Biographien Nadeschda Mandelstam
(Nadeschda Jakowlewna Chasina = Надежда Яковлевна Хазина [Geburtsname]; Nadeschda Jakowlewna Mandelstam = Надежда Яковлевна Мандельштам [Ehename]; Nadežda Jakovlevna Mandel'štam [wissenschaftliche Transliteration]; Nadezhda Yakovlevna Mandelstam [englischsprachiger Raum])
geboren am 31. Oktober 1899 in Saratow (UdSSR)
gestorben am 29. Dezember 1980 in Moskau
russische Biographin und Schriftstellerin
125. Geburtstag am 31. Oktober 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen • Bildquellen
Biografie
Nadeschda Jakowlewna Chasin entstammt einer gebildeten Familie in Kiew, wo sie an der Kunstschule studierte. Am 1. Mai 1919 lernt sie den jungen jüdischen Dichter Ossip Mandelstam kennen. Beide verbindet eine tiefe Liebe – weit hinaus über die 18 Jahre der Zusammenarbeit und der Gemeinsamkeit: Durch alle Phasen der bitteren Trennung, der Armut, der Verzweiflung, Angst und Krankheit, der Unterdrückung, Verfolgung und Haft, der Arbeitslosigkeit, des Hungers und der Verleumdung, der langen Fluchten und des Getriebenwerdens kreuz und quer durch Russland. Sie lebten in einer Zeit, in der echte Dichtung zumeist nur im Gedächtnis bewahrt und mündlich weitergegeben werden konnte.
1956 wird ihr Mann teilweise rehabilitiert (in dieser Zeit promoviert sie, 57Jährig, noch in Anglistik), und Nadeschda erhält endlich eine kleine Witwenrente, darf aber weiterhin, als »politisch verdächtige Ehefrau«, nicht in Moskau wohnen, auch wenn sie 1957 (u.a. mit der berühmten Lyrikerin und treuen Freundin Anna Achmatowa) als Nachlassverwalterin ihres Mannes eingesetzt wird. Sie arbeitet als schlecht bezahlte Dozentin für Englisch in der Provinz, veröffentlicht zwei Kurzgeschichten und kehrt 1964 endlich in die Hauptstadt zurück, wo sie einige Jahre vor ihrem Tod noch die erste Veröffentlichung einer Gedichtsammlung ihres Mannes erlebt.
Nadeschda Mandelstam – Ossip redet sie in seinen rührenden Briefen oft mit »Kindchen« oder »Vögelchen« an; sich selbst nannte er, so angewiesen er immer auf sie war, ihren Hüter (engl. nanny) — war die unerschütterlich treue Hüterin seines Andenkens und seiner Werke, die bis in die fünfziger Jahre in der Öffentlichkeit fast unbekannt waren. Sie bestand darauf, dass er seine Texte aufschrieb, sammelte seine Manuskripte, versteckte sie oder gab sie ihrem Bruder und Freunden in Verwahrung, rettete anderes vor der deutschen Wehrmacht und wagte es schließlich, alles Erinnerte aufzuschreiben und weiter vor dem Vergessen zu bewahren, bis es zum Druck ins Ausland gelangte. Doch noch die ersten New Yorker Herausgeber wussten nichts von der Existenz dieser Frau, die im literarischen Werk ihres Mannes nur zarte Spuren hinterlassen hatte.
Spätestens aber seit dem Erscheinen ihrer zwei Erinnerungsbände wissen wir von einer Dichterin. Mit einem durch alle Zeiten des allgemeinen Ich-Verlustes bewahrten tiefen Glauben an die Kraft der Humanität und der Dichtung legt sie ein bewegendes persönliches Zeugnis ab von ihrem Leben in menschlicher Würde in einer Welt entwürdigender und unmenschlicher Zustände.
(Text von 1989)
Verfasserin: Swantje Koch-Kanz
Zitate
Ich beneide jeden, der Dich sieht. Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Ich kenne Dich auswendig, und immer bist Du neu, und immerzu höre ich Dich, meine Freude.
(Ossip Mandelstam an Nadeschda, gefunden hier)
Ossjuscha, was war mein kindliches Leben mit Dir für ein großes Glück. Unsere Streitgespräche, unsere Zänkereien, unsere Spiele und unsere Liebe. Jetzt schaue ich nicht einmal mehr zum Himmel hinauf. Wem sollte ich es denn zeigen, wenn ich eine Wolke sehe? Erinnerst Du Dich, wie wir unsere kargen Festmähler in unsere armseligen Unterkünfte und Nomadenzelte schleppten? Weißt Du noch, wie gut das Brot war, wenn es wie ein Wunder vor uns lag und wir es zu zweit aßen? Und dann der letzte Winter in Woronesch. Unsere glückliche Armut und die Gedichte. Ich weiß noch, wie wir aus dem Badehaus kamen und Eier oder Würstchen gekauft hatten. Ein Heuwagen fuhr vorbei. Es war noch kalt, und ich fror in meiner Joppe (ein ganz anderer Frost steht uns also noch bevor: ich weiß, wie Dir jetzt kalt ist). Und ich habe diesen Tag im Gedächtnis behalten: mir war bis zum Schmerz klar, daß dieser Winter, diese Tage, diese Not das beste und letzte Glück war, das uns zufiel. Jeder Gedanke gilt Dir. Jede Träne und jedes Lächeln auch. Ich preise jeden Tag und jede Stunde unseres bitteren Lebens, mein Freund, mein Gefährte, mein blinder Blindenführer…
(Nadeschda Mandelstam in ihrem letzten Brief an Ossip, gefunden hier)
Links
Dutli, Ralph (2004): Meine Zeit, mein Tier. Ossip Mandelstam. Eine Biographie. Leseprobe. (Link aufrufen)
Google Buchsuche: Nadeschda Mandelstam. Bücher von und über Nadeschda Mandelstam. (Link aufrufen)
James, Clive (2007): Nadezhda Mandelstam. One wife's poignant protests against Communism. Slate Magazine. (Link aufrufen)
Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: Mandelʹštam, Nadežda Ja., 1899-1980 (Link aufrufen)
Margolina, Sonja (1998): Die Hoffnung und der Tod. Berliner Zeitung, 24.12.1998. Artikel basiert auf den Memoiren Emma Gersteins. Berliner Verlag GmbH & Co. KG. (Link aufrufen)
Ossip Mandelstam. Du bist mein Moskau. Briefe aus dem im Amman-Verlag erschienenen gleichnamigen Buch. (Link aufrufen)
Wikipedia: Nadeschda Jakowlewna Mandelstam. Mangels besserer Alternativen. (Link aufrufen)
Антология самиздата (Samisdat-Anthologie): Надежда Мандельштам (Nadeschda Mandelstam). Russischsprachige Onlinefassungen der »Erinnerungen« (Erstes und zweites Buch) und von »Mein Vermächtnis«. (Link aufrufen)
Ладошки (Ladoschki): Надежда Мандельштам: все книги автора (Nadeschda Mandelstam: Alle Bücher der Autorin) (Link aufrufen)
Письма - Надежда Мандельштам - Анне Ахматовой (Briefe – Nadeschda Mandelstam an Anna Achmatowa) (Link aufrufen)
Шаламов, Варлам (Schalamow, Warlam): Переписка с Мандельштам Н.Я. (Briefwechsel mit N. J. Mandelstam) (Link aufrufen)
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Literatur & Quellen
Hinweis: Dies sind keine Literaturempfehlungen, sondern die zum Thema erschienenen Titel – ohne Wertung unsererseits.
Brown, Clarence (1973): Mandelstam. Cambridge. Cambridge University Press. ISBN 0-521-20142-X. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Gerstein, Emma (2004): Moscow memoirs. Memories of Anna Akhmatova, Osip Mandelstam, and literary Russia under Stalin. Translated and edited by John Crowfoot Woodstock. Overlook Press. ISBN 1-58567-595-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Grabmüller, Uta (Hg.) (1993): Zwischen Anpassung und Widerspruch. Beiträge zur Frauenforschung am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Wiesbaden. Harrassowitz. (Multidisziplinäre Veröffentlichungen / Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, 3) ISBN 3-447-03375-4. (Amazon-SucheWorldCat-Suche)
Holmgren, Beth (1993): Women's works in Stalin's time. On Lidiia Chukovskaia and Nadezhda Mandelstam. Bloomington. Indiana University Press. ISBN 0253208297. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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Mandelstam, Ossip (1979): The complete critical prose and letters. Herausgegeben von Jane Gary Harris. Ann Arbor. Ardis. ISBN 0-88233-163-9. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Mandelstam, Ossip (1989): Briefe an Nadeshda. Ausgewählt und übertragen von Johanne PetersHerausgegeben von Siegfried Heinrichs. Berlin. Oberbaum. ISBN 3-926409-56-8. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Mandelstam, Nadeschda (1971): Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie. (=Vospominanija) Aus dem Russischen von Elisabeth Mahler Frankfurt am Main. Fischer-Taschenbuch-Verlag. 1991. (Fischer-Taschenbücher, 5684) ISBN 3-596-25684-4. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Rylkova, Galina (1999): No Room of Her Own. The Case of L. D. Blok vis-à-vis Anna Achmatova, Nadeschda Mandelschtam and Lidija Tschukovskaja. Chicago.
Schultz, Hans Jürgen (Hg.) (1989): Liebespaare. Geschichte und Geschichten. Buch nach einer Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks München. Deutscher Taschenbuchverlag. 1993. (dtv, 30356 : dtv-Sachbuch) ISBN 3-423-30356-5. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Terras, Victor (Hg.) (1985): Handbook of Russian literature. New Haven. Yale University Press. ISBN 0-300-03155-6. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Bildquellen
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