(geb. Rosset)
geboren am 2. März 1923 in Genf
gestorben am 27. Januar 2020 in Onex, Kanton Genf
Schweizer Parlamentarierin und feministische Aktivistin
100. Geburtstag am 2. März 2023
Biografie
Nelly Rosset wurde im März 1923 als zweites Kind einer in Genf lebenden Familie geboren. Der Vater war Büroangestellter bei der SBB (Schweizerische Bundesbahnen) und die Mutter Schneiderin. Ohne vermögend zu sein, hatten die Rossets einen guten Lebensstandard.
Nelly erinnert sich selten an ihre Mutter, spricht dagegen öfters bewundernd von ihrem Vater Robert. Er ist Anhänger der sozialistischen Partei und überträgt die Freude am politischen Engagement auf sie. Kein Zufall, dass Nelly ihren zukünftigen Mann in politischen Kreisen kennen lernt. Ihr Verlobter heisst auch Robert, bekennt sich aber nicht wie der Vater zum rechten Flügel der Partei, sondern schliesst sich der linken Strömung der «Nicolisten» an, die sich 1939 von der schweizerischen sozialistischen Partei abspaltet.
Robert macht damals eine Spenglerlehre, während Nelly die Ausbildung zur Primarschullehrerin absolviert. Sie wird 1946 angestellt und unterrichtet während mehr als 30 Jahren in Genfs Arbeitervierteln oder Vorortgemeinden. Robert arbeitet als Kabelmonteur bei der Post. 1950 gebiert Nelly ihr erstes Kind; bald darauf folgt ein zweites. Sowohl Nelly als auch ihr Mann haben gute Stellen, aber gleichermassen Grund zur Beunruhigung: Eine Weisung der Schweizer Regierung, wonach die Verwaltung von kommunistischen Elementen zu «säubern» sei, schwebt wie ein Damoklesschwert über den beiden. Robert ist Gründungsmitglied der kommunistischen Partei der Arbeit, und Nelly gehört auch dazu. Tatsächlich bekommt nun der Ehemann zwölf Jahre Provisorium aufgebrummt. Er verliert seinen Beamtenstatus und erhält nur noch einen unsicheren Arbeitsvertrag. Die Primarlehrerin dagegen wird nicht behelligt, da das Genfer Erziehungsdepartement dem Sozialdemokraten André Chavanne untersteht; er schätzt kompetente Leute.
Die Politfrau
Die ganze Zeit ihrer Berufstätigkeit über agitiert Nelly Wicky für den VPOD, den Verband des Personals der öffentlichen Dienste. Dank der guten Kontakte, die sie mit den Eltern der Schulkinder unterhält, ist sie mit den Lebensbedingungen und Sorgen der Arbeiterfamilien vertraut und kann so gezielt im Genfer Stadtrat intervenieren, in den sie 1963 gewählt wird. Sie bleibt dort über 30 Jahre. 1971 kandidiert sie für den Nationalrat, das schweizerische Parlament, und wird mit dem besten Ergebnis ihrer Liste gewählt.
Die Nationalrats-Debatten über den Status der Kriegsdienstverweigerer haben sie besonders geprägt. Sie findet es skandalös, dass die Antimilitaristen, die die Armee konsequent ablehnen, wie gewöhnliche Rechtsbrecher bestraft werden. Ebenso wichtig findet sie die Einrichtung einer Mutterschaftsversicherung und interveniert dazu im Nationalrat.
Allerdings bleibt Nelly Wicky nur eine vierjährige Legislaturperiode lang im Nationalrat. Sie hätte dort gern weitergearbeitet, wird aber 1975 nicht wiedergewählt. Die Wählenden haben wohl – so denkt sie – ihren Namen gestrichen, um ihre Mitbewerber auf der Liste, Roger Dafflon und Jean Vincent, vor einer Wahlschlappe zu bewahren. Ihre längere Anwesenheit im Nationalrat wäre sehr nützlich gewesen, da die parlamentarischen Debatten in der Folge mehrmals Frauenrechtsfragen betrafen. Die Genferin beherrschte diese Themen bestens. Erst 1996 schafft wieder eine Frau aus der Partei der Arbeit die Wahl in den Nationalrat: Christiane Jacquet. In der Zwischenzeit festigt die sozialdemokratische Partei ihre Frauenpräsenz im Nationalrat.
Die Aktivistin
Nelly Wicky konzentriert sich nun vermehrt auf die ausserparlamentarische Basisarbeit. Sie nimmt an zahlreichen feministischen Einsätzen der Jahre 1970 bis 1980 teil: Entkriminalisierung der Abtreibung, gleiche Rechte für Frau und Mann, Mutterschaftsversicherung.
Ohne je ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, kann sie gut zuhören, Meinungsverschiedenheiten glätten und somit die Kohärenz der Gruppe festigen, in der sie arbeitet. Sie kann beraten, ohne schroff zu werden und engagiert sich stark für die Befürwortung der Initiative «Für einen wirksamen Schutz der Mutterschaft». Dieser Gesetzesvorschlag ging aus einer langen und exemplarischen Zusammenarbeit zwischen Frauenbewegung und linken Parteien hervor. Die Initiative wird zwar in der Volksabstimmung abgelehnt, bereitet jedoch den Boden für die Idee einer solchen Versicherung.
In diesem gemeinsamen Kampf entdecken die Feministinnen, dass sie mit der Linken kooperieren können, ohne von ihr instrumentalisiert zu werden. Die Linke stellt ihrerseits fest, dass feministische Forderungen größtenteils auch die ihren sein können oder sogar schon sind. In der Partei sorgt Nelly dafür, dass ihre Genossinnen und Genossen mit den Anliegen der Feministinnen vertraut werden und dass die Parteifrauen einen institutionalisierten Raum für Austausch und Diskussion erhalten. Sie regt 1980 eine Tagung für die Frauen der Partei der Arbeit an, um darüber zu diskutieren: Braucht es – ja oder nein – parteiinterne Frauengruppen? Die Debatte ermöglicht es den Aktivistinnen, sich zur Homosexualität, zur Familie, zur Aufteilung der Hausarbeit, zum Frauenstandpunkt in der Partei und zur autonomen Frauenbewegung zu äußern.
1983 lässt Roberts tödlicher Unfall Nelly als Witwe zurück. Sie lernt nun «allein» zu leben. Aber alleine ist Nelly Wicky eigentlich nie. Zurzeit gehört sie der Pensioniertengruppe des VPOD an und ist immer noch in zahllosen Vereinen aktiv. Zudem ist sie stets bereit, Kameradinnen und Freundinnen zu helfen. Sie bedauert aber, dass alte Leute oft unter Ächtung und Ausschluss zu leiden haben und findet, dass sich das ändern muss. Ihre Botschaft und Empfehlung für die Jugend und besonders für die Frauen lautet:
Einspringen, sich in Kampfgruppen organisieren, weiterkämpfen und das Erreichte bewahren.
Verfasserin: Anna Spillmann und Barbara J. Speck
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