(Olga Nawoja Tokarczuk)
geboren am 29. Januar 1962 in Sulechów, Polen
polnische Schriftstellerin (Nobelpreis für Literatur 2018)
60. Geburtstag am 29. Janaur 2022
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Der wohl umstrittenste Nobelpreis ist jedes Jahr der für Literatur: Zu früh, zu spät; wieso ihr statt ihm? Olga Tokarczuk blieb dieser Streit erspart. Die Preise für 2018 und 2019 wurden gleichzeitig vergeben, der mit ihr Geehrte war der politisch umstrittene Peter Handke. Neben dem mürrischen Österreicher war die freundliche Polin ein geradezu wohltuendes Gegenüber. Umstritten ist aber auch sie, jedenfalls in ihrem Heimatland – wie so viele Geehrte aus nationalkonservativen Staaten. Der Zank ficht die Schriftstellerin nicht an. „Normalerweise bin ich das Bad Girl“, sagte sie. Aber 2020 trat sie doch aus dem polnischen Schriftstellerverband aus.
Tokarczuk machte 1980 ihr Abitur, studierte in Warschau, volontierte noch vor dem Magister in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche, ehe sie in Breslau und später in Walbrzych als Therapeutin arbeitete. Sie heiratete 1985, bekam einen Sohn, zog mit der Familie nach Krajanow bei Nowa Ruda an der polnisch-tschechischen Grenze, wo sie und ihr Mann den Kleinverlag „Ruta“ gründeten und wo sie auch nach der Scheidung noch heute lebt und den Verlag führt.
Tokarczuks Eltern stammten aus Ostpolen, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westpolen umgesiedelt, erfuhren am eigenen Leib die Geschichte eines Landes, das über Jahrhunderte von internen Machtkämpfen gezeichnet war, das im Konflikt mit den Nachbarn im Westen wie Osten stand, das besetzt und immer neu aufgeteilt wurde. Diese Geschichte hat dem Land, seiner Bevölkerung, seiner Kultur ständige Selbstverortung abverlangt. Kein Wunder, dass Zeit-Räume, Wanderungsbewegungen, Reisen und Grenzen das gesamte Schreiben von Olga Tokarczuk durchziehen.
So stirbt ihre Figur Peter Dieter (Der Schrank, 1997, dt. 2000) auf einem Spaziergang an der Grenze von Tschechien und Polen und wird von dem ihn jeweils findenden Grenzer in das eine, dann das andere Gebiet gescjoben. „Und so blieb Peter Dieter sein eigener Tod in Erinnerung, bevor seine Seele ganz verschwand – als mechanische Bewegung zur einen und zur anderen Seite, als Balanceakt auf einer Kante, das Verharren auf einer Brücke.“ (Der Schrank, 110).
Keinem ihrer Werke fehlt diese historische Dimension. Im Jahr 2001 war Tokarczuk Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin. Die dort angesiedelten Erzählungen in Spiel auf vielen Trommeln (2001, dt. 2006) leben von der historischen und sozialen Vielstimmigkeit. In allen Texten gehört dazu auch die Verschränkung von Realitäten, gelegentlich der Rückzug in alternative Welten. Die Gegenstände, die Ereignisse behalten aber trotz aller mystisch-magischen Verschränkung immer ihr eigenes Leben, auch solche Figuren wie Ergo Sum, der sich vorübergehend für einen Werwolf hält (Der Schrank), oder Jenta (Die Jakobsbücher), die Mittlerin zwischen jener und dieser Welt.
Die Geschichte mit dem großen „G“ … ist immer so unpersönlich wie ein strategisches Computerspiel… Ein richtiges Geschichtsbuch aber, wenn es denn wirklich erzählen wollte, was uns zugestoßen ist, müsste Millionen Seiten zählen … Denn die Geschichte steckt – wie der Teufel – im Detail. (Hirsch, Schweres Gepäck, 7)
Tokarczuks erster Roman, Die Reise der Buchmenschen (1993), führt ins Frankreich des 17. Jahrhunderts. Ihr bislang letzter, Die Jakobsbücher (2014, dt. 2019), umspannt das Leben des jüdischen Mystikers Jakob Frank und seiner Anhänger. Franks religiöse Suchbewegungen sind eingebettet in die problem- und konfliktreiche Gesellschaft Polens und der Ostjuden des 18. Jahrhunderts und führen bis ins 19. Jahrhundert, nach Offenbach. Der Roman endet im 21. Jahrhundert. Die polnischen Nationalisten sind provoziert, verfolgen die Autorin als Polenfresserin.
Die 1184 Seiten und die Detailtiefe der Jakobsbücher verlangen der Leserin viel ab. Das tun auch kürzere Romane. Im Gesang der Fledermäuse (2009, dt. 2011) werden Verstöße gegen die Natur in einem vielschichtigen, komplexen Beziehungsgeflecht durch ungewöhnliche Todesarten geahndet. Besonders bemerkenswert sind hier wie auch z.B. in Ur- und andere Zeiten (1996, dt. 2000) ihre starken Frauengestalten. Tokarczuks Sprache ist bilder- und metaphernreich, mit überraschenden Vergleichen: „Welch eine Wonne, welch ein süßes Leben – im kühlen Haus zu sitzen, Tee zu trinken, Kuchen zu knabbern und zu lesen. … Die Buchstabenreihen auf der weißen Buchseite bieten den Augen, dem Geist, dem ganzen Menschen Obhut. Dadurch wird die Welt offenbar und ungefährlich. … Das Wasser läuft einem im Munde zusammen, denn Weisheit ist appetitlich wie Hefekuchen und belebend wie Tee.“ (Der Schrank, 122f.). Erzählt wird gemächlich, dann mit großen Zeitsprüngen – ein spannender Leseprozess.
Tokarczuk verlässt immer wieder die Romanform zugunsten des episodischen Erzählens. Unrast etwa (2007, dt. 2009) scheint als Roman zu beginnen. Aber nach und nach wird er zu „a Traveller’s Log Book“, die Leserin aufgefordert, sich doch auch ans Schreiben zu machen. (S. 455).
Das offenere, liberale polnische Lesepublikum hat die Autorin ebenso mit Preisen und Ehrungen überhäuft wie das internationale. Der Nobelpreis ist nur einer, und sicher nicht der letzte, solcher Preise. In ihrer Nobelpreisrede hat sie ihre Poetik entwickelt, der Titel Der liebevolle Erzähler spricht für sich.
Wer den langen Atem für die Romane nicht hat, wird auch in Tokarczuks Erzählungen eine große Welt entdecken und sich gleichzeitig von der Erzählfreude der Autorin zu einem großen Lesevergnügen entführen lassen.
(Text von 2021)
Verfasserin: Liselotte Glage
Links
www.en.wikipedia.org/wiki/Olga_Tokarczuk
Literatur & Quellen
Armistead, Claire. 2018. “Olga Tokarczuk: 'I was very naïve. I thought Poland would be able to discuss the dark areas of our history.” www.theguardian.com/books/2018/apr/20.
Becker, Arthur. 2019. Unser Nobelpreis, euer Nobelpreis – warum die Polen Olga Tokarczuk dankbar sein sollten. www.nzz.ch/feuilleton/nobelpreis-warum-die polen-olga-tokarczuk-dankbar sein sollten. Abruf 16.11.2019
Franklin, Ruth. 2019. “Olga Tokarczuk's novels against nationalism.” www.thenewyorker.com/magazine/2019/08/05
Janachowaska-Budych, Marta. 2014. Gedächtnismedium Literatur: Zur Wirkung der Literatur in der Erinnerungskultur am Beispiel der Werke von Elfriede Jelinek und Olga Tokarczuk. Poznan.
Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk – preiswürdig oder uninteressant? Esther Kinsky und Lothar Quinkenstein im Gespräch mit Frank Meyer. www.deutschlandfunkkultur.de/literaturnobelpreis-fuer-olga-tokarczuk-preiswuerdig-oder-uninteressant.
Stephan, Felix. 2020. “Tanz auf dem Vulkan.” Interview mit Olga Tokarczuk. SZ Spezial. Süddeutsche Zeitung Nr 236, 13.10.2020, S. 3
Tokarczuk, Olga. 2020. Der liebevolle Erzähler. Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur.Zürich. Kampa.
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