geboren am 12. März 1899 in Neuburg an der Donau
gestorben am 28. Mai 1977 in Bad Heilbrunn (Obb.)
deutsche Schriftstellerin
125. Geburtstag am 12. März 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Mit ihrem literarischen Erstling Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit von 1926 hat die damals gerade einmal 27 Jahre alte Autorin einige Leistungen vorzuweisen: Sie war eine der ersten investigativen Journalistinnen im deutschen Sprachraum. In dem Kapitel In der Redaktion der Patrioten berichtet sie kritisch vom Hitler-Putsch 1923 aus der Sicht einer Sekretärin in der Nazi-Zeitung Völkischer Beobachter. In dem Kapitel Die Kinderbaracke machte sie sexuellen Missbrauch an Kindern - mit diesem Wort und ohne Beschönigung - erstmals in der Literatur zum Thema, und in dem Kapitel Im demokratischen Zeitungsbetrieb thematisiert sie ohne Scham - auch als eine der ersten im deutschen Sprachraum - sexuelle Übergriffe am Arbeitsplatz. In dem Kapitel Ein Anfang in München hat Schlier die Lebens- und Liebesbeziehung zweier Frauen in Schwabing beschrieben - eine Passage, die ihr damaliger Herausgeber für den ersten Druck strich. Und: Das Buch war eines der ersten überhaupt, auf das im Bereich der Literatur die Bezeichnung “Neue Sachlichkeit” angewendet wurde.
Dass Paula Schlier heute kaum mehr bekannt ist, ja dass sie es mit ihrem Buch nicht in den Kanon der Bücher der “Neuen Frauen” wie Vicky Baum, Irmgard Keun oder Marieluise Fleißer geschafft hat, liegt wohl daran, dass Petras Aufzeichnungen nicht den Glamour der Goldenen Zwanziger Jahre an sich haben. Schlier beschreibt größtenteils die Zeit vor der Währungsreform 1924: Kriegsversehrte, Hyperinflation, Hunger, Gewalt und den aufstrebenden Nationalsozialismus. Petras Aufzeichnungen blieben ein One-Hit-Wonder. Denn die Autorin stand wenige Jahre später im Bannkreis anderer Poetologien. Doch von Anfang an:
Ihre Kindheit verbrachte Paula Schlier vor allem in Ingolstadt. Ihre Mutter kam aus gutbürgerlichem Haus, ihr Vater war Generalarzt der Königlich Bayerischen Armee. Obwohl evangelisch getauft, wurde sie in eine katholische Ordensschule für höhere Töchter geschickt. Marieluise Fleißer war einige Klassen über ihr. Lieber wäre Paula Schlier ins Gymnasium gegangen wie ihr Bruder Heinrich, aber das blieb ihr als Mädchen verwehrt; damit war ihr auch das Abitur verschlossen, das ihr den Zugang zu jenen Berufen ermöglicht hätte, die sie eigentlich anstrebte. Ende 1915, sie war 16 Jahre alt, meldete sie sich als Freiwillige Kriegskrankenschwester im Lazarett Ingolstadt. Diese Jahre - einige Erfahrungen beschreibt sie im Kapitel Das Lazarett in Petras Aufzeichnungen - traumatisierten sie und machten sie zur unerschütterlichen Demokratin und Pazifistin. Schlier gehörte zur ersten Generation von Frauen, die in der neuen (Weimarer) Republik von Beginn ihrer Volljährigkeit an wählen durften, und sie nahm diese politische Verantwortung der mündigen Staatsbürgerin einer Demokratie gerne und voller Idealismus an. Sie träumte vom Journalismus als Betätigungsfeld. Aber als junge Frau ohne Ausbildung war es schwer, Redakteurin zu werden. Sie ging als Stenotypistin nach München. Trotzdem publizierte sie: Ab Anfang 1923 erschienen einige Artikel von ihr im linksdemokratischen Nürnberger Anzeiger. Sie enttarnte darin bereits den Nationalsozialismus, in seinem “Antisozialen”, seinem “Antinationalen” und seinem Antisemitismus. Dann bewarb sie sich als Sekretärin beim Völkischen Beobachter. In dieser Zeit führte sie ein Tagebuch, das in seiner Anlage zeigt, dass sie vorhatte, ihre Erfahrungen zu publizieren. Zufällig erlebte sie in dieser Zeit den Hitler-Ludendorff-Putschversuch am 8./9. November 1923 mit, in dem Hitler versuchte, von München aus die Regierung in Berlin zu stürzen. Nach dem Verbot des Parteiorgans der NSDAP wechselte sie erst einmal das Land und ging in die Steiermark, wo sie in einem sogenannten “Inflationsbetrieb” arbeitete, der mit unredlichen Mitteln und auf dem Rücken der Arbeiter*innen und Landwirt*innen Profitmaximierung betrieb.
Ihre Ideale führten sie 1925 nach Innsbruck, zum Brenner-Kreis. Bereits während der Zeit in München hatte sie Kierkegaard gelesen, gemeinsam mit ihrem Bruder, der evangelische Theologie studierte. Und im Brenner-Verlag waren die ersten Übersetzungen Kierkegaards in deutscher Sprache erschienen. Doch als junge Frau fand sie dort keinen intellektuellen Anschluss. Sie soll eine der ersten Frauen mit der Bubikopf-Frisur im konservativen Innsbruck gewesen sein. Schliers unglückliche Liebesaffäre mit dem Herausgeber der Zeitschrift Der Brenner, dem verheirateten Familienvater Ludwig Ficker, war sicherlich auch ein Hindernis ihrer Integration in den intellektuellen Kreis. Doch Ficker veranlasste sie zu schreiben, und er brachte Petras Aufzeichnungen in seinem Verlag heraus. Alles irgend Überprüfbare, was darin aus der Sicht einer namenlosen jungen Ich-Erzählerin beschrieben ist, stimmt mit Paula Schliers eigener Biographie überein.
Das Buch war durchaus erfolgreich. Ein zweiter Band mit Traumtexten - auf die sich zu spezialisieren sie Ficker gedrängt hatte - kam 1928 im renommierten Kurt Wolff-Verlag in München heraus (Chorónoz. Ein Buch der Wirklichkeit in Träumen). Doch dann erfolgte, wohl nicht zuletzt nach der Erfahrung einer Abtreibung, 1932 Schliers Konversion zum katholischen Glauben. Schlier gab den Traum, als freie Schriftstellerin existieren zu können, auf. Gemeinsam mit einem Arzt baute sie in Garmisch-Partenkirchen ein privates Kurheim auf, das alternative Heilmethoden (“Zeileis-Therapie”) und Kuren für psychosomatische Leiden anbot. Sie erlebte ihre ersten religiösen Visionen, allesamt apokalyptischen Inhalts. Die Texte darüber wurden vielfach in der Zeitschrift Der Brenner veröffentlicht. Das literarische Publikum begegnete ihnen vielfach mit Unverständnis, wie etliche Briefe an Ficker belegen.
Ihre jüdischen Freundinnen und Freunde aus München, darunter Heinrich Fischer, mit dem sie kurzzeitig verlobt gewesen war, gingen nach 1933 ins Exil. 1942 wurde Paula Schlier verhaftet. Ihr Beichtvater hatte sie verraten und antinazistische Briefstellen an die Gestapo weiter geleitet. Ein Abtransport nach Dachau konnte verhindert werden, weil sie mit der Diagnose “Religiöser Wahn” in die Psychiatrie Eglfing-Haar bei München kam, von wo sie kurze Zeit später mit Hilfe einer Ärztin fliehen konnte. Bis zum Kriegsende versteckte sie sich, zumeist in Innsbruck und Umgebung.
Nach Kriegsende 1945 war ihre Existenz zerstört - das Kurheim hatte eine andere Leiterin, der Arzt eine andere Gefährtin gefunden. Schlier pflegte ihre Eltern, lebte mit ihnen in Tutzing am Starnbergersee. Eine späte Heirat - mit einem ehemaligen Offizier - folgte. Paula Schliers größte Erfolge nach 1945 waren eine Neuauflage ihres Traumbuchs (Das Menschenherz. Traumbilder des Lebens, 1953) und das Büchlein Maria, das große Zeichen der Endzeit (1970), das sie aus Begeisterung über das 1950 verkündete Dogma von Mariens leiblicher Aufnahme in den Himmel verfasste. Politisch nach wie vor hellwach blieb sie eine Kritikerin der Nazis, die in der neuen Bundesrepublik wieder hochrangige Stellen einnahmen. In Tutzing war sie Teil des Kreises um Werner von Trott zu Solz (einem Bruder Adam von Trotts). Ihre Bemühungen, Petras Aufzeichnungen zu einer Neuauflage zu verhelfen, blieben erfolglos. In ihren 70ern sah sie sich als Gescheiterte. Ihre unvollendete und vielfach fragmentarische Autobiographie wollte sie “Gescheitertes Leben” nennen. Sie befindet sich auch in Schliers Nachlass, der im Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck aufbewahrt wird.
Paula Schliers Petras Aufzeichnungen wurden 2018 neu aufgelegt und erschienen 2023 als Taschenbuch. Den 100. Jahrestag des Hitler-Putsches nahm der Bayerische Rundfunk zum Anlass, das Kapitel In der Redaktion der Patrioten unter dem Titel Hitlerputsch 1923: Das Tagebuch der Paula Schlier verfilmen zu lassen, mit Lea van Acken in der Hauptrolle der Paula. Eine dreiteilige Podcast-Reihe (Paula sucht Paula, von Paula Lochte, BR) präsentierte Schlier und ihr erstes Buch, auch in weiteren relevanten Facetten, ein Teil heißt: #MeToo vor 100 Jahren.
Verfasserin: Ursula A. Schneider und Annette Steinsiek
Zitate
Daß der Rotationsmittelpunkt allen innen- wie auch außenpolitischen Wollens des Nationalsozialismus die Bekämpfung des Judentums ist, braucht heute nicht erst bewiesen zu werden. Ein Blick in den auf kläglichstem Niveau stehenden ‚Völkischen Beobachter‘ und andere nationalsozialistische Papiere, ein Gespräch mit einem seiner, hoffnungsfester anthropologischer, politischer und moralischer Verwirrung anheim gefallenen, Anhänger, und nicht zuletzt die Teilnahme an Versammlungen Hitlers […], genügt, um dies zu erkennen.
Es soll hier nicht auf die die Unwissenschaftlichkeit des Antisemitismus eingegangen werden, mit der ein Rassenproblem, das einer streng ethnologischen Untersuchung bedarf, von einigen voreingenommenen wissenschaftlichen Dilettanten einseitigst ausgenützt und der Masse mundgerecht gemacht wird. Nicht auf die Lächerlichkeit der antisemitischen Stammbaumforschungen, die zwar zu Entdeckungen von Halb- event. Viertels- und Achteljuden führen, ohne daraus die Konsequenz zu ziehen, daß wir zuguterletzt auf diese Weise Alle Juden werden. Es soll auch nicht näher auf die Ungerechtigkeit hingewiesen werden, mit der die Tatsache der Förderung deutscher Kultur auf allen Gebieten […] daß […] unser gesamtes Wirtschaftsleben ohne die Juden einfach nicht mehr denkbar ist, sondern zusammenbrechen würde, skrupellos umgangen wird. Dies, warum der Antisemitismus falsch ist, soll hier nicht näher begründet werden.
Es soll vielmehr gefaßt werden, inwiefern er sittlich schlecht und politisch schädlich ist; es soll klargestellt werden, daß es nichts weiter als moralische und politische Schwäche ist, wenn ein Volk sich dadurch vom Untergang zu retten glaubt, daß es die Schuld von sich auf einen Anderen abzuwälzen versucht, daß es überhaupt nichts Anderes tut, als ständig nach einem Schuldigen suchen.
(Paula Schlier: Der antisemitische Kern des Nationalsozialismus. In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen, 29.1.1923, S. 1)
Die Redakteure [...] waren in ihren Artikeln Demokraten, ihren privaten Äußerungen nach jedoch nicht. (Paula Schlier 1926, Kapitel Im demokratischen Zeitungsbetrieb)
Vom ersten Augenblick an, als ich E. sah, war mir klar, dass diese Leute hier, den übelsten Instinkten des Volkes schmeichelnd, 'Politik' trieben, nicht auf böser Absicht beruhe, sondern einfach auf Dämlichkeit [...].
(Paula Schlier 1926 über den Nationalsozialismus, Kapitel In der Redaktion der Patrioten)
Mit gesundem, klaren, unverbrauchten Menschenverstande durchschaut sie die unerhörten Einrichtungen dieser Männerwelt. […] Dieses Buch wirkt wie ein frischsprudelnder Quell in der Wüste. (N.N.: Rezension. In: Die Frau im Staat, hg. v. Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, 9/1927, 14,)
Links
Rezension von Rolf Löchel zu Petras Aufzeichnungen in der Literaturkritik.de
Literatur & Quellen
Artikel (Auswahl)
Zur Frage des Pazifismus. In: Süddeutsche Demokratische Korrespondenz, München 10.1.1923. (online, s. Links)
Der antisemitische Kern des Nationalsozialismus. In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen, 29.1.1923, S. 1. (online, s. Links)
Das Antisoziale des Nationalsozialismus. In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen, 27.3.1923, Leitartikel. (online, s. Links)
Vom Nationalen des Nationalsozialismus. In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen, 24.4.1923, Leitartikel. (online, s. Links)
Vom Nationalen des Nationalsozialismus (Fortsetzung). In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen, 25.4.1923. (online, s. Links)
Walther Rathenau : Zum Jahrestag seiner Ermordung am 24. Juni 1922. In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung, Fränkische Freie Presse, 23.6.1923, Leitartikel. (online, s. Links)
Bücher
Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Innsbruck: Brenner-Verlag 1926. (2018 herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider im Auftrag des Forschungsinstituts Brenner-Archiv. Salzburg: Otto Müller; geringfügig aktualisierte Taschenbuchausgabe dieser Ausgabe: Norderstedt: BoD 2023 (= Edition Quellen und Kultur 1).
Chorónoz. Ein Buch der Wirklichkeit in Träumen. München: Kurt Wolff 1928. (1953 unter dem Titel Das Menschenherz. Traumbilder des Lebens, Salzburg: Otto Müller).
Der kommende Tag. München: Karl Alber 1948.
Die mystische Rose. Eine Dichtung. Freiburg: Herder 1949.
Legende zur Apokalypse. Freiburg: Herder 1949.
Die letzte Weltennacht. Schauungen zur Apokalypse. Salzburg: Otto Müller 1958.
Morgen ist der Tag des Erwachens. Ein Gedichtzyklus. Graz: Styria 1967.
Maria, das große Zeichen der Endzeit. Dietenheim: Rosenkranz-Verlag 1970.
Der Engel der Wüste. Graz: Styria 1974.
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