geboren ca. 3.370 v.u.Z.
gestorben ca. 3.320 v.u.Z.
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Biografie
Die umfassende Gestalt Ötzi reicht 5.300 Jahre zurück: ins Herz der matriarchalen Epoche Europas, in die ausgehende Kupferzeit. Wenn hier von Ötzi die Rede ist, ist deswegen die Ötzi gemeint, Ötzis Mutter, nicht ihr Sohn, der sensationelle Fund aus dem Jahre 1991 auf dem Tisenjoch, auf 3.210 Metern Höhe.
Der Ötztalerin nachzugehen bedeutet sorgfältige und mühsame Kleinstarbeit. Da reicht nicht der der Gang ins Bozner Archäologiemuseum. Spuren aus der Anthropologie und Ethnologie, der Kulturwissenschaft und Mythenforschung, der Religionswissenschaft, Landschaftsmythologie und der modernen Matriarchatsforschung müssen aufgelesen werden. Sie alle deuten auf eine vorindoeuropäische, matriarchal geprägte Kulturlandschaft im alten rätischen Gebiet hin, in dem die Göttin Reitia/Rätia/Rita verehrt wurde und den innigen Namen »meine Hirtin« erhielt. Dass Ötzi einer matriarchalen Gesellschaftsordnung angehörte, lässt sich nur vermuten: Doch gerade diesen Vermutungen wollen wir hier durch verschiedene Blickpunkte Ausdruck verleihen.
Es war einmal.
Die Ötztalerin stammte aus der neolithischen, hoch entwickelten Kulturepoche, einer blühenden Höhenkultur in den Alpen. Sie lebte als Mädchen vermutlich im oberen Eisacktal, später zog sie in den Vinschgau. Die Menschen im Spätneolithikum waren intelligent, klug und unterschiedlicher, als wir uns das heute denken mögen. Ihr religiös geprägtes Weltbild war bestimmt durch Tag und Nacht, den Lauf der Monde, die Sternbilder, den Wechsel der Jahreszeiten. Das war auch im hintersten Winkel Südtirols so, an der Grenze des Alpenhauptkammes.
Ötzi, die Alpenhirtin und Sammlerin.
Die Ötztalerin gehörte vermutlich zur Viehzucht betreibenden Weidekultur der Hirtinnen und Hirten; die Transhumanz des Schafbetriebs vom südlichen Vinschgau über das Hochjoch, Niederjoch und Eisjoch wurde wahrscheinlich bereits erfolgreich betrieben. Im Sommer kamen die Schafherden auf die Sommerweiden bei Vent, im September gingen sie denselben Weg zurück nach Schnals und weiter in den Vinschgau. Die Pässe waren damals eisfrei, Zirben wuchsen bis auf 2.600 Meter Höhe, Ötzi war auch ohne Trekkingbekleidung und Funktionsunterwäsche bestens ausgerüstet. Sie verfügte über ausgezeichnete Kenntnisse in Tierhaltung und Lederverarbeitung – die fein gearbeitete Ziegenlederunterwäsche ist ein Beispiel ausgefeilter und sorgfältig durchdachter Alltagskultur. Die Knüpf- und Flechtkunst hatte bereits ein hohes Niveau erreicht: Ötzi stellte Schuhnetze, Kleider und Umhänge her. Auch Grasmatten aus alpinen Süßgräsern flocht sie.
Ötzi kam in einem Clan in einer Dorfgemeinschaft in Pflersch, im »Silbertal«, auf die Welt. Eine Großfamilie von etwa fünf Haushalten bildete die jungsteinzeitliche Siedlungsgemeinschaft mit Häusern, Feldern, Weiden und Wiesen. Ötzi hatte als Mutter von drei Töchtern und zwei Söhnen – Ötzi junior war ihr jüngstes Kind – im Sippenclan mit den anderen Frauen viel zu tun. Die Frauen besaßen die Herde, die Milchwirtschaft war allein in ihren Händen. Sie waren für die Verarbeitung und Verteilung der Lebensmittel zuständig, sammelten Himbeeren, Brombeeren, Hagebutten, Holunder und Schlehen, abwechslungs- und vitaminreiche Ernährung. Sie bauten Erbsen, Lein und Schlafmohn und die vier Getreidesorten Einkorn, Emmer, Nacktweizen und Gerste an. Ötzi war nachhaltig autark und wirtschaftlich unabhängig: Für die Wintervorsorge sammelte sie Wildäpfel und Wildpflaumen – getrocknet schmeckten sie vorzüglich – sowie Eicheln, Bucheckern und Haselnüsse. Die süße Felsenbirnenfrucht mochte der kleine Ötzi besonders gern, das Holz dieses Baumes war für die Mutter gutes Feuerholz. Die Schlehdornfrucht mengte sie gerne den Gerichten bei; durch ihren hohen Bitterstoffgehalt wirkte sie auch Durst löschend. Wildweizen und Körner verfeinerte Ötzi durch Dill, Petersilie und Sellerie, getrocknetes Fleisch war ein guter Proviant bei ihren langen Passüberquerungen; die mineralstoffreichen Schlehen schenkten nach anstrengenden Wanderungen wieder Lebenskraft.
Ötzi, die Jägerin.
Ob die Ötztalerin auch eine Jägerin war? Vielleicht. Kein Zweifel besteht darüber, dass ihre Dorfgemeinschaft Verbindungen zu einem viel größeren Kulturkreis hatte und dieselbe Art von Jagdwaffen benutzte, wie die Menschen im gesamten Alpenraum. Feuersteindolche gehörten vor über 5.000 Jahren zum technischen Standard; sie wurden meist an einer Schnur an der Gürteltasche getragen und dienten nicht nur zur Jagd, sondern auch zum täglichen Handwerk. Auf die Jagd gingen sowohl Männer als auch Frauen. Sie waren sehr geschickt und mutig und verarbeiteten ihre Erlebnisse auch künstlerisch. Schon als Mädchen kletterte Ötzi gerne in die wilde Schlucht des Pflerscher Fernerbaches und meißelte dort sorgfältig feine Zeichen in Stein. Über die berühmten Felsbilder von Pflersch, unter ihnen ein Sonnenrad, zerbrechen sich Archäologinnen und Archäologen bis heute den Kopf.
Für ihre Pfeile entrindete die Ötztalerin die Äste des Wolligen Schneeballs, fixierte mit Birkenpech die Silexspitze – das musste schnell gehen, sonst verhärtete sich der Birkenteer wie Glas – und umwickelte sie mit einem Tiersehnenfaden. Wildvogelfedern von Dohlen, Alpenkrähen, Steinadlern und Geiern dienten als »Rotationsflügel« der Pfeile. Geweihspitzen, am besten gekrümmte, dienten als »Universalwerkzeug«, zum Schneiden, Teilen, Reiben und Häuten. Alles in allem: beste steinzeitliche Handarbeit einer Jägerin.
Ötzi, die Fernhändlerin.
Die Ötztalerin war viel unterwegs. Ötzis Clan war, wie gesagt, bestens vernetzt; es gab gute Verbindungen nach Norden und Süden, der Tauschhandel florierte. Feuerstein (Silex), das Material für die Messerklingen und Pfeilspitzen, kam z.B. in Südtirol nicht vor und musste »importiert« werden: Es stammt aus den Monti Lessini östlich des Gardasees, wie die winzigen Fossilien, die im Feuersteindolch von Ötzis Sohn eingeschlossen sind wurden, belegen. Funde in Niederbayern zeigen die gleichen Mikrofossilien – Beweis für einen lebhaften Alpenfernhandel. Im Alpenraum gab es Verhüttungsstätten, wo Kupferpfeile professionell hergestellt wurden, die Erzverarbeitung stammt aus dem südöstlichen Raum Europas und kam vom Balkan langsam in die Zentralalpen. Die Ötztalerin handelte nicht nur mit Luxusgütern wie Feuerstein, sondern auch mit Dill, Petersilie, Schlafmohn, Zitronenmelisse und Sellerie. Nacktweizen aus dem Eigenanbau exportierte sie nördlich der Alpen. Von Südtirol durchs Etschtal hinauf zum Similaun führte ein wichtiger steinzeitlicher Handelsweg. Vielleicht war Ötzi sogar die Chefin eines steinzeitlichen Transportunternehmens. Fest steht: Für die damalige Zeit war sie jedenfalls »global« orientiert.
Ötzi, die Heilerin.
Die Ötztalerin führte Birkenporlinge, die sie sorgfältig auf Fellstreifen aufgefädelt hatte, bei sich. Es ist anzunehmen, dass sie um die Heilwirkung der Baumstämme wusste. Die Pilzkugeln wirken desinfizierend und blutstillend. Ihre zahlreichen schwarzbläulichen Tätowierungen auf dem Rücken liegen genau auf den Akupunktur-Punkten. Sie könnten eine medizinische Behandlungsform gewesen sein: Vorläuferinnen der asiatischen medizinischen Akupunkturkunst? Sie entstanden, wie auch bei ihrem Sohn Ötzi, durch feine strichbündelartige Schnitte, in die pulverisierte Holzkohle gerieben wurde. Die Ötztalerin aß außerdem regelmäßig Schlehdornfrüchte; kräftigende Heilmittel, die sie auch ihren Töchtern und Söhnen verabreichte. Sie wusste um die Heilkraft der Pflanzen und Kräuter ihrer Heimat, sammelte, trocknete und verarbeitete sie und gab ihr Wissen weiter. Aus der Ethnologie sind Bauten, die mit Ahninnenkult oder Totenkult in Verbindung stehen bekannt; sie sind mit Riten des Lebens und Lebensübergängen verbunden: Inwieweit und in welcher Form die Ötztalerin in Geburts- und Menstruationshütten oder in normalen Wohnhäusern Zeremonien und Behandlungen durchgeführt hat, ist leider nicht bekannt.
Ötzi, die Schamanin.
Die Ötztalerin lebte in einer sakralen Gesellschaft, in der alles als heilig betrachtet wurde: die Erde, die Natur, die Menschen, die Tiere, alle Wesen waren sozusagen göttlich. Dieser immanente Begriff von Göttlichkeit ist zentral für die Spiritualität ihrer Zeit; die Trennung von sakral und profan gab es noch nicht. Sie war wetter- und naturkundig; die Jahreszeit- und Wetterbeobachtung oblag den »Weisen Frauen«. Es ist also anzunehmen, dass die Ötztalerin sich täglich hinsetzte, in aller Selbstverständlichkeit und Entschiedenheit, um still zu werden und die Natur zu beobachten. In der Volksüberlieferung wird im gesamten Alpenraum das magische Wissen über Wind und Wetter Frauen zugeschrieben. Von ihnen hängen die Fruchtbarkeit und der Segen ab. Die Verehrung der Magna Mater, einer weiblichen Schöpfungskraft, spielte in der Kupferzeit eine zentrale Rolle: Eine Muttergöttin, zuständig für Geburt, Leben und Tod, hatte das Leben in ihrer Hand. Ob die Ötztalerin eine Priesterin dieser Alpen-Urgöttin war? Es ist gut möglich, dass sie die großen Jahreszeitenfeste feierte: Feste der Aussaat, des Keimens und Wachsens, des Reifens, Welkens, Erntefeste, Schnitterinnenfeste. Als Sternenbeobachterin kannte sie die Bewegungen von Sonne, Mond und Gestirnen bestens und erstellte einen agrarischen Kalender.
Es gibt mehrere Zeugnisse, die von dieser tiefen spirituellen Kraft erzählen: Die Figurenmenhire, die zahlreich im gesamten südlichen Alpenraum zu finden sind, erzählen jungsteinzeitliche Geschichte. Die von Menschenhand gehauenen Steine sind mit Ritzzeichnungen und magischen Symbolen versehen. Funde in Südtirol gehören zur so genannten Etschtal-Gruppe und werden zur Zeit der Ötztalerin datiert. Ob die Ötztalerin im weiblichen Menhir von Algund zu sehen ist? Die Bergübergänge, wo seit Jahrtausenden Schafe über Jöcher und Schnee getrieben werden, sind auch reich an geheimnisvollen Gebilden aus der Steinzeit: Schalensteine, Stelen, Steinkreise. Die »Kaser« im österreichischen Ventertal weist jungsteinzeitliche Zeichen auf, die Schalenstein-Ansammlung am Pfitscherjoch zeugt von rätselhaften Spuren auf 3.000 Metern Höhe. Ob die erstaunlichen Gravuren in Karthaus, Schlange und Ei, von Ötzi stammen? Ob sie für die Einbuchtungen an Schalensteinen entlang der Urwege mitverantwortlich ist? Es ist gut denkbar, dass sie sich an den kultischen Spielen mit Wasser, Blut und Milch an Mitsommer beteiligt hat. Sicher ist: Die Ötztalerin hat die alpinen Kraftorte gekannt, sie waren ihr heilig und für die uralte Kultur von zentraler Bedeutung.
Übrigens: Das Tisenjoch, der Fundort von Ötzis jüngstem Sohn, hat ebenfalls mythologische und topographische Bedeutung: Der Name kommt von den »Disen”, den präindoeuropäischen Schicksalsgöttinnen. Ob Ötzi auf dem Tisenjoch in einem Steinkistengrab bestattet worden ist? Wir wissen es nicht.
Ötzi und Tanna.
Die Ötztalerin hat mich als Tanna-Frau gerufen. Vielleicht war die Bergmutter Tanna, die Königin der Croderes, der Menschen aus Stein, die die Murmeltiere und die Menschen aus ihrem Leib schuf, Ötzis Göttin und hat diese Mythobiographie eingefädelt? Die Winde des Ostens und des Nordens, des Südens und des Westens, die weiße Bergkraft der Dolomiten, eine Begegnung mit den Saligen oder die Urlaute eines Alpengeiers werden es erzählen. Oder so manch überraschende Sternstunde.
Verfasserin: Heidi Hintner
Links
Haid, Hans: Ötzis Göttinnen. Auf den Spuren von Sagen zu Stätten matriarchaler Kulturen in den Ötztaler Alpen. Zugriff: 06.04.2012. (Link aufrufen)
Letzte Linkprüfung durchgeführt am 27.05.2013 (AN)
Literatur & Quellen
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Bildquellen
Südtiroler Archäologiemuseum
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