(Ehrenname: Jianhu Nüxia (鑑湖女俠) = Ritterin vom Spiegelsee )
geboren am 8. November 1875 in Xiamen (Provinz Fujian), China
gestorben am 15. Juli 1907 in Shaoxing (Provinz Zhejiang), China
chinesische Frauenrechtlerin, Schriftstellerin, Kampfkünstlerin und Revolutionärin
115. Todestag am 15. Juli 2022
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Wäre Qiu Jin Europäerin oder US-Amerikanerin gewesen, sie wäre mindestens so berühmt wie ihre Zeitgenossinnen Hedwig Dohm, Anita Augspurg, Emmeline und Christabel Pankhurst oder Alice Paul. Ihre Forderungen waren keineswegs weniger radikal als die ihrer westlichen Schwestern, ihr persönlicher Einsatz nicht weniger aufopfernd – ganz im Gegenteil, bezahlte sie ihn doch mit ihrem Leben. Dabei kämpfte Qiu Jin an zwei Fronten: zum einen für die Befreiung der Frauen aus der männlichen Unterjochung, zum anderen für die Befreiung ihres Landes von der Qing-Dynastie und den ausländischen Mächten, die sich in China wie Kolonialherren aufführten.
Keine Frau der späten chinesischen Kaiserzeit hinterließ nachdrücklichere Spuren in der Geschichte ihres Landes. Sie ist neben Sun Yat-sen die einzige historische Persönlichkeit, die heute noch sowohl in China als auch in Taiwan geehrt wird. Anlässlich ihres 50. Todestages wurde in ihrer Heimatstadt Shaoxing ein Museum eingeweiht. Seit ihrem gewaltsamen Tod bis heute erschienen über Qiu Jin mehrere Dutzend Monographien und ungezählte Artikel. 2005 kam in China eine Briefmarke mit ihrem Konterfei heraus. Ihr zu Ehren wurden Denkmäler errichtet. Viermal wurde ihr Leben verfilmt (zuletzt 2011), sowohl in China und Hongkong als auch in Taiwan.
Trotzdem ist Qiu Jin in der westlichen Welt, auch in feministischen Kreisen, nahezu unbekannt. Zum einen liegt nur ein Bruchteil der Literatur über sie in westlichen Sprachen vor. Von ihrem eigenen literarischen Schaffen, das sowohl lyrische als auch Prosatexte umfasst, sind überhaupt nur ihr unvollendet gebliebenes Hauptwerk, der Roman Die Steine des Vogels Jingwei, sowie einige Gedichte in französischer, deutscher oder englischer Sprache verfügbar. Ein weiterer Grund für ihren geringen Bekanntheitsgrad liegt möglicherweise in einer gewissen westlichen Überheblichkeit und der Geringschätzung von Persönlichkeiten aus „exotischen“ Ländern.
Qiu Jin wird in Xiamen in eine gutsituierte und gebildete Beamtenfamilie hineingeboren. Die Familie stammte ursprünglich aus Shaoxing, war aber dem Großvater nach Xiamen gefolgt, der dort den Posten des Stadtpräfekten bekleidet. Da Xiamen seit 1842 als britischer Vertragshafen fungiert, hat der Großvater ständig mit Engländern zu tun und ist immer wieder deren Demütigungen ausgesetzt, von denen auch die junge Qiu Jin erfährt. Als er 1890 aus Verbitterung den Dienst quittiert, kehrt die Familie nach Shaoxing zurück.
Qiu Jin ist das zweite von vier Kindern; es gibt noch einen älteren Bruder sowie eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder. Ihre Erziehung ist nach damaligen Maßstäben unkonventionell. Eine allgemeine Schulpflicht gibt es ihrerzeit noch nicht, und Bildung erhalten üblicherweise bestenfalls die Söhne. Überhaupt gelten Mädchen wenig, denn nur ein Sohn kann zu den Ahnen beten und der Familie Wohlstand und Ansehen bringen. Ein Mädchen kostet Geld für Lebensunterhalt und Aussteuer und bringt höchstens etwas ein, sofern ein guter Brautpreis für sie erzielt wird. Aber dann wird sie in der Familie ihres Mannes leben und ist für ihre Herkunftsfamilie nutzlos.
Aber ihre Mutter Dantai ist eine gebildete, kultivierte Frau, die Qiu Jin Lesen und Schreiben beibringt und ihr die Liebe zur Literatur und Poesie vermittelt. Mit elf Jahren liest Qiu Jin die klassischen Dichter und beginnt bald, ihre ersten eigenen Verse zu schreiben. Weiteres Wissen schnappt sie auf, wenn der ältere Bruder vom Hauslehrer unterrichtet wird. Jedoch erwirbt Qiu Jin auch praktische Fähigkeiten: Ihr Onkel mütterlicherseits und ihr Cousin, ein Großmeister der Kampfkünste, unterrichten sie im Reiten, in Körperbeherrschung und verschiedenen Kampfkünsten, einschließlich des Stock- und Schwertkampfs.
Diese Aktivitäten lassen darauf schließen, dass Qiu Jins Füße nicht gebunden wurden, wie damals weitgehend üblich. Die Verkrüppelung der Füße von Frauen wurde in China seit etwa dem 10. Jh. praktiziert. Möglichst kleine Füße galten bald als Schönheitsideal und für Männer sexuell attraktiv. Insbesondere Männer in höheren Positionen rühmten sich gerne der winzigen Füße ihrer Ehefrauen, bedeutete es doch, dass diese nicht arbeiten mussten; dafür gab es Dienstboten. Zugleich hatten die verkrüppelten Füße den „Vorteil“, dass sie den Aktionsradius der Frauen erheblich beschnitten. Denn abgesehen von der unnatürlichen Körperhaltung und den unsäglichen Schmerzen durch Entzündungen, absterbende Zehen und faulendes Fleisch konnten viele Frauen nur gehen, indem sie in Schühchen mit hohen Absätzen balancierten und sich an den Wänden festhielten. Mit der Deformierung der Füße wurde bei Mädchen ab dem sechsten Lebensjahr begonnen, indem die Zehen nach hinten gebogen und immer fester bandagiert wurden. Vor allem die Mütter legten größten Wert auf die Einhaltung dieser Sitte, denn damit erhöhten sie den Heiratswert ihrer Töchter. Nur in der Unterschicht wurden die Füße weniger oder manchmal gar nicht gebunden, denn hier konnte man(n) es sich nicht leisten, dass eine Frau nur herumsaß.
Die große Dankbarkeit, die Qiu Jin gegenüber ihrer Mutter zeitlebens empfand, rührte wohl auch daher, dass diese auf die Einhaltung dieser Tradition verzichtete.
1896 wird Qiu Jin im relativ späten Alter von 21 Jahren auf die gängige Weise, nämlich über die Vermittlung der jeweiligen Väter, mit dem Kaufmannssohn und Gutsverwalter Wang Tingjung aus der Provinz Hunan verheiratet. Dessen Familie ist wie auch er selbst sehr konservativ und traditionsbewusst. Qiu Jin beschreibt ihn als „neureich, gewissenlos und ungebildet“. Sie fühlt sich allein und hat niemanden zum Reden, so dass sie all ihre Gedanken und Gefühle in Gedichten und kurzen Prosatexten ausdrückt. Erst als sie 1897 den Sohn Yuande und 1901 die Tochter Guifeng zur Welt bringt, sind die Schwiegereltern zufrieden.
In den kommenden Jahren wird Qiu Jin durch die äußeren Umstände stark politisiert. Ab 1898 will eine Reformbewegung das Land in eine konstitutionelle Monarchie mit einem nationalen Parlament umwandeln und durch Reformen in Landwirtschaft, Industrie, Handel und Bildung das Staatswesen modernisieren. Diese Bewegung scheitert nicht zuletzt am Widerstand der Kaiserin Cixi. Das zeigt nach Auffassung zahlreicher Intellektueller, dass wirkliche Reformen ohne den Sturz der Qing-Dynastie nicht möglich sind. Staatliche Repressalien, Korruption, Hungersnöte, Banditentum, Unzufriedenheit der Massen und die Agitation verschiedener Geheimgesellschaften führen 1900 zum „Boxeraufstand“. Die ausländischen Vertragsmächte (v.a. Großbritannien, Frankreich, Deutsches Reich, Russland, Japan, USA) sehen ihre Pfründe in Gefahr und entsenden ein Expeditionscorps, das diesen Aufstand niederschlägt und damit letztlich das schwache Kaiserregime stützt.
Als glückliche Fügung erweist sich für Qiu Jin, dass ihr Mann sich 1900 einen Posten im Finanz- und Steuerministerium in Peking kauft und die junge Familie in die Hauptstadt zieht. Hier genießt sie als Frau größere Freiheiten und findet Kontakt zu reformerisch orientierten Intellektuellen. In Wu Zhiyin, der ebenfalls fortschrittlich gesinnten Ehefrau eines Kollegen ihres Mannes, findet sie zum ersten Mal eine Herzensfreundin. Mit weiteren Frauen, u.a. der japanischen Frau eines anderen Kollegen, diskutieren sie die Lage der chinesischen Frauen und sind sich einig, dass dringender Handlungsbedarf besteht:
Nach konfuzianischer Lehre sind Frauen den Männern grundsätzlich untergeordnet. Dies spiegelt sich nicht nur in den schlechten Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und ihrem Wert bestenfalls als Braut wider, sondern setzt sich im ganzen Leben fort. Frauen sind zunächst ihren Vätern, dann ihren Ehemännern und schließlich ihren Söhnen untertan. Ihr Vermögen, so sie welches haben, geht in den Besitz des Ehemannes über. Der Ehemann kann sich eine Konkubine nehmen oder scheiden lassen – die Ehefrau nicht. Falls der Mann stirbt, muss die Ehefrau drei Jahre trauern, erneut heiraten darf sie nicht. Dagegen kann ein Witwer sich nach „Ersatz“ umsehen, sobald die Ehefrau beerdigt ist. Wie drängend das Problem der Witwen ist, sieht Qiu Jin am Beispiel ihrer Mutter: Als der Vater 1901 stirbt, weigert sich die Familie ihres Mannes, die „Schwiegermutter“ finanziell zu unterstützen. In jeder Lebenssituation sind Frauen von Männern völlig abhängig, wozu nicht zuletzt die gebundenen Füße beitragen, die eigene Wege ganz unmöglich machen.
Qiu Jin erfährt, dass in Japan die Lebens- und Bildungsmöglichkeiten für Frauen weitaus günstiger sind als in China. So ist es nichts Ungewöhnliches, dass dort Frauen studieren. Viele westliche Werke sind ins Japanische übersetzt, und nicht zuletzt kommen die Ideen der Emanzipation und der Revolution aus Japan. Für ChinesInnen ist Japan der Hort des Fortschritts. 1904 verlässt Qiu Jin kurz entschlossen Mann und Kinder und reist nach Tokio. Zuvor lässt sie über Wu Zhiyin ihren Schmuck verkaufen, um genug Reise- und Studiengeld zu haben.
In Tokio ist Qiu Jin sofort von Gleichgesinnten umgeben; hier beginnt ihre politische Karriere. Sie lernt Japanisch, besteht die Aufnahmeprüfung an einer Frauenhochschule, besucht Vorlesungen und schließt sich mehreren chinesischen studentischen Verbindungen an, u.a. der von dem ebenfalls in Japan lebenden Sun Yat-sen begründeten und revolutionär orientierten Tongmenghui, gründet selbst die rein weibliche Gongaihui und tritt der Geheimgesellschaft der Triaden bei. Im Statut der Gongaihui heißt es, Frauen sollten dazu ausgebildet werden, nationale Verantwortung zu übernehmen. In der Auseinandersetzung zwischen Reformisten (die es bei einer konstitutionellen Monarchie in China belassen wollen) und den Revolutionären (für die die Absetzung der Qing und Ausrufung einer Republik die Bedingung für einen Neubeginn ist) schlägt sich Qiu Jin auf die Seite der Revolutionäre. Sie lernt ihren entfernten Cousin Xu Xilin kennen, mit dem sie später den Aufstand der Provinzen Zhejiang und Anhui anführen soll.
Sie gilt schon bald als begabte und mitreißende Rednerin und veröffentlicht Artikel zu einem breiten Themenspektrum in den von chinesischen Studentinnen publizierten Zeitungen. Sie beginnt mit ihrem Roman Die Steine des Vogels Jingwei, den sie in der Form eines klassischen Tancis verfasst, eine Art Sprechgesang, der vor allem von Frauen gepflegt wird und Frauen anspricht. In diesem Roman wirbt sie über ihre Protagonistinnen Jurui und Shaoxi für Frauenfreundschaft, Frauenbildung und die Unabhängigkeit von Männern.
In ihren Reden, Gedichten und Artikeln plädiert Qiu Jin für Bildung und Ausbildung für alle Mädchen – unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit – nicht nur in den schöngeistigen Fächern, sondern auch in Physik, Chemie, Astronomie, um von Männern unabhängig leben zu können. Außerdem kämpft sie für das Verbot des Füßebindens und des Brautkaufs. Für Qiu Jin sind Frauen und Männer gleich in ihren Rechten und Pflichten. Dies schließe auch die Pflicht zum bewaffneten Kampf ein, und dieser sei absolut notwendig, um die Qing-Dynastie abzusetzen und die Fremden aus dem Land zu jagen, damit eine demokratische Republik geschaffen und politische, soziale und wirtschaftliche Reformen durchgeführt werden können. Diese seien wiederum nötig, um den Frauen die Gleichberechtigung zu sichern. Ihre Artikel unterzeichnet sie mit „Jianhu Nüxia“ (Ritterin vom Spiegelsee). Sie sucht in der Literatur nach Vorbildern und findet diese in Jeanne d’Arc, der französischen Revolutionärin Jeanne-Marie Roland sowie der russischen Anarchistin Sofija Perovskaia – und nimmt Unterricht im Schießen und in der Sprengstoffherstellung.
Anfang 1906 kehrt Qiu Jin nach China zurück. Im Norden der Provinz Zhejiang unterrichtet sie zunächst an einer der allmählich zahlreicher werdenden Mädchenschulen Japanisch und Sport. Sie fordert die Einführung naturwissenschaftlicher Fächer sowie weiterer Fremdsprachen an den Mädchenschulen. Die Mädchen ermutigt sie, höhere Bildung und einen Beruf anzustreben, um finanziell unabhängig zu sein. Ein Skandal in der konservativen chinesischen Gesellschaft!
Aber das reicht ihr längst nicht: Sie gründet die erste chinesische Frauenzeitschrift, Zhongguo nübao („Zeitschrift der chinesischen Frau“), in der sie die Frauen dazu aufruft, die Unterdrückung innerhalb ihrer Familien und in der Gesellschaft nicht mehr hinzunehmen und insbesondere gegen die Verkrüppelung ihrer Füße und die arrangierten Ehen Widerstand zu leisten. Wegen Geldmangels muss die Zeitschrift allerdings nach wenigen Ausgaben eingestellt werden.
Qiu Jin begreift, dass soziale Reformen ohne eine Änderung der politischen Machtverhältnisse unrealistisch sind. Sie nimmt das Angebot der Guangfuhui an und wird Leiterin der Datong-Schule in ihrer Heimatstadt Shaoxing. Die Guangfuhui ist eine der größten bewaffneten, revolutionären Organisationen. Eine ihrer Zellen wird von Xu Xilin geleitet, der kurz zuvor auch die Datong-Schule gegründet hat. Die Datong ist dem äußeren Anschein nach eine normale Schule, dient aber heimlich der Rekrutierung und dem militärischen Training von RevolutionärInnen. Qiu Jin ist unter ihren StudentInnen unumstritten. Sie unterrichtet Kampfsport und versucht, mehr Frauen für die Schule zu gewinnen. In der Stadt eilt ihr der Ruf voraus, redlich und ehrenhaft zu sein und sich für Arme und Schwache einzusetzen. Die Guangfuhui überträgt ihr und Xu Xilin die Aufgabe, die Revolution in den Provinzen Zhejiang und Anhui anzuführen. Qiu Jin ist die einzige hochrangige Frau der Revolutionsbewegung. Das führt Neider auf den Plan, die ihr diese Position nicht zutrauen. Zudem provoziert sie ihre Widersacher damit, dass sie nur in schwarzer Männerkleidung auftritt und im gestreckten Galopp durch die Straßen prescht.
Doch der für den 19. Juli 1907 beabsichtigte Aufstand scheitert. Die Pläne wurden verraten; vorzeitige Unruhen Anfang Juli versetzen die Streitkräfte in Alarmzustand. Xu Xilin, der eigentlich ein Ablenkungsmanöver in Anhui anführen sollte, versucht herauszuholen, was noch möglich ist, und tötet am 6. Juli den Provinzgouverneur von Anhui. Xu Xilin wird gefangen genommen und kurz darauf hingerichtet. Nun werden die Regierungstruppen Richtung Shaoxing in Marsch gesetzt. Qiu Jin, die von einem Schüler der Militärakademie gewarnt wird, lässt alle Waffen verstecken, verbrennt belastendes Material sowie die Namenslisten der SchülerInnen und entlässt diese nach Hause. Als Datong am 13. Juli umstellt wird, ist sie dort allein mit einem weiteren Lehrer und fünf Schülern.
Qiu Jin wird zunächst ins Frauengefängnis von Shaoxing verbracht, und da sie sich ausschweigt und nichts Belastendes gefunden werden kann, wird sie gefoltert, um weitere Pläne und die Namen ihrer Mitverschwörer preiszugeben. Doch trotz der Misshandlungen schweigt sie weiter. Obwohl ihr persönlich nichts vorgeworfen werden kann, wird sie zum Tode durch das Schwert verurteilt und zwei Tage später geköpft. Sie wird nicht einmal 32 Jahre alt.
Zuvor hatte sie noch drei Wünsche geäußert: sie möchte noch ihren Freunden schreiben, sie will sich vor der Hinrichtung nicht entkleiden müssen, und ihr Kopf soll anschließend nicht der Volksmenge gezeigt werden. Die letzten beiden ihrer Wünsche werden ihr erfüllt.
Die chinesische Revolution, bei der schließlich das Kaiserreich unterging, fand 1911 statt. Sun Yat-sen, ab 1912 der erste Präsident der Republik China, würdigte Qiu Jin als „die erste Märtyrerin“ der Revolution und ließ ihr zu Ehren eine Gedenktafel aufstellen. Nach Bewältigung zahlreicher Schwierigkeiten gelang Qiu Jins Freundinnen Wu Zhiyin und Xu Zihua 1912 endlich die Umbettung des Sarges an den Westsee bei Hangzhou, wie es Qiu Jins Wunsch gewesen war, und die Errichtung eines Mausoleums.
Die chinesische Frauenbewegung, die sich ab 1912 bildete, orientierte sich stark an den Forderungen der europäischen und amerikanischen Frauenrechtlerinnen. Zugleich beriefen sie sich auf „die erste Feministin Chinas“, Qiu Jin. Guifeng trat auf ihre Weise in die Fußstapfen ihrer Mutter: Sie wurde die erste chinesische Fliegerin.
(Text von 2016)
Verfasserin: Christine Schmidt
Zitate
Weiterhin war seit Tausenden von Jahren eine schreckliche Sitte verbreitet: die Männer wurden übermäßig hoch geschätzt und die Frauen unterbewertet. Die Männer in jenem Land hatten eigens ganze Bücher geschrieben und barbarische Riten erfunden, um die Frauen zu versklaven. Sie hatten grausame Unterdrückungsmechanismen praktiziert. Um ungeniert üblen Gebrauch davon machen zu können, hatten sie folgende Formel gefunden: für eine Frau ist der Mangel an Geistesgaben eine Tugend. So wurden die Frauen nicht unterrichtet und verblieben in völliger Unwissenheit. Nachdem die Männer einmal damit angefangen hatten, ihre eigenen Verdienste zu übertreiben, betrachteten sie letztlich die Frauen als ihre Sklavinnen, als Lasttiere. Sie wussten nichts davon, dass Männer und Frauen von Natur aus gleich sind. Dass sie Wesen mit vier Gliedmaßen und fünf Sinnen, mit Weisheit und Intelligenz, Mut und Kraft sind, und sie wussten auch nicht, dass die Frauen die gleichen Rechte und Pflichten haben wie die Männer.
[aus: Die Steine des Vogels Jingwei]
Aus ganzem Herzen bettle und flehe ich meine 200 Millionen Landsfrauen an, Verantwortung als Staatsbürgerinnen zu übernehmen. Erhebt euch! Erhebt euch! Chinesische Frauen, erhebt euch!
Wenn jene [Frauen], die reich und glücklich sind, Großmut beweisen würden, könnten sie kraft ihres Geldes oder ihres Einflusses anderen Frauen helfen, indem sie dafür sorgen, dass für diese Schulen und Fabriken eröffnet werden. Dann könnten diese Frauen studieren, einen Beruf erlernen und so für ihren eigenen Lebensunterhalt arbeiten und endlich damit aufhören, dieses Elend zu ertragen.
Den ganzen lieben langen Tag zu beten nützt nichts, es hält einen höchstens für immer in Unglück und Schwierigkeiten fest. Dämonen, Unsterbliche, böse Geister, Buddha, das sind alles Lügen, um die Menschen in die Irre zu führen. […] Lasst mich euch eines fragen: Habt ihr schon einmal nach einem Unglück, einer Überschwemmung, einer Plünderung, einem Krieg erlebt, dass Dämonen, Unsterbliche oder Buddha euch zu Hilfe gekommen wären?
Wie wären wir glücklich, wenn wir alle, Männer wie Frauen, es unseren Vorfahren gleichtun könnten, die politische wie militärische Angelegenheiten gleichermaßen beherrschten. Dann wäre es uns ein Leichtes, die Fremden zu vertreiben, und wir würden ohne weitere Schwierigkeiten den Wohlstand des Landes wiederherstellen. Dann wären wir nicht da, wo wir heute sind: Resigniert bis auf den Tod, schutzlos einer Regierung preisgegeben, die uns im Inneren des Landes unterdrückt und ausländischen Mächten ausliefert, die ihre Armeen auf uns hetzen.
Es gibt Männer, die während ihrer schwierigen Studienzeit beständig von ihren Frauen unterstützt worden sind. Ihre Frauen haben mit ihnen Armut und Schwierigkeiten ertragen, und an dem Tag, an dem die Männer endlich am Ziel ihrer Wünsche angekommen sind, legen sie sich eine hübsche Konkubine oder Geliebte zu und jagen ihre erste Frau zum Teufel, ohne sich jemals wieder an die Unterstützung zu erinnern, die sie von ihr erhalten haben.
Warum soll man die Männer ehren, die Frauen aber sollen gar nicht zählen? So haben die Frauen zum Beispiel überhaupt kein Anrecht auf einen Anteil am Besitz von Reichtümern; das gesamte Erbe fällt an die Söhne. Ein Mädchen stammt doch ebenso von seinen Eltern ab wie ein Sohn, warum sollte man dann im Augenblick der Verteilung der Erbschaft mit zweierlei Maß messen?
Was könnte wohl lächerlicher sein, als zwei Menschen miteinander zu verheiraten, nur weil ihre Horoskope übereinstimmen?
Die bandagierten Füße sind zu allen Zeiten etwas Schändliches gewesen. Frauen quälen ihren eigenen Körper, um kleine Füße zu bekommen! Beim Gehen können sie sich überhaupt nicht frei bewegen, weil die zerquetschten Knochen und verkümmerten Muskeln so sehr schmerzen. […] In Gefahrensituationen sind sie ohnmächtig wie ein Gefangener, denn sie können nicht fliehen, weil sie sich ja nicht bewegen können. […] Es gibt auch Frauen, die überhaupt keine Selbstachtung besitzen. Sie lieben die kleinen Füße selbst ebenso wie ihre Ehemänner; sie schnüren die Bandagen, die sie zusammenhalten, immer noch enger und können sich auf diese Weise schmeicheln, es geschafft zu haben, dass ihre Füße einer drei Zoll großen Lotosknospe gleichen. […] Wenn sie sich an ihre Tür anlehnen müssen, halten sie sich für schön und anziehend. Anstatt sich zu wehren gegen ihre Lebensbedingungen, sind sie mit sich zufrieden und begnügen sich damit, die Sklavinnen ihrer Söhne und Ehemänner zu sein. Aber wissen sie denn nicht, dass es eine Gewohnheit der Männer ist, ihre alten Frauen aufzugeben und sich um neue zu kümmern? Glauben sie etwa, dass sie ihr Mann nicht verlassen wird, weil sie kleine Füße haben? […]
Das ist es wahrhaftig nicht wert, auf das Wohlbefinden, das man mit unverkrüppelten Füßen genießt, zu verzichten. Denn wenn man die Füße nicht bandagiert, braucht man beim Gehen, auch auf schwierigen Wegen, nie mehr vor Schmerzen das Gesicht zu verziehen. Man wird kräftig, da man Sport treiben kann, und es ist Schluss mit der Schwächlichkeit und der hinfälligen Schönheit von einst. Man kann sich allen möglichen Tätigkeiten widmen und braucht nicht länger die Hilfe eines Mannes.
Die Frauen müssen etwas lernen, um unabhängig zu werden. Sie dürfen sich nicht immer in allen Dingen an die Männer klammern.
Die jungen Intellektuellen rufen „Revolution, Revolution!“, aber ich sage, die Revolution muss in unseren Häusern beginnen, indem die Gleichberechtigung für alle Frauen erlangt wird.
Sag nicht, dass Frauen keine Helden werden können. Sie reiten auf dem Wind 10.000 li weit in Richtung Osten.
Wer hätte je gedacht, dass es [= ein Schwert] in meine Hand gelangt?
In der Rechten das Schwert, in der Linken den Schnaps,
trunken und übermütig erhebe ich es beim Tanzen.
Es schwingt sich wie Drachen und Schlangen durch die Lüfte.
Wie könnte ich um Reis bettelnd zum Sklaven der Hu [= Mandschu] werden?
[aus: Jian ge, das Schwertlied]
Möge der Himmel Männern wie Frauen die gleiche Macht verleihen.
Ist es angenehm, niedriger als das Vieh zu leben?
Wir werden uns im Flug erheben, ja.
Wir werden uns in die Höhen schrauben.
Links
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http://www.dontow.com/2009/08/qiu-jin/
http://www.theworldofchinese.com/2016/03/badass-ladies-of-chinese-history-qiu-jin/
http://www.dartmouth.edu/~qing/WEB/CH'IU_CHIN.html
http://www.onthisdeity.com/15th-july-1907-%E2%80%93-the-martyrdom-of-qiu-jin/
http://www.amazingwomeninhistory.com/qiu-jin-chinese-feminist-revolutionary/
http://www.china.org.cn/china/xinhairevolution/2011-09/18/content_23441451.htm
Literatur & Quellen
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Gipoulon, Catherine: Die Steine des Vogels Jingwei: Qiu Jin. Frau und Revolutionärin im China des 19. Jhs. München 1977 (Verlag Frauenoffensive)
Hieronymus, Sabine: Qiu Jin (1875 – 1907): Eine Heldin für die Revolution. In: Übelhör, Monika (Hg.): Zwischen Tradition und Revolution. Lebensentwürfe und Lebensvollzüge chinesischer Frauen an der Schwelle zur Moderne. Marburg 2001, S. 86-104
Kristeva, Julia: Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China. München 1976 (Nymphenburger Verlagshandlung)
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Zimmer, Thomas: Qiu Jin. In: Hermann, Marc u.a. (Hg.): Biographisches Handbuch chinesischer Schriftsteller. Leben und Werke, Bd. 9. Berlin 2011 (de Gruyter Saur), S. 210f
Woman Knight of the Mirror Lake. Kinofilm, Hongkong 2011. 115 Minuten (Mei Ah Entertainment / National Arts Films Production; Buch: Erica Lee, Regie: Herman Yau, Titelrolle: Huang Yi)
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