geboren am 10. November 1920 in Wien
ermordet am 1. Dezember 1942 in Auschwitz
österreichische jüdische Künstlerin
80. Todestag am 1. Dezember 2022
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Leute verschwinden. Ich möchte leben. Und etwas hinterlassen, ein Dokument, dass ich da war. Ein großes, schönes Werk.
Ein langes Leben war Ruth Maier nicht vergönnt, wohl aber, ein „großes, schönes Werk“ zu hinterlassen: ihr Tagebuch, das in acht Bänden erhalten geblieben ist und uns bis heute einen umfassenden Einblick in ihr viel zu kurzes Leben ermöglicht.
Wien
Geboren 1920 in Wien, wuchs Ruth Maier in einer bürgerlichen jüdischen Familie mit ihren Eltern und ihrer anderthalb Jahre jüngeren Schwester Judith auf. Ihre Kindheit war glücklich; die Familie unternahm zahlreiche Reisen. Zwei Einbrüche veränderten jedoch ihr Leben grundlegend: Zum einen der Tod ihres Vaters, der ihr sehr nahe gestanden hatte, als sie 13 Jahre alt war, und zum anderen die Annektierung Österreichs im März 1938.
Mit zwölf Jahren begann sie mit ersten Eintragungen in ihr Tagebuch, die sich noch nicht von denen anderer junger Mädchen in diesem Alter unterschieden. Es geht um Verliebtheiten, teilweise in Freundinnen, später auch in Jungen und ältere Männer, um Tanzstunden und Berufswünsche. Letztere wechselten durchaus noch von Dichterin („Dichterin, das, was ich heiß ersehene“), zu Ärztin (aber sie merkte, dass Kranke und Hilflose sie zwar anzogen, sie aber auf Dauer ekelten), Schauspielerin (“Wenn ich kein Mensch sein kann, der etwas vermag, möchte ich Menschen spielen, die etwas vermögen.”). Aber vor allem das Schreiben reizte sie immer; sie verfasste erste Prosatexte, begann später auch zu zeichnen. Nicht in Frage kamen jedoch Berufe, bei denen sie nichts „Großes“ hätte werden können. Schon früh beschäftigte sie sich mit politischen Ereignissen – von Gerichtsprozessen bis zum Spanischen Bürgerkrieg – und kritisierte den Geschichtsunterricht, in dem nicht über Tagesereignisse gesprochen wurde. Sie sah sich als Kommunistin und wollte für eine bessere Welt kämpfen.
In der Schule spielte sie häufig die Hauptrolle in den dort aufgeführten Theaterstücken, und oft ging sie ins Wiener Burgtheater.
Nach der Annexion Österreichs gelang es ihrer Schwester Judith, mit einem Kindertransport nach England zu kommen. Ihre Mutter, die eine Zusage für eine Stelle als Köchin hatte, konnte ihr mit der Großmutter im nächsten Jahr nachreisen. Für das folgende Jahr hatten sie bereits Affidavits für die USA; bei ihrem Abschied gingen die Schwestern davon aus, dass sie sich dort wiedersehen würden.
Bereits am 16. Oktober 1938 hielt Ruth Maier fest: „Es sind Pogrome! Sie prügeln die Juden und wollen sie an Laternen aufhängen. Sie rufen »Hepp, hepp«. Die Rettungsgesellschaft hat zu tun. Sie zerstören die Tempel. Sie reißen den alten Juden an den Bärten, sie hauen die Frauen. Sie schlagen die Fenster ein.“ Und schlussfolgerte: „Im Jahre 1938 war es sehr dunkel auf der Erde.“ Und ihr war klar, dass sie das Land verlassen musste, denn “Weil ich Jüdin bin, wollen sie mich morden.”
Die Aussicht, in England nur als Dienstmädchen arbeiten zu dürfen, hielt sie letztendlich davon ab, mit ihrer Familie dorthin ins Exil zu gehen. Ab Herbst 1938 besuchte sie eine jüdische Schule, das Chajes-Gymnasium, das sie als „national bis zur Bewusstlosigkeit“ erlebte. „Erst war meine Gemeinschaft die Menschheit, nun auf einmal soll mir das Judentum die Menschheit ersetzen?“ Erst jetzt wurde sie zur „bewussten Jüdin“, wie sie schreibt.
Norwegen
Im Januar 1939 erhielt Ruth Maier ein dreimonatiges Visum für Norwegen, wo sie bei einem Bekannten ihres Vaters, der sich bereit erklärt hatte, Gastvater und Bürge für sie zu sein, und dessen Familie in Lillestrøm unterkommen konnte. Dort kam sie am 1. Februar an. Auch wenn sie in der Familie freundlich aufgenommen wurde, so plagten sie doch Zukunftsängste. Erst einmal lernte sie Norwegisch, ging im gleichen Jahr noch zur Schule und machte ihr Abitur. Geplant war, dass sie anschließend nach Großbritannien gehen sollte, aber inzwischen war ihr Visum abgelaufen. Zudem wollte sie dort nicht in einem Krankenhaus als Krankenschwester arbeiten.
Nach wie vor war sie politisch interessiert, las Zeitungen und sah sich als Sozialistin. Sie ging davon aus, dass es zu einem Krieg kommen würde und dass sie dann nicht in Norwegen sein wollte. „Ich kann und will nicht länger hierbleiben. Ich kann auf keinen Fall warten bis der Krieg aus ist.”
Aber die anfangs positiv wirkende Situation verschlechterte sich: Ihr Gastvater wurde übergriffig, und sie lebte nur noch neben der Familie her. Sie fühlte sich einsam und vergrub sich in der Bibliothek.
Nach Kriegsausbruch, den sie dann doch in Norwegen erleben musste, nahm der Antisemitismus auch dort zu, und sie musste Beleidigungen erdulden. Das Land war jetzt auch Deutschland gegenüber feindlich gesinnt. Aufgrund des Krieges bestand nach ihrem Abitur im Frühjahr 1940 keine Ausreisemöglichkeit nach Großbritannien mehr, auch gab es kaum noch Möglichkeiten, mit ihrer Familie dort in Kontakt zu bleiben. Dass sie nach Norwegen gegangen war, sah sie inzwischen als Fehler an.
Zudem wurde Norwegen am 9. April 1940 von den Deutschen besetzt, was in ihr Erinnerungen an die Pogrome in Wien wachrief: „Ich will mir nicht klar sein über das, was geschieht. Ich will nicht glauben, dass es ärger ist, als wenn ich in Österreich wäre. Nein! … Ich hoffe. Weiß nicht, worauf.“ Sie behielt die politischen Entwicklungen weiterhin im Blick, so beispielsweise die Besetzung der Niederlande und Belgiens. Aber sie fühlte sich auch zerrissen, wie sie bei einer Begegnung mit deutschen Soldaten merkte: „Sie sprechen Deutsch, und das tut weh. Denn ich liebe die deutsche Sprache, die Sprache, in der Heine seine Lieder geschrieben hat, aber ich hasse die Deutschen.“
Ihre Einsamkeit verstärkte sich noch; sie konnte mit niemand reden und las viel, von deutscher bis zu norwegischer Literatur, aber auch historische Werke wie Trotzkis Geschichte der russischen Revolution – ihr größtes und schönstes Erlebnis zu dieser Zeit, wie sie fand. Und fragte sich, wie sie als Emigrantin kämpfen könnte. Sie entschloss sich, Mitglied des A.U.F. (Arbeiter-Jugend-Verband) der Internationalen Friedensliga zu werden, eines sozialistischen Verbandes. Später sollte sie sich von der Friedensliga abwenden - sie war ihr zu pazifistisch.
Erst einmal suchte sie dringend Arbeit, die schwierig zu bekommen war, da sie keine Arbeitserlaubnis für Norwegen hatte. Im Sommer 1940 konnte sie auf einem Bauernhof arbeiten, anschließend bewarb sie sich für den freiwilligen Frauenarbeitsdienst (Hofarbeit und Fürsorgedienst) und war in mindestens drei Arbeitsdienstlagern. In einem davon lernt sie die spätere Lyrikerin Gunvor Hofmo kennen und lieben: „Die Tage sind heller, wenn man liebt.“ Sie fand: „Alle sollen einen Menschen haben, den sie so lieb haben wie ich dich“ – ob „Mädchen oder Bursch“, für sie war beides möglich.
Weiterhin dichtete sie, zeichnete viel und entdeckte die Musik von Mozart und Beethoven für sich.
Im Februar 1941 wurde sie nach einem Nervenzusammenbruch auf eigenen Wunsch für fast zwei Monate in die psychiatrische Abteilung des Ullevål-Krankenhauses in Oslo aufgenommen. Auch dort zeichnete und las sie viel und widmete sich der Aquarell-Malerei; sie glaubte, ihren eigenen Stil gefunden zu haben, der von Edvard Munch beeinflusst war.
Oft war sie jedoch verzweifelt und in Gedanken bei ihrer Freundin: „Komisch, dass ich, wo immer ich auch beginne, zu Gunvor zurückkehre. (…) Sie ist der lichte Punkt, dem ich entgegenlebe.“ Häufig kam diese zu Besuch: “Ohne Gunvor würde ich das Leben gar nicht aushalten. Mir ist so, als binde sie mich ans Dasein.”
Aber sie sah ihre Situation weiterhin als aussichtslos, da sie keine Perspektive hatte, eine Anstellung zu finden, um Geld zu verdienen und für sich selber zu sorgen.
Immer wieder ging sie auf die Wichtigkeit des Tagebuch-Schreibens ein: „Ich schreibe nicht Tagebuch, um »Reflexionen« niederzuschreiben, geistreiche Gedanken zu verewigen. Ich schreibe, um Gefühle auszulösen, die mich sonst ersticken würden. Um in Wunden zu wühlen, damit sie offen stehen.“ Und was es ihr bedeutet: „Ja, so hat das Tagebuch seinen Zweck erfüllt. Weil ich von Gunvor und ihren Briefen erzählt habe, ist mir leichter geworden.“ Später im gleichen Jahr schrieb sie: „Wie das seltsam ist, dass es das Herz leichter macht, mit Tinte und Feder Worte hinzukritzeln. Wenn ich so sitze und schreibe, da beugt sich meine Sehnsucht über die Zeilen, weilt, und ich spüre nicht, dass es weh tut.“
Den Sommer des Jahres 1941 verbrachte Ruth Maier mit ihrer Freundin Gunvor Hofmo und anderen Freundinnen in einem Arbeitslager in Stavanger. Lillestrøm zu verlassen, war für sie ein befreiendes Gefühl. Danach arbeitete sie eine Zeitlang mit ihrer Freundin in einem Blumenladen und einer Gärtnerei und wohnte auch mit ihr zusammen; anschließend fanden sie wieder gemeinsam Arbeit auf einem Bauernhof. Im Herbst kehrten sie zurück nach Lillestrøm, wo sie beide die Handelsschule besuchten.
Ruth Maier begann, für den Maler Aasmund Esval Modell zu stehen, um Geld zu verdienen, später auch für den Bildhauer Gustav Vigeland.
Als im März 1942 die Juden und Jüdinnen in Norwegen registriert wurden, gab sie auf ihrem Fragebogen an, dass sie aus der mosaischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten ist. Noch am 15. November des Jahres stand sie nicht auf der polizeilichen „Judenliste“ des Bezirks, in dem sie wohnte.
Die Bedrohung kam deutlich näher und sie fragte sich, wie sie damit umgehen solle. Was den Krieg betraf, merkte sie, wie sie abstumpfte: „Die Gefühle kommen abhanden. Man denkt nur hie und da irgendeinen Gedanken wie: Sie morden einander. Ja. Und wann wird es enden? … Sonst nichts.“ Das, was in Norwegen geschah, war ihr näher, hielt aber auch nicht „länger als eine Stunde“ an. Sie hatte das Gefühl, dass das, was in den Zeitungen stand, sie nichts mehr anginge und wehrte sich dagegen, sich darüber Gedanken zu machen, da es ja nichts nütze, denn sonst würde sie ihre Ohnmacht doppelt fühlen.
„Mit 21 Jahren haben wir alle resigniert. Resigniert vor dem Leben, wie es ist, resigniert vor der Gewalt, dem Unrecht, dem Krieg.“
Ihr Leben spielte sich jetzt ab zwischen Schule, Modellstehen und Gunvor. Sie wollte malen und für die Kunst leben, dann wäre ihr Leben nicht umsonst. Sie malte Aquarelle, Stadtmotive, häufig waren es Friedhöfe. Und schrieb Prosagedichte.
Im Herbst bezog sie ein eigenes kleines Zimmer in einer Pension für junge Frauen Englehjemmet in Oslo und verdiente ihr Geld mit dem Bemalen von Souvenirs, während sie Zeichenunterricht an der Kunst- und Handwerksschule nahm.
Die erste Aktion am 25. Oktober 1942, bei der männliche Juden verhaftet wurden, konnte Ruth Maier noch in ihrem Tagebuch festhalten, von der zweiten, bei der auch jüdische Frauen und Kinder festgenommen wurden, war sie dann selber betroffen. Am 26. November wurde sie in ihrer Pension festgenommen. Sie wusste, dass sie nie mehr zurückkehren würde. Zusammen mit 188 Frauen, 42 Kindern und 116 älteren Männern wurde sie nach Auschwitz gebracht, wo sie am 1. Dezember unmittelbar in die Gaskammern getrieben wurden.
Gedenken
„Zwillingsseelen – und einer der beiden Zwillinge starb“. So beschrieb Gunvor Hofmo, was sie mit Ruth Maier verband in einem ihrer Werke, in das vieles aus ihrer Freundschaft eingeflossen ist.
Ihr ist es zu verdanken, dass die Tagebücher von Ruth Maier bewahrt blieben. Sie wurden in ihrem Nachlass gefunden und zusammen mit MAiers Briefen dem norwegischen Holocaust Zentrum übergeben. Das „Ruth Maier Archiv“, das außerdem Aquarelle, Zeichnungen, Fotoalben und andere Dokumente enthält, wurde 2014 in das Verzeichnis des Weltdokumentenerbes der UNESCO ins Programm „Memory of the World“ aufgenommen.
In Norwegen wurde das Theaterstück „Zwillingsseelen“ von Otto Homlung über Ruth Maier und Gunvor Hofmo 2013 vom norwegischen Riksteatret aufgeführt. Außerdem sind sowohl ein Dokumentarfilm als auch ein Musical zu den beiden Frauen in Vorbereitung.
Vor der ehemaligen Pension, in der Ruth Maier zuletzt wohnte, wurde im August 2020 ein „Snublestein“, also Stolperstein, für sie verlegt. Die norwegische Zeitung Aftenposten bezeichnete sie als „norwegische Anne Frank“.
In Wien gibt es seit September 2021 im Stadtteil Leopoldstadt einen Ruth-Maier-Park.
Ruth Maier hat ein Dokument hinterlassen, das zeigt, dass sie da war.
Verfasserin: Doris Hermanns
Literatur & Quellen
Literatur über Ruth Maier:
Wolfert, Raimund: “Ist das deine oder meine Freundin?“ Ruth Maier (1902-1942). In: Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska und Lutz van Dijk (Hg.): Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten. Berlin, Querverlag, 2020
Wolfert, Raimund: Eine jüdische Freundin, die sie umgebracht haben. In: LAMBDA-Nachrichten 1/2008, S. 30–33
Ruth Maier in der Deutschen National Bibliothek
Ruth Maier in der Österreichischen Nationalbibliothek
Tagebücher und Briefe von Ruth Maier:
„Das Leben könnte gut sein“: Tagebücher 1933 bis 1942. Hg. von Jan Erik Vold. München, DVA, 2008. Neuauflage unter dem Titel: „Es wartet doch so viel auf mich …“: Tagebücher und Briefe Wien 1933 – Oslo 1942. Wien, Mandelbaum, 2020
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.