Biographien Marie Anne Tellegen
(Widerstandsname: Dr. Max)
geboren am 30. Dezember 1893 in Arnhem, Niederlande
gestorben am 23. April 1976 in Amsterdam, Niederlande
niederländische Juristin, Feministin, Widerstandskämpferin und Direktorin des Kabinetts der Königin
130. Geburtstag am 30. Dezember 2023
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts galt sie als „ungekrönte Königin“ oder selbst als „Unterkönigin“: Marie Anne Tellegen. Ihr Freiheitsdrang und ihr Gefühl für Gerechtigkeit brachten sie von selbst zum Feminismus und zum Widerstand gegen den Faschismus.
Anne Marie Tellegen war die Tochter von Jan Willem Cornelis Tellegen, Direktor des städtischen Bauamtes, der als Parteiloser und Progressiver 1915 Bürgermeister von Amsterdam wurde, und Alida Johanna Jacoba Fock, einer politisch interessierten Frau, die sich u.a. für das Frauenwahlrecht engagierte. Politische Gespräche gehörten in der bürgerlichen Familie, in der es noch vier weitere Geschwister gab, zum Alltag.
Nach ihrer Schulzeit studierte sie ab 1914 Jura in Utrecht. Sie engagierte sich in der Redaktion der Studentenzeitung Vox Studiosorum und der Theatergruppe der Utrechter weiblichen Studentenvereinigung (UVSV).
1911 lernte sie die Schriftstellerin Carry van Bruggen kennen, mit der sie eine Zeitlang eine innige Freundschaft verband und die ihr für ihre Entscheidungen lebenslang als Maßstab galt. Durch sie lernte sie den 27 Jahre älteren Museumskonservator und Kritiker Frans Coenen kennen, mit dem sie ab 1919 eine 13 Jahre dauernde freie Liebesbezie-hung einging. Nicht nur im persönlichen Leben, sondern grundsätzlich trat sie ganz entschieden gegen Heirat und Ehe auf. 1931 verließ Coenen sie für eine ihrer Freundinnen.
1920 schloss Tellegen ihr Studium mit ihrer Promotion ab. Noch im gleichen Jahr begann sie für die Stadtverwaltung der Stadt Utrecht zu arbeiten, eine Arbeit, die sie zwar langweilig fand, mit der sie aber schnell Karriere machte. Sie wurde als Frau respektiert, die ihren eigenen Weg ging und nicht mit sich spaßen ließ.
In den 1930er Jahren begann sich Tellegen in der Frauenbewegung zu engagieren. 1934 wurde sie Vorsitzende der Vereeniging voor Vrouwen met Academische Opleiding (VVAO, Verein für Frauen mit einer akademischen Ausbildung), 1935 war sie eine der Gründerinnen des Comité tot Verdediging van de Vrijheid van Arbeid voor de Vrouw (Komitee zur Verteidigung der Freiheit der Arbeit für Frauen) und von 1935 bis 1937 war sie im Vorstand der Vereeniging van Vrouwenbelangen en Gelijk Staatsburgerschap (Verein für Fraueninteressen und gleiche Staatsbürgerschaft). Sie setzte sich 1937 vehement gegen einen Gesetzentwurf ein, der dafür sorgen sollte, dass Frauen, die nicht in spezifischen Frauenberufen arbeiteten, durch Männer ersetzt würden, verheiratete Frauen sollten erst gar nicht für Lohnarbeit eingestellt werden, und alle verheirateten Frauen und selbst solche, die unverheiratet zusammen lebten, aus ihrer Lohnarbeit entlassen werden. Tellegens Meinung nach sollte die Frauen selbst und nicht die Regierung entscheiden, wie sie ihr Leben leben wollten. – Auch war sie im Beirat des 1935 gegründeten IAV (Internationaal Archief voor de Vrouwenbeweging, Internationales Archiv der Frauenbewegung, heute: Archiv für Emanzipation und Frauengeschichte Atria).
Als ihr deutlich wurde, dass es Krieg geben würde, fühlte sie sich moralisch verpflichtet, sich für den Erhalt des Friedens einzusetzen und wurde Mitglied im Algemene Nederlandsche Vrouwen-Vredebond (Allgemeiner Frauen-Friedens-Bund), der seine Aufgabe vor allem im Erzieherischen sah. Durch diese Mitgliedschaft setzte sie sich dem Risiko der Entlassung als Beamtin aus.
Die Besetzung der Niederlande 1940 - Utrecht wurde am 15. Mai besetzt und war einige Tage von der Außenwelt abgeschlossen - und vor allem die gewalttätigen Razzien gegen Juden im Februar 1941 waren für Tellegen ein Wendepunkt in ihrem Leben. Um ihre geistige und moralische Integrität zu bewahren – was ihr zeitlebens wichtig war – konnte sie nicht anders, als alles abzulehnen, wofür die Faschisten standen. Nach dem Tod ihrer Mutter im März 1941 hatte sie das Gefühl, völlig frei zu sein und schloss sich im Sommer 1941 dem Widerstand an. In der Illegalität war sie bereit, alles zu tun, worum sie gebeten wurde, ihre zahlreichen Kontakte waren dabei für sie sehr hilfreich.
Tellegen sah Utrecht als „Stadt der Bewegung“, Mussert, der Führer der niederländischen faschistischen Bewegung, lebte seit Jahren dort und das Hauptquartier der NSB (Nationaal-Socialistische Beweging, die niederländische Nationalsozialistische Bewegung) befand sich an der Maliebaan, der gleichen Straße, in der auch Tellegen wohnte. Als die Stadt einen nationalsozialistischen Bürgermeister bekam, kündigte sie, denn unter ihm konnte und wollte sie nicht arbeiten. Er warnte sie gleich, dass sie sich an keinerlei Aktionen beteiligen solle, sonst würde sie „abgeholt“. Dass sie auf der schwarzen Liste mit politisch unzuverlässigen BeamtInnen stand, war ihr klar.
Als Juden und Jüdinnen aus allen Organisationen ausgeschlossen werden mussten, forderte Tellegen die Mitglieder des VVAO auf, auszutreten, was etwa 80 Prozent der Frauen auch taten, woraufhin sich der Verein 1942 vorläufig auflöste.
Unter dem Decknamen Dr. Max (M: Marie, A: Anne, X: Unbekannt) hatte Tellegen eine führende Rolle erst in Utrecht und Umgebung, später landesweit. Sie fühlte sich dem nicht-militärischen bürgerlichen Widerstand zugehörig, dem Eintreten für geistige Werte mit Betonung auf gewaltlosem Widerstand. Sie sah den Widerstand nicht als eine Gruppe an, der neben der „legalen“ Welt existierte, sondern setzte sich dafür ein, den Widerstandsgedanken bei so vielen Menschen wie irgend möglich zu verbreiten, es sollte ein Netzwerk entstehen, auf das sie sich verlassen konnten, das ihnen aber auch rechtzeitig Informationen über geplante Aktionen der Besatzer verschaffen konnte, die dann möglichst zu verhindern waren.
Anfangs engagierte sie sich im Utrechts Kindercomité, das versuchte, jüdische Kinder zu verstecken, sie vor allem aus Amsterdam herauszubringen, wo zahlreiche Razzien stattfanden. Bei FreundInnen und Familienmitgliedern bat sie um finanzielle Unterstützung und Unterbringung von jüdischen Kindern. Vielen konnte sie zu einer neuen Identität verhelfen, wobei ihre Kontakte zum Rathaus und vor allem zum Einwohnermeldeamt eine wesentliche Rolle spielten. Dort konnten z.B. Personenkarten entfernt und durch fingierte ersetzt werden, Kinder konnten von den Karten ihrer Eltern genommen und auf die von Pflegeeltern umgeschrieben werden. So wurden fast 400 jüdische Kinder und 50 Erwachsene vor dem Transport in die Durchgangslager Vught und Westerbork gerettet.
Eine wichtige Rolle spielte Tellegen auch bei der Flucht der österreichischen Violinistin Alma Rosé, der späteren zeitweiligen Leiterin des Frauenorchesters in Auschwitz, mit der sie während deren Zeit in Utrecht befreundet war. Einmal gelang es Tellegen noch, sie nach einer Verhaftung frei zu bekommen, aber nach dem Aufruf, sich im Durchgangslager Westerbork zu melden, blieb ihr nur die Möglichkeit der Flucht. Marie Anne Tellegen plante ihre Fluchtroute in die Schweiz, Rosé wurde jedoch in Frankreich aufgegriffen und schließlich nach Auschwitz gebracht, wo sie starb.
Später engagierte sich Tellegen auch noch in anderen Widerstandsgruppen; so war sie z.B. eine Zeitlang an der Verbreitung der Widerstandszeitung Vrij Nederland beteiligt. 1944 wurde sie in die Leitung des Nationaal Comité van Verzet (Nationales Komitee des Widerstands) gebeten. In dieser Position spielte sie eine führende Rolle beim allgemeinen Eisenbahnstreik, eine der wichtigsten Aktionen des Widerstandes während der Besetzung durch die deutschen Faschisten.
Ende 1944 entging Anne Marie Tellegen nur knapp einer drohenden Verhaftung, indem sie exakt einen Tag vorher in Amsterdam untertauchte. Und es ist erstaunlich, dass diese erst so spät erfolgen sollte, aber lange Zeit wurden sie und ihre Mitbewohnerin Janneke Schwartz als „zwei ganz uninteressante Damen“ abgetan. Hilfreich war auch, dass in dem Haus, dem sie wohnten, ein Institut für Heilgymnastik war, so dass bei dem Publikumsverkehr nicht auffiel, wie viele Menschen zu ihnen kamen.
Anne Marie Tellegen hatte sich immer schon für Frauen im Widerstand stark gemacht, die ihrer Meinung nach nicht den Platz bekamen, den sie ihren Fähigkeiten nach hätten haben sollen; sie wollte, dass der Einfluss der Frauen größer würde und nutzte ihre Kontakte zu Frauen im ganzen Land. Es ging ihr dabei nicht nur um die Rolle der Frau während der Besetzung des Landes, sondern gerade auch um die Zukunft in den befreiten Niederlanden. Als Zentrale gründete sie 1944 das Nederlandsche Vrouwen Comité (Niederländisches Frauenkomitee), mit dem sie versuchte, die unterschiedlichsten Strömungen zusammen zu bringen und in dem sie mit zahlreichen Frauen zusammenarbeitete, die sie aus dem Widerstand kannte.
Nach dem Krieg wandte Tellegen sich gleich wieder anderen Aufgaben zu. So war sie an den anschließenden Säuberungen von Gemeinde, Polizei, Betriebsleben und der Utrechter Universität beteiligt. Dort wurde sie 1946 als erste Frau ins Kuratorium aufgenommen, in dem sie bis 1964 blieb.
Auf Anraten aus Widerstandskreisen wurde Tellegen bereits im Juli 1945 von Königin Wilhelmina empfangen, und keine zwei Monate später wurde sie – als ausgesprochene Republikanerin - zum „Direktor des Kabinetts der Königin“ ernannt, eine Position, in der sie großen Einfluss hatte, zuweilen wurde sie daher als „ungekrönte Königin“ bezeichnet. Nach der Befreiung des Landes sahen die beiden Frauen neue Zeiten anbrechen, alles sollte anders werden. Ihnen war die Erneuerung der Mentalität und der Lebenshaltung des Volkes wichtig, dem stand jedoch dessen weitgehende Apathie entgegen. Aber beiden war die Erneuerung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung des Landes zu dieser Zeit wichtig, wobei ihnen Frauen sehr willkommen waren.
Tellegen blieb der Frauenbewegung auch weiterhin treu. So spielte sie eine wichtige Rolle bei der Neugründung des VVAO 1945, bei der sie zum Ehrenmitglied ernannt wurde. Auch sorgte sie hinter den Kulissen immer wieder dafür, dass Frauen in bestimmte Funktionen kamen.
Nach ihrer Pensionierung 1959 wandte sich Tellegen wieder ihrer alten Liebe zu: dem Werk der niederländisch-schweizerischen Schriftstellerin Belle van Zuylen, auch bekannt unter dem Namen Isabelle de Charrière, deren Briefe sie bereits 1933/34 aus dem Französischen übersetzt hatte.
Das Archiv von Marie Anne Tellegen befindet sich heute im Amsterdamer Archiv für Emanzipation und Frauengeschichte Atria.
(Text von 2016)
Verfasserin: Doris Hermanns
Literatur & Quellen
Literatur über Marie Anne Tellegen:
Weenink, W.H.: Vrouw achter de troon. Marie Anne Tellegen 1893-1976. Amsterdam, Boom, 2014
Vermeij, Roos: Groet Zwaantje. Enkele brieven van Marie Anne Tellegen aan An Maas. In: Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis 15: Sekse en oorlog. Amsterdam, St. beheer IISG, 1995, p. 162-172
Vermeij, Roos: De “vrouwendingen” van mej. Mr. M.A. Tellegen. Leiden, Rijksuniversiteit, 1992 (Dissertation)
Mineke Bosch über Marie Anne Tellegen: In: Biografisch Woordenboek van Nederland 6
In: Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland (2014)
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