. Burcu Ertuna Biçer erwähnt zudem die Ähnlichkeiten zwischen Sabiha Sertels Herangehensweise an Frauenfragen nach ihrer Rückkehr aus den USA und der des nationalstaatlichen Aufbauprojekts; beide unterstützen ein neues Bild der modernen „verwestlichten“ türkischen Frau. Gleichwohl verurteilt Sertel Unterdrückung und Ungerechtigkeit jeder Art trotz aller Widrigkeiten und trotz starken Drucks. Sie glaubte, dass die Türkei noch nicht reif für eine sozialistische Revolution sei, und unterstützte daher die Reformen der neuen Regierung, die den Voraussetzungen angemessen waren. Doch sie sparte nicht mit Kritik an dem undemokratischen Weg, den die neue Republik einschlug. Während sie in ihren Schriften die Reformen der neuen Republik theoretisch für sinnvoll hielt, auch in Bezug auf die Frauenrechte, beanstandete sie deren praktisches Scheitern. Sie kritisierte sogar ihre eigenen Debatten mit Schriftstellerkollegen über den Sozialismus: Die Art und Weise, wie sie den Sozialismus verteidigt hätten, sei bis zu einem gewissen Grad sektiererisch gewesen. Wäre sie heute noch am Leben, würde sie – nach David Selim Sayers Meinung – wohl als Erste ihre Schriften kritisch beurteilen.
* Sabiha Sertel wird in vielen Online-Biografien als erste Frau in der Türkei bezeichnet, die den Beruf der Journalistin gewählt hat. In anderen Quellen wird jedoch Selma Rıza Feracelli (1872 - 1931), die Autorin von Uhuvvet, als erste Journalistin der Türkei erwähnt.
Einige der Übersetzungen (im englischen Original) sind den Artikeln von A. Holly Shissler und Kathryn Libal entnommen.
Übersetzung ins Deutsche: Almut Nitzsche unter Verwendung von DeepL.com/translator
Verfasserin: Çiçek Uygun
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