geboren am 5. Mai 1970 in Montreal, Kanada
kanadische Journalistin, Aktivistin, Kritikerin des Neoliberalismus
50. Geburtstag am 5. Mai 2020
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Manchmal grenzen sich Mädchen für eine Weile von feministischen Müttern ab, politische Väter sind dann ebenso peinlich. Bonnie Sherr und Michael Klein, beide aus linken jüdischen Familien in den USA stammend, waren 1967 aus Protest gegen den Vietnam-Krieg nach Kanada ausgewandert, wo sie Filmemacherin, er Kinderarzt wurde.
Naomi Klein, geboren am 5. Mai 1970, ist früh fasziniert von Reklamen und Labels: Bei langen Autofahrten auf der Rückbank sitzend, lässt sie die Schilder der Fastfood-Ketten und Tankstellen wie Cartoons an sich vorbeiziehen, Symbole der anderen Welt, die sie wenigstens einmal anfassen möchte.
Bonnie Sherr Klein wurde 1980 schlagartig mit dem Dokumentarfilm This is not a Love Story bekannt. Diese erste Analyse kommerzieller Pornografie erregte viel Aufsehen, Zustimmung aber ebenso wüsteste, sexistische Beschimpfungen in den Medien. Manchmal schämt sich Naomi für die Mutter; fährt weiter auf Marken und schicke Klamotten ab. Sie scheint so ganz anders als der drei Jahre ältere Bruder Seth, der bereits als Sechstklässler eine Anti-Atomkraft-Gruppe gegründet hat. Naomi liest aber viel, schreibt Gedichte. Mitte 1987 reißt die Realität sie aus den Träumen: Bonnie Sherr Klein erleidet einen Schlaganfall. Die Ursache: ein Tumor. Ein halbes Jahr lang sitzt Naomi bei ihr, die sich nicht bewegen, nicht mehr allein atmen kann. Heute kämpft Bonnie Sherr Klein schon lange wieder: im Rollstuhl für die kanadische Behindertenbewegung.
1989 geht Naomi Klein an die Polytechnische Hochschule von Montreal. Dort stürmt am 6. Dezember ein junger Mann eines der Campus-Gebäude, erschießt 14 Frauen, schreit dabei seinen Hass auf Feministinnen heraus. »Von da an war ich Feministin.« Klein organisiert Teach-ins, kämpft für die Repräsentanz von Frauen und Minderheiten in Lehrinhalten und Medien, schreibt darüber, wird Chefredakteurin der Uni-Zeitung. Bald bietet ihr der Globe and Mail ein Volontariat an. Mit 23 Jahren wird sie Chefredakteurin der linken Wochenzeitung This Magazine. 1993 lernt sie Avi Lewis kennen, lebt seitdem mit ihm. Er, Dokumentarfilmer und Journalist, hat ebenfalls eine bekannte feministische Mutter, der Vater ist ein politisch zunehmend radikaler werdender Diplomat.
Klein ist bald frustriert vom Zustand der Linken – Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus, den die Eltern und Schwiegereltern favorisieren, scheinen ebenso gescheitert wie reine Minderheiten- oder Frauenpolitik. Zurück an der Uni begreift sie, wie sehr jetzt harte Ökonomie zählt, erkennt die aggressiven Werbestrategien der Konzerne, die gleichzeitig massenhaft Arbeitsplätze in Sweatshops armer Länder auslagern, mächtiger als Regierungen zu sein scheinen und nicht einmal davor zurückschrecken, multikulturelle Slogans zu vereinnahmen, um sie dann sexistisch und rassistisch aufzuladen. Mit »Branding« penetrieren Konzerne weltweit öffentliche Räume. Klein erinnert sich, wie sie selbst als Kind der Glitzerwelt erlegen war, aber auch der Worte des Großvaters, eines Trickfilmzeichners (unter anderem bei Disney): »Schau immer nach dem Schmutz hinter dem Glanz«. Sie zieht los, besucht Sweatshops in Asien und Lateinamerika, will genauer wissen, wie das System funktioniert.
Anfang 2000 erscheint No Logo. Naomi Klein trifft weltweit den Nerv vieler, besonders junger Menschen. Mehr als eine Million mal verkauft sich das Buch, wird in 28 Sprachen übersetzt. Der Erlös dient Klein als Startkapital, um tiefer in die Zusammenhänge von Neoliberalismus, Konzerngewalt, Katastrophen und staatlicher Repression wie von Überwachung, Folter und Kriegen einzudringen. Sie ist wieder unterwegs, verfasst trotzdem Kolumnen und Reportagen, die u. a. der britische Guardian, der kanadische Globe and Mail und The Nation, die älteste US-Wochenzeitung, veröffentlichen. Längere Zeit verbringen sie und Avi Lewis in Argentinien, um dort Proteste von FabrikarbeiterInnen für einen Film festzuhalten.
2004 schickt die US Wochenzeitung Harper’s Klein in den Irak. Unmittelbar nach der Ankunft in Bagdad erlebt sie einen Bombenangriff der Besatzer. Sie hält das Leiden der Bevölkerung fest, recherchiert über Menschenrechtsverletzungen und Folter, legt besonderes Augenmerk auf dort rücksichtslos operierende US-Konzerne. Wenige Monate später halten G.W. Bush und seine Republikaner ihren Parteitag in New York ab. Die Innenbezirke von Manhattan gleichen einer Festung. Tagelang zeigen Millionen von Menschen dennoch ihren Protest, ausnahmslos friedlich, sehen sich jedoch mit brutaler staatlicher Gewalt konfrontiert. Polizisten auf Motorrädern oder Pferden rasen in die Mengen, schlagen besonders junge Menschen brutal nieder, fangen Menschen mit Netzen ein, verhaften dabei auch auffällig viele alte Friedensfrauen. 2000 Menschen werden über Tage hinweg in einem ölverschmierten Busdepot festgehalten. In dieser von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägten Atmosphäre berichtet Naomi Klein in der St. Mark's Church über den Horror im Irak, von dem sie noch sichtlich gezeichnet ist, leise, sehr zurückgenommen in der Diktion, umso deutlicher wird das Leid. Viele Anwesende weinen in dieser alten Zufluchtstätte der US-Bürgerrechtsbewegung. Draußen Polizeiterror: an diesem Abend gegen Demonstrierende eines Fahrrad-Konvois im East Village.
Politische Utopien sind Kleins Sache zwar nicht, aber sehr wohl Menschen, die in der Gegenwart konkret im Sinne sozialer Gerechtigkeit handeln. In diesen aufgewühlten New Yorker Protesttagen stellen Klein und Lewis auch ihren Film The Take vor, über argentinische FabrikarbeiterInnen, die während der Wirtschaftskrise ihre Betriebe besetzen und übernehmen und so ihre Lebensverhältnisse verbessern.
Danach zieht sich Klein weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Im Herbst 2007 erscheint Die Schock-Strategie. Sie habe »die Meister-Erzählung unserer Zeit aufgedeckt«, schreibt Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, in der New York Times: »Sie zeichnet ein beunruhigendes Bild der Hybris. Für die indische Schriftstellerin Arundhati Roy analysiert sie »das Gegenmodell zur ›sozialen Marktwirtschaft‹ und demokratischen Verfassungen, die auf den Menschenrechten beruhen«. Aber es sind nicht nur die Strukturen und Netzwerke neoliberaler Verbrechen: Sie dokumentiert auch das Elend derer, die davon betroffen sind und die Tapferkeit vor allem vieler Frauen, die versuchen, in diesen Kreisläufen der Gewalt zu überleben.
In deutschen Medien wird die vielfach mit Ehrungen ausgezeichnete Autorin nahezu einstimmig gerade für dieses Buch mit sexistischem Unflat beworfen, der zudem teils antisemitisch eingefärbt ist. Diese Reaktion überwiegend männlicher »Experten« auf Kleins Schock-Strategie dokumentiert deren journalistische Inkompetenz und nicht zuletzt den Verfall öffentlicher Diskurse, in denen Nähe zu den Herrschenden, Projektion und Missachtung zunehmend an die Stelle von Unabhängigkeit, Vernunft und Argumentation rücken.
Klein ist häufiger in Amy Goodmans Sendung Democracy Now zu Gast. Für diese unter der Woche täglich in New York ausgestrahlte einstündige Nachrichtensendung, die mittlerweile weltweit gehört, gesehen und sogar im deutschen Sprachraum als Quelle zitiert wird, ist Amy Goodman bereits vielfach ausgezeichnet worden. Goodman und Klein sind in den USA so etwas wie der weibliche Schrecken für Konservative, gefürchtet wegen ihrer Recherchen, der Verve ihrer hartnäckigen Fragen, ihrer Unbestechlichkeit. Legendär ist Goodmans Interview Ende September 2007 mit Naomi Klein und Alan Greenspan, der fast zwanzig Jahre lang die US-Notenbank geleitet hat. Unerbittlich konfrontieren ihn die beiden Frauen mit seiner zumindest indirekten Mitschuld an den Verbrechen im Irak und anderswo.
Seit den Recherchen für ihr Buch No Logo ist Klein darauf geeicht, hinter der Symbolik den Mangel an Substanz offen zu legen. In diesem Zusammenhang hat Klein den Aufstieg von Barack Obama ins Präsidentenamt von Anfang an sehr verhalten begleitet. Da ist zum einen ihre gesunde Skepsis gegenüber männlicher Führerschaft generell, deren Vorkommen sie auch in linken Bewegungen schonungslos kritisiert, wenn dadurch echte demokratische Teilhabe des Volkes eingeschränkt wird. Zum anderen ist es das politische Branding, das sie schnell erkennt.
Im Vorwort der Jubiläumsausgabe von No Logo, zum 10. Jahrestag der Erstausgabe, schreibt Klein, sie habe beim ersten Anschauen von Obamas Yes We Can-Videos gedacht: »Endlich, ein Politiker mit Werbung so cool wie Nike«. Der Obama-Brand habe 2008 Nike, Apple, Coors und Zappos geschlagen. Und im Gefolge hätten andere Firmen direkt davon profitiert, wie etwa Pepsis Choose Change-Kampagne oder Ikea mit Embrace Change '09. Die Fluglinie Southwest Airlines habe Yes You Can-Tickets verkauft. »Das Problem ist, wie mit so vielen anderen lifestyle brands vor ihm, sein Handeln reicht nicht aus, die Hoffnungen zu erfüllen, die er geweckt hat.« Obama habe für seine Kampagne Menschen und Bewegungen ausgebeutet, die anders als er ohne Zweifel Machtstrukturen hinterfragt hätten. Der Slogan Yes we Can beispielsweise stammt von eingewanderten Latinas und Latinos, die in den letzten Jahren auf den Tomatenfeldern im Süden der USA ihre Arbeitskämpfe mit »si se puede« geführt haben. Klein hat seit langem Kontakte zu diesen Gruppen. Ohne Zweifel hält Klein Obama für den »intelligentesten Führer seiner Partei seit Menschengedenken«, aber sie befürchtet, dass er seine Wahlversprechen nicht einhalten kann, »weil das System absolut zerfallen ist«.
Klein ist dennoch keine Frau ohne Hoffnungen. Zurückgekehrt vom Alternativen Klimagipfel in Cochabamba (Bolivien) Ende April 2010, hält sie in The Nation fest: »Es war ein Aufstand gegen diese Erfahrung der Hilflosigkeit, ein Versuch, dem Recht auf Überleben eine Machtbasis zu schaffen.«
Bereits nach Erscheinen von No Logo bekam Klein manchmal von Frauen zu hören, nicht feministisch genug zu sein. Demgegenüber verteidigt Klein, die in ihren Büchern und Reportagen immer auch konkret die Auswirkungen für Frauen beschreibt, ihre Arbeit nicht zuletzt als »Rückkehr zu den Wurzeln des Feminismus – der frühe Feminismus war sehr stark in Anti-Sweatshop-Aktivitäten involviert«. Da klingt das Erbe der einen Großmutter an, die zusammen mit dem Großvater Streiks und Proteste organisiert hat – unter anderem gegen die Traummaschinen von Disneyland.
Verfasserin: Brigitta Huhnke
Zitate
Damit die wirtschaftliche Schocktherapie uneingeschränkt angewandt werden kann – wie in Chile in den siebziger, in China Ende der achtziger, in Russland in den neunziger Jahren und in den Vereinigten Staaten nach dem 11. September 2001 –, ist stets ein großes kollektives Trauma vonnöten, das demokratische Praktiken entweder vorübergehend außer Kraft setzt oder sie völlig unterbindet.«
(Naomi Klein, die Schock-Strategie, Fischer Verlag 2007, Seite 23, gefunden hier)
In einer ungerechten Welt müssen Wachen und scharfe Kontrollen für Sicherheit sorgen. Doch Gewalt und Fundamentalismus lassen sich nur durch gleiche soziale Chancen für alle Menschen überwinden.“
(Naomi Klein, gefunden hier)
Links
Naomi Klein. Offizielle Webseite.
Online verfügbar unter http://www.naomiklein.org/, zuletzt geprüft am 03.05.2020.
fischerverlage.de: Microsite Naomi Klein.
Online verfügbar unter https://www.fischerverlage.de/autor/naomi_klein/18766?letter=K, zuletzt geprüft am 03.05.2020.
Google Bücher: Naomi Klein (Autorin).
Online verfügbar unter http://books.google.de/books?as_auth=Naomi%20Klein, zuletzt geprüft am 03.05.2020.
Internet Movie Database: Naomi Klein. Filme.
Online verfügbar unter http://www.imdb.com/name/nm1468859/, zuletzt geprüft am 03.05.2020.
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Naomi Klein. Veröffentlichungen.
Online verfügbar unter http://d-nb.info/gnd/122769899, zuletzt geprüft am 03.05.2020.
Perlentaucher: Naomi Klein. Kurzbiografie und Buchbesprechungen.
Online verfügbar unter http://www.perlentaucher.de/autoren/6003/Naomi_Klein.html, zuletzt geprüft am 03.05.2020.
Literatur & Quellen
Klein, Naomi (2003): Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront. Aus dem Englischen von Heike Schlatterer und Helmut Dierlamm. Frankfurt am Main, New York. Campus. ISBN 3-593-37216-9.
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Klein, Naomi (2007): Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Aus dem Englischen von Hartmut Schickert. Frankfurt am Main. Fischer. ISBN 978-3-10-039611-2.
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Klein, Naomi (2015): Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt am Main. FISCHER Taschenbuch. ISBN 9783596031351.
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Klein, Naomi (2017): Gegen Trump. Wie es dazu kam und was wir jetzt tun müssen. Übersetzung: Gabriele Gockel, Sonja Schumacher und Claus Varrelmann. Himmelstoß, Beate (Erzähler). Ungekürzte Lesung, ungekürzte Ausgabe. München. Der Hörverlag. ISBN 9783844528473.
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Klein, Naomi (2017): Gegen Trump. Wie es dazu kam und was wir jetzt tun müssen. (=No is not enough) Übersetzung: Gabriele Gockel, Sonja Schuhmacher und Claus Varrelmann. Frankfurt am Main. S. Fischer. ISBN 9783103973495.
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Klein, Naomi (2019): Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann. Übersetzung: Gabriele Gockel, Barbara Steckhan und Sonja Schuhmacher. 2 mp3-CDs. Ungekürzte Lesung. Unter Mitarbeit von Irina Salkow. Untermünkheim. steinbach sprechende bücher. ISBN 3869744146.
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Klein, Naomi; Gockel, Gabriele et al. (2019): Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann. Übersetzung: Barbara Steckhan, Sonja Schuhmacher und Gabriele Gockel. 1. Auflage. Hamburg. Hoffmann und Campe. ISBN 3455006930.
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Klein, Naomi; Schlatterer, Heike (2015): No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht - ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. (=No Logo)1. Aufl. Frankfurt am Main. FISCHER Taschenbuch. (Allgemeines Sachbuch, 03127) ISBN 9783596031276.
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Sozialistische Alternative (SAV) (Hg.) (2002): Die Ideen von Seattle und Genua. Eine Kritik der Kritiker. Texte über: Pierre Bourdieu - Viviane Forrester - Paul Krugman - Naomi Klein - Robert Kurz - Tobin Steuer - Empire - Attac - Weltsozialforum. Berlin.
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