Geboren am 21. Mai 1799 in Lyme Regis, Grafschaft Dorset, Südwesten Großbritanniens
Gestorben am 9. März 1847 in Lyme Regis
britische Fossiliensammlerin, Paläontologin
225. Geburtstag am 21. Mai 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Mary Anning – der Name einer großen, inspirierten Wissenschaftlerin, nicht nur eine der Gründerinnen der Paläontologie, sondern deren Meisterin. Zugleich ist ihr Name Synonym für das Leben von Frauen in einer feudalen, zutiefst patriarchalen Klassengesellschaft, in der weibliche Stärke, Stimme und Selbstbestimmung ebenso wenig galten wie das Recht auf Bildung, Eigentum oder Mitbestimmung in politischen Entscheidungsprozessen.
Heute ist Mary Anning berühmt und gefeiert für ihre Entdeckung, Bergung und Beschreibung von Fossilien mächtiger Meeres- und Flugsaurier, von Fisch- und Weichtierfossilien, die sie entlang der Küste von Lyme Regis in Südengland entdeckte. Mary Annings Erkenntnisse trugen entscheidend zu Veränderungen im wissenschaftlichen Denken über das prähistorische Leben und die Geschichte der Erde bei. Einige ihrer Funde sind bis heute in Vollständigkeit und Präparation unübertroffen. Sie wurde eine der WegbereiterInnen der Evolutionstheorie und eine der ersten, die den Gedanken an die Entwicklung der Erde wagten. Nur zwölf Jahre nach ihrem Tod veröffentlichte Charles Darwin 1859 seine Thesen zur Entstehung der Arten. Mary Annings Entdeckungen passten nahtlos in Darwins Werk.
Aufgrund ihrer Verdienste nahm die Royal Society Mary Anning im Jahr 2010 in die Liste der zehn britischen Frauen auf, die die Geschichte der Wissenschaft am meisten beeinflusst haben. Ihre Heimatstadt Lyme Regis gehört zur „Jurassic coast“ (Jura-Küste), dem Küstenabschnitt entlang des Ärmelkanals, der als „Perle von Dorset“ bezeichnet wird und seit 2001 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Auch das ist ohne das Verdienst von Mary Anning nicht vorstellbar.
Nichts versprach eine derart bedeutende Biografie, als Mary 1799 geboren wurde. Ihre Eltern, Richard (1766–1810) und Mary (1764–1842), hatten zehn Kinder, acht von ihnen starben. Nur Mary und ihr älterer Bruder Joseph erreichten das Erwachsenenalter. In ganz Großbritannien war die Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert so groß, dass nur etwa die Hälfte der neugeborenen Kinder das fünfte Lebensjahr erreichte. Großbritannien führte unter Georg III. Krieg gegen Napoleons Armee, für die arme Bevölkerung waren die Lebensmittelpreise kaum mehr bezahlbar, und die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht verbrachten ihre Erholungsurlaube nicht mehr auf dem Kontinent, sondern im Inland.
Marys Vater arbeitete zwar als Tischler und Zimmermann, war aber gezwungen, sein Einkommen durch die Suche nach Fossilien aufzubessern, die er als „Kuriositäten“ an Touristen verkaufte. Die wahre Herkunft dieser eigenartigen steinigen Überreste war ja noch gänzlich unbekannt. Die Idee, dass Lebewesen aussterben können, war beinahe undenkbar und selbst unter Wissenschaftlern eine umstrittene Theorie. In der Mitte des 19. Jahrhunderts glaubten die meisten Menschen, dass Gott die Erde gemäß dem biblischen Text innerhalb einer Woche geschaffen habe, zusammen mit allen Pflanzen, Tieren und dem Menschen. Die Schönheit, Vielfalt und perfekte Anpassung an die Lebensräume der Geschöpfe galten als Belege für die Macht des Schöpfers. Seit der Geburt unseres Planeten sei keine Art verschwunden oder dazugekommen. Dazu kam die auf sein Bibelstudium gestützte Zeitrechnung von Bischof Ussher, dass Gott Himmel und Erde am Vorabend des 23. Oktober 4004 vor Christi Geburt geschaffen hatte.
Obwohl das Sammeln von Fossilien Ende des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Mode gekommen war, wovon auch die Annings profitierten, blieb die Familie bitterarm: Immer mangelte es an Geld im endlosen Kampf um Essen, Kleidung und Heizmaterial für die kalten stürmischen Winter an der Atlantikküste. Das Haus der Annings stand so nah am Meer, dass stürmische Fluten immer wieder ins Haus eindrangen, so dass die Familie ins Obergeschoss flüchten musste, um nicht zu ertrinken.
Von Kindheit an begleitete Mary ihren Vater bei der Fossiliensuche, von ihm lernte sie, wie man Fossilien am Strand findet und reinigt. Sie lernte die volkstümlichen Benennungen für die Fundstücke, um deren unbekannte Herkunft sich phantasievolle Legenden rankten.
- Ammoniten, die häufigsten Fossilien (eine Gruppe von Weichtieren, 400 - 66 Mio. Jahre und dem modernen Tintenfisch ähnelnd, aber mit einer harten aufgerollten Schale) wurden „Schlangensteine“ und „Schneckensteine“ genannt;
- Belemniten (fossile Kopffüßler, 358 - 66 Mio. Jahre) hießen „Lady’s Finger“, „Teufelsfinger“ oder „Donnersteine“;
- Gryphaeas (eine ausgestorbene Muschel, die der modernen Auster gleicht und deren fossile Schalen vor allem in den Schichten des Jura 208 -135 Mio. Jahren vorkommen) waren „Teufelszehennägel“.
Die Küstenklippen um Lyme Regis sind bis heute einer der reichsten fossilen Standorte in Großbritannien, die geologische Formation ist als „Blue Lias“ bekannt und besteht aus abwechselnden Schichten von Kalkstein und Schiefer. Zu Beginn des Jurazeitalters (210-195 Mio. Jahre) lagerte sich diese Schicht als Sediment auf dem damaligen Meeresboden ab und schloss mehrere Arten von Meerestieren ein.
Das Sammeln von Fossilien dort war allerdings ein gefährliches Unternehmen, wenn der Regen nach Fluten oder Sturm Erdrutsche verursachte. Das wurde für die Familie Anning zur Tragödie, als der Vater einen so schweren Sturz von einer Klippe erlitt, dass er 1810 im Alter von 44 Jahren seinen Verletzungen erlag. Von nun an mussten die elfjährige Mary und ihr Bruder Joseph die Familie über die Runden bringen.
Für Schulbildung blieb Mary weder Zeit noch Geld, und es wäre wohl bei notdürftigem Lesen und Schreiben geblieben, das man ihr in der Sonntagsschule beibrachte, hätte sich nicht eine Frau aus dem Ort um sie bemüht. Elizabeth Philpot, selbst bekannt geworden für ihre umfangreiche Fischfossiliensammlung (heute im Oxford-University-Museum untergebracht ), hatte sich mit ihren beiden ebenfalls unverheirateten Schwestern in Lyme Regis niedergelassen und erkannte Marys außerordentliche Begabung. Trotz der fast 20 Jahre Altersunterschied und der Tatsache, dass Elizabeth Philpot aus dem begüterten Mittelstand stammte, freundete sie sich mit Mary an und ermutigte sie, wissenschaftliche Schriften zu studieren. Die beiden blieben ihr Leben lang enge Freundinnen und Kolleginnen, am Strand meist begleitet von Tray, Mary Annings kleinem Hund, der die Fundstücke bewachen musste, während die beiden Frauen nach weiteren Fossilien Ausschau hielten.
Im Alter von zwölf Jahren gelang Mary 1811 der erste sensationelle Fund, als sie das Skelett eines Ichthyosaurus entdeckte, ein bis zu 3m großer Fischsaurier, der vor etwa 2 Mio. Jahren lebte. Mary Anning erhielt 23 Pfund von ihrem Käufer, der das Skelett dann an William Buckland (1784–1856) weitergab. Buckland war bereits ein bekannter Fossiliensammler und wurde der erste Professor für Geologie an der Universität Oxford. Das Skelett erregte starkes Interesse – warf es doch Fragen zur Entwicklung der Lebewesen und damit zur Geschichte der Erde auf. Zunächst wurde vermutet, dass es sich um einen Verwandten des Krokodils gehandelt haben könnte. 1820 wurde es für die doppelte Summe im Vergleich zum Kauf bei Mary Anning an das Britische Museum in London versteigert. Marys Entdeckung war der erste Fund eines kompletten Ichthyosaurier-Skeletts und fand Eingang in die wissenschaftliche Fachzeitschrift Transactions of the Royal Society.
Mary galt bald als kenntnisreiche Fossiliensammlerin, Geologen und Biologen kauften ihre Funde. Zu ihren eifrigsten Kunden gehörte Thomas Birch, ein wohlhabender Sammler, den die Armut der Familie Anning erschütterte. 1820 verkaufte er die Fossilien, die er bei Mary Anning gekauft hatte, zugunsten der Familie und ermöglichte ihr dadurch einen kleinen finanziellen Rückhalt.
1820 gelang Mary Anning eine zweite großartige Entdeckung: sie fand das erste Skelett eines Plesiosaurus, ebenfalls ein Fischsaurier, der erste dieser Gattung, der überhaupt gefunden wurde, wissenschaftlich beschrieben vom britischen Geologen William Conybeare. Wieder bestand Mary Annings Leistung sowohl in ihrer außerordentlichen Begabung, Fossilien in den steilen Klippen zu „sehen“, als auch in der Sorgfalt und Geduld, sie zu heben. An der Ausgrabung und Bergung des 7 m großen Skeletts arbeitete sie zehn Jahre lang ohne Unterstützung und mit den einfachsten Werkzeugen. Niemals hatte sie eine wissenschaftliche Ausbildung genossen und war doch in der Lage, ihre Funde exakt zeichnerisch wiederzugeben und sie ebenfalls kompetent zu beschreiben. Die Qualität des Plesiosaurus-Fossils ist bis heute in seiner Qualität unübertroffen.
Eine Besucherin, Lady Harriet Silvester, beschrieb Mary Anning 1824 in ihrem Tagebuch:
Das Außergewöhnliche an dieser jungen Frau ist, dass sie sich so gründlich mit der Wissenschaft vertraut gemacht hat, dass sie in dem Moment, in dem sie Knochen findet, weiß, zu welchem Stamm sie gehören. […] durch Lesen und Erfahrung verfügt sie über so viel Wissen, dass sie es gewohnt ist, mit Professoren und anderen klugen Männern über dieses Thema zu schreiben und zu sprechen, und alle geben zu, dass sie mehr von der Wissenschaft versteht als jeder andere in diesem Königreich.
Um Anatomie, Physiologie und möglicherweise Ernährung der früheren Tiere besser nachvollziehen zu können, sezierte sie auch moderne Fisch- und Tintenfisch-Arten. In einem Brief an Buckland (der Brief wurde 2020 für 120.000 € versteigert) schrieb sie von ihrer wissenschaftlich wichtigen und richtigen Vermutung, dass es sich bei den sog. Bezoarsteinen um versteinerte Fäkalien von Fischsauriern handelte. Buckland gab diesen Objekten später den Namen „Koprolithen“. Ebenso entdeckte sie, dass viele Belemnitenfossilien eine Kammer aufwiesen, in der getrocknete Tinte eingelagert war. Ihrer Freundin Elizabeth Philpot gelang es, die Tinte zu verflüssigen und sie benutzte sie für Illustrationen ihrer Fischfossilen.
Obwohl mehr und mehr namhafte Wissenschaftler zu Mary Anning kamen, um von ihr zu lernen, zu kaufen oder ihren Rat einzuholen, versagten sie ihr die angemessene öffentliche Anerkennung. Die Museen und wissenschaftlichen Gesellschaften nannten den Namen der Verkäufer oder Spender, selbst im Zusammenhang mit der bahnbrechenden Entdeckung des Ichthyosaurus wurde ihr Name kaum jemals erwähnt. Die einflussreiche Geologische Gesellschaft von London lehnte sowohl ihre Aufnahme als Mitglied als auch als Gast ab. Sie war eine Frau – und Frauen wurden erst 1904 zugelassen. Mit ihrem Bekanntheitsgrad stieg immerhin ihre Selbstsicherheit: 1839 schrieb sie an das Magazin für Naturgeschichte und korrigierte die dort aufgestellte Behauptung, ein kürzlich gefundenes Hai-Fossil sei eine neue Gattung, denn sie habe schon vor vielen Jahren die Existenz dieser speziellen Hai-Art entdeckt. Der Auszug aus dem Brief, den die Zeitschrift veröffentlichte, blieb die einzige wissenschaftliche Schrift von Mary Anning, die in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht wurde. Auch das mag ein Grund dafür sein, dass sie lange Zeit in Vergessenheit geriet.
1828 hob Mary Anning – wieder nicht ihre gelehrten Besucher – ihren dritten sensationellen Fund: sie hatte den ersten Flugsaurier (Pterosaurus) außerhalb Deutschlands entdeckt, den größten flugfähigen Saurier, den wiederum Buckland wissenschaftlich beschrieb.
Verkäufe und Ersparnisse hatten sie 1826, im Alter von 27 Jahren, in die Lage versetzt, für sich und ihre Mutter ein Haus in einer höheren Lage der Stadt zu kaufen, das nicht mehr überschwemmt werden konnte und zudem gläserne Fenster hatte, die sie als Schaufenster nutzen konnte. Charlotte Murchinson, Ehefrau des damals führenden Geologen Roderick Murchinson, unterstützte sie tatkräftig beim Aufbau des „Anning’s Fossil Depot“. Charlotte Murchinson war eine vielgereiste Frau und hatte durch ihren Mann prominente Wissenschaftler kennengelernt. Als enge Freundin baute sie für Mary Anning ein Kundennetzwerk über ganz Europa bis nach Amerika auf. Beeindruckt von der Kompetenz Mary Annings und Elizabeth Philpots schrieb z.B. der Schweizer Paläontologe Louis Agassiz nach seinem Besuch in Lyme Regis:
Miss Philpot und Mary Anning waren in der Lage, mir mit absoluter Gewissheit zu zeigen, welche Rückenflossendornen welchem Hai der 34 Arten zuzuordnen sind.
In Fachkreisen war sie bald für ihr exzellentes, umfassendes Wissen bekannt geworden.
Um die 1830er Jahre verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage im Land dramatisch, die Nachfrage nach Fossilien ließ nach, zudem hatte Mary Anning seit längerem keine bedeutenden Funde gemacht, so dass sie wieder in wirtschaftliche Not geriet. Jetzt half ihr die Initiative ihres Freundes und Geologen Henry de la Beche (1796 – 1855), der sein Aquarell „Duria Antiquior“ („vorzeitlches Dorset“) als Lithografie drucken ließ, es an wohlhabende Freunde und Kollegen verkaufte und den Erlös seiner Freundin Mary übergab – und durch sein Bild selbst ein berühmter Mann wurde: es war der erste Versuch einer Rekonstruktion von ausgestorbenen Lebewesen in ihrer Umwelt und zeigt die von Anning gefundenen Saurierarten: den Ichthyosaurier, den an seinem langen Hals erkennbare Plesiosaurier sowie den Flugsaurier. Diese Kunstform wird seither „Paläo-Kunst“ genannt und dient dazu, das prähistorische Leben besser vorstellbar zu machen.
Finanzielle Sicherheit blieb Mary Anning aber nur wenige Jahre vergönnt: 1835 traf sie ein weiteres finanzielles Desaster, als sie ihre gesamten Ersparnisse durch eine schlechte Investition verlor. Die Quellen unterscheiden sich in der Ursache für diese Katastrophe – vermutlich ist sie einem Betrüger aufgesessen oder der Investor ist verstorben, ohne ihr das Geld ausgehändigt zu haben.
William Buckland setzte nun durch, dass Mary Anning für ihre Verdienste um die Wissenschaft von der British Association for the Advancement of Science (Britische Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft) und der britischen Regierung eine, wenn auch sehr niedrige jährliche Rente zugesichert wurde.
1845 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, was im 19. Jahrhundert den sicheren Tod bedeutete, denn es gab keinerlei Therapie außer der Verabreichung von Laudanum als Mittel gegen die unerträglichen Schmerzen. Als die Mitglieder der Geologischen Gesellschaft von ihrer Krebserkrankung und neuerlichen Verarmung erfuhren, sammelten sie Geld als Unterstützung in der letzten Lebensphase. Das neu gegründete Dorset County Museum ernannte sie zum Ehrenmitglied.
Nach zweijährigem Leidensweg starb Mary Anning 1847 in ihrem 48. Lebensjahr. Nach ihrem Tod hielt Henry de la Beche in der Geologischen Gesellschaft eine Laudatio auf sie – die erste Laudatio dort auf eine Frau.
1850 wurde in der örtlichen Kirche zu ihrer Ehrung und Erinnerung ein Buntglasfenster installiert.
Mary Anning wurde erst in den vergangenen Jahrzehnten als eine der wichtigsten und außergewöhnlichsten PaläontologInnen wiederentdeckt. Mittlerweile tragen ein halbes Dutzend ausgestorbene Tierarten, vulkanische Gebiete auf der Venus und ein Asteroid ihren Namen. So bleibt ihr Name im Universum eingeschrieben.
Die bedeutendsten Funde von Mary Anning sind heute im Naturhistorischen Museum in London ausgestellt, das Museum hat eine ganze Sektion für sie reserviert. Weitere Fossilien und Informationen zeigt das Lyme-Regis-Museum, 1901 von einem Neffen von Elizabeth Philpots in Auftrag gegeben und heute vielbesucht.
2019 startete Evie Swire, ein damals neunjähriges Mädchen aus Dorset, eine Spendenkampagne mit dem Ziel, Geld für eine Statue von Mary Anning in Lyme Regis zu sammeln. Mit Hilfe ihrer Mutter und unter der Schirmherrschaft von David Attenborough, Tracy Chevalier und Prof. Alice Roberts, Biologin und Anthropologin der Universität Birmingham, kam ein so hoher Betrag zusammen, dass die Bildhauerin Dennis Dutton beauftragt werden konnte, eine Bronzestatue zu erstellen. Am 22. Mai 2022 wurde die Statue feierlich enthüllt und der Heimatstadt von Mary Anning übergeben.
Im Rückblick auf Mary Anning und ihr Leben bleiben bei allem heutigen Wissen um ihre Verdienste Geheimnisse und Fragen zurück, auf die nur sie die Antworten kennt. Zu ihren Lebzeiten maß kaum jemand ihrer Person, ihrem emotionalen Leben und ihren Beziehungen Bedeutung bei. Sie lebte als Frau in einer Männerwelt und wurde von den Männern zur Förderung deren eigener Karriere benutzt. Auch wenn sie mit ihnen bis zu einem gewissen Grad befreundet war, kannte sie ihre Klasse und ihren sozialen Status gegenüber den gebildeten, sozial besser gestellten Gentlemen und war sich bewusst, dass sie respektvoll und distanziert bleiben musste. Für sie ging es ja um ihr ökonomisches Überleben. Überliefert von ihr sind nur einige private Briefe, die von ihrem unabhängigen Geist, von Herzlichkeit und Mitgefühl sprechen. Briefe, Tagebuchnotizen und Korrespondenzen von BesucherInnen und FreundInnen porträtieren Mary Anning als eine bescheidene, gefühlvolle, mütterliche und religiöse Frau. Sie sei eine sehr geduldige Frau gewesen und ganz besonders Kinder hätten ihr am Herzen gelegen. Wenn sie Geld hatte, verschenkte sie einen Teil an die noch ärmeren Nachbarn und an die Kranken. Gleichzeitig war sie der Lächerlichkeit preisgegeben – sie sah nicht wie eine zeitgemäß angepasste Frau aus: sie war stark, robust, als Geschäftsfrau von nüchterner Strenge. „Maskulin“ sei sie gewesen – wobei zu bedenken ist, dass als „feminin“ die ans Patriarchat angepasste, im doppelten Sinne des Wortes korsettierte Frau galt. Eine sich so darstellende Weiblichkeit konnte sich Mary Anning nicht leisten – und vielleicht wollte sie es auch nicht. Selbstbewusstsein bescheinigen ihr einige Zeitgenossen, manchmal sogar Arroganz. Trotzdem war sie nicht arrogant genug, denn sie ging zu großzügig und dazu noch kostenlos mit ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihrer Hilfsbereitschaft um (Pierce, Kapitel 4 „Reptiles and Relationships“ sowie Kapitel 5 „Her Spheres of Excellence“).
Überdeutlich stehen über ihrem Leben die zahlreichen „Handicaps“, denen sie ausgesetzt blieb:
- Sie war eine Frau – und niemand erwartete, dass eine Frau an der großen wissenschaftlichen Revolution des 19. Jahrhunderts Anteil haben könnte.
- Sie entstammte der mittellosen Arbeiterklasse.
- Sie genoss keine formale Ausbildung, hatte keine Chance, in Oxford oder Cambridge die Bildung zu erlangen, die ihr zugestanden hätte.
- Sie kannte nur den rauen, ländlichen Dialekt der Gegend um Dorset, der sie sprachlich isolierte.
- Sie blieb eine unverheiratete Frau, was in der viktorianischen Gesellschaft völlig dem weiblichen Ideal widersprach. Das Lebensziel der Frau hieß Heirat, Kinder gebären und sie aufopfernd großziehen – das alles bei vollständiger Rechtlosigkeit.
- Sie rüttelte an den Festen des vorherrschenden Weltbildes.
Keine Biografie kann die Einzigartigkeit eines Lebens einfangen. Und das gilt in besonderem Maße für den Versuch, nicht nur der Wissenschaftlerin, sondern auch der Frau Mary Anning zu begegnen. Sicher aber ist, dass jede Annäherung sich in zwei Erzählungen bewegt: in der Erzählung von einer Mary Anning, benannt nach einer verstorbenen Schwester – was Fragen nach ihrem Identitäts- und Selbstwertgefühl aufwirft -, einer Mary Anning, die zeitlebens Opfer der Armut und Opfer des viktorianischen Patriarchalismus blieb, die sich für die Herren Geologen abquälte und letztendlich doch zurückgewiesen oder übergangen wurde. Und in der zweiten Erzählung von einer kraftvollen, starken, unerschrockenen und unbeirrten Mary Anning, einer Frau voller Neugier und dem Verlangen nach Lernen. Einer Frau, die zeigte, was möglich ist mit Intelligenz, beseeltem Forschungsdrang und Leidenschaft. Einer brillanten, erstaunlichen Frau, die immer ihr eigener Boss blieb, die sich nicht vorschreiben ließ, was sie durfte oder konnte. Die zwar gefangen war in ihrem gesellschaftlichen Rahmen, aber sich nicht scheute, die gelehrten Männer zu belehren und zu korrigieren. Einer Frau mit einfühlsamem Herzen, die ein tiefes Verständnis für die Urtiere entwickelte, das sie sich größtenteils selbst beigebracht hatte – auf eine praktische und pragmatische Art der Forschung. Einer Frau mit funkelndem Geist, untrüglicher Intuition und glasklarem Verstand, der sie zur größten frühen Wissenschaftlerin werden ließ. Einer Frau, die trotz aller Hindernisse bewies, dass sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort geboren war, lebte und forschte. Einer Frau, die das Unmögliche möglich machte. Heute verneigen sich viele Menschen vor beiden Seiten dieser Frau, die die Welt auf ihre Weise verändert hat, der die Gründung der Paläontologie zu verdanken ist: einer Wissenschaft, die uns mit unserer eigenen Geschichte verbindet.
Film
»Ammonite«, Regie von Francis Lee, mit Kate Winslet und Saoirse Ronan, 2021
Verfasserin: Christa Matenaar
Zitate
The world has used me so unkindly, I fear it has made me suspicious of everyone.
(Die Welt hat mich so unfreundlich behandelt, ich fürchte, sie hat mich allen gegenüber misstrauisch gemacht.)Mary Anning
Miss Anning of Lyme, contributed to assist them. This lady, devoting herself to science, explored the frowing and precipitous cliffs there, when the furious spring-tide conspired with the howling tempest to overthrow them, and rescued from the gaping ocean, sometimes at the peril of her life, the few specimens which originated all the fact and ingenious theories of those persons, whose names must be ever remembered with sentiments of liveliest gratitude.
(Miss Anning aus Lyme unterstützte sie dabei. Diese Dame, die sich der Wissenschaft widmete, erforschte die zerklüfteten und steilen Klippen dort, wenn sich die wilde Frühjahrsflut mit dem heulenden Sturm verschwor, um sie umzustoßen, und rettete aus dem tosenden Ozean, manchmal unter Lebensgefahr, die wenigen Exemplare, die all die Erkenntnisse und genialen Theorien jener Personen hervorbrachten, deren Namen man immer mit Gefühlen lebhafter Dankbarkeit in Erinnerung behalten muss.)
Aus der Laudatio von Henry de la Beche vor der Royal Geological Society. Pierce, S. 122 nach Hawkins, Memories of Ichthyosauri and Plesiosauri, London 1834
Dear kind-hearted child! Admidst all her sufferings to have thought of me and my comfort: as to my remembering her, never, whilst life remains, can I forget the transient vision of her friendship. Oh! madam, had you heard her kind pious conversations with me when we were alone, you would say that I was the most ungrateful of beings if I ever forgot her. Although so young, her mind was so heavenly gifted, that not to be doing good was to her impossible: and I trust that, the trials which in this world I am doomed to encounter, I shall think on her pious example, and submit without a murmur to the decrees of Providence; convinced that he only afflicts for wise purposes .…
(Liebes, gutherziges Kind! Trotz all ihrer Leiden hat sie an mich und meinen Trost gedacht. Was die Erinnerung an sie betrifft, so kann ich niemals, solange ich lebe, die flüchtige Vision ihrer Freundschaft vergessen. Ach, gnädige Frau, wenn Sie ihre freundlichen, frommen Gespräche mit mir gehört hätten, wenn wir allein waren, würden Sie sagen, dass ich das undankbarste aller Wesen wäre, wenn ich sie jemals vergessen würde. Obwohl sie so jung war, war ihr Geist so himmlisch begabt, dass es ihr unmöglich war, nicht Gutes zu tun: und ich vertraue darauf, dass ich in den Prüfungen, die mir in dieser Welt begegnen werden, an ihr frommes Beispiel denken und mich ohne Murren den Anordnungen der Vorsehung fügen werde, in der Überzeugung, dass er nur zu weisen Zwecken heimsucht ....)
Aus einem Kondolenzbrief von Mary Anning anlässlich des Todes des 15jährigen Mädchens Frances August Bell. Pierce, S. 130
Links
Google Arts & Culture (2022): Mary Anning: Bedeutende Pionierin der Paläontologie.
Online verfügbar unter https://artsandculture.google.com/story/PgXB8g-VfbBAJA?hl=de, zuletzt geprüft am 13.05.2024.
Kienle, Dela: Vor unserer Zeit. In: Werde Nr. 2, 2018, S. 75–91. PDF-Datei.
Online verfügbar unter https://plan17.de/wp-content/uploads/2019/11/Dela_Kienle_Mary_Anning.pdf, zuletzt geprüft am 13.05.2024.
Literatur & Quellen
Quellen
Chevalier, Tracy (2010): Zwei bemerkenswerte Frauen. Roman. (=Remarkable creatures) Übersetzung: Anne Rademacher. 1. Aufl. München. Knaus. ISBN 9783813503685.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Emling, Shelley (2009): The fossil hunter. Dinosaurs, evolution, and the woman whose discoveries changed the world. 1st ed. New York. Palgrave Macmillan. ISBN 9780230611566.
Mehr dazu unter http://www.loc.gov/catdir/enhancements/fy0910/2009017900-b.html
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Pierce, Patricia (2016): Jurassic Mary. Mary Anning and the primeval monsters. E-Book. Stroud, Gloustershire. The History Press. ISBN 9780752495699.
Mehr dazu unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/kxp/detail.action?docID=1212825
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Weiterführende Literatur
Draper, Jo (2004): Mary Anning's town – Lyme Regis. Dorchester. Dorset County Council. (Walking through time) ISBN 085216985X.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Kegel, Bernhard (2019): Ausgestorben, um zu bleiben. Dinosaurier und ihre Nachfahren. [1. Auflage]. Köln. DuMont Buchverlag. ISBN 9783832164959.
(Suche in Almuts Buchhandlung | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Pierce, Patricia (2014): Jurassic Mary. Mary Anning and the primeval monsters. Paperback edition. Stroud. History Press. ISBN 9780750959247.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
Tickell, Crispin (1998): Mary Anning of Lyme Regis. Reprinted. Lyme Regis. Lyme Regis Philpot Museum. ISBN 0952766205.
(Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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