Biographien Luise Straus-Ernst
(Luise Amelie Straus (Geburtsname); Lou Straus-Ernst/Louise Straus)
geboren am 2. Dezember 1893 in Köln
gestorben 1944 in Auschwitz (Oświęcim/Polen)
deutsche Kunsthistorikerin, Journalistin und Autorin
130. Geburtstag am 2. Dezember 2023
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Luise Straus-Ernst, eine der ersten promovierten Kunsthistorikerinnen Deutschlands, vereinte 1919, im Tabula-Rasa-Taumel der Nachweltkriegsspanne, im Grunde Unvereinbares: Kommissarisch leitete sie das traditionsbewusste Kölner Wallraf-Richartz-Museum und zugleich avancierte sie zu einer zentralen Figur der antibourgeoisen Kölner Dada-Bewegung. Mit ungestelzten Kunst- und Theaterkritiken sowie außergewöhnlichen Reportagen avancierte sie bald darauf zu einer vielgepriesenen Instanz des Kulturjournalismus der Weimarer Republik. 1933 floh sie wegen rassischer Verfolgung nach Frankreich, wo ihr – vor ihrer Deportation nach Auschwitz – ein zögerlicher Neubeginn glückte und sie eine bemerkenswerte Autobiografie zu Papier brachte.
»…woher kommt diese Unruhe in meinem Blut?«: Aufbruchsstimmung
Kaum 48-jährig unterzog sich Luise Straus-Ernst in ihrer Autobiografie »Nomadengut« einer Selbstanalyse: »…woher kommt diese Unruhe in meinem Blut? Niemand in meiner Familie hat sich ernstlich gegen die Konventionen aufgelehnt – außer mir.« (Louise Straus-Ernst, 1941/42, S. 11; nachfolgend zitiert als LS).
Ihre Angst vor Stillstand und ihr Aufbegehren gegen verkrustete Konventionen bildeten die Triebfedern ihrer – genderhistorisch – ungewöhnlichen Karriere: 1916, mit knapp 23 Jahren wurde sie in Bonn als eine der ersten Frauen des deutschen Kaiserreiches im Fach Kunstgeschichte promoviert. Drei Jahre später übernahm sie die Leitung eines der damals arriviertesten Museen Deutschlands, des Kölner Wallraf-Richartz-Museums. Seit 1916 stand sie hier als sog. »wissenschaftliche Hilfsarbeiterin« auf der Gehaltsliste, doch wurde sie zunächst von ihrem erzkonservativen Chef Josef Poppelreuter zum »kleine(n) Mädchen mit großem Schlüsselbund« (LS, S. 39) degradiert, d.h. primär zu Sekretärinnen- und Hausmeisterinnenjobs verdammt. Nur ausnahmsweise durfte sie Ausstellungen kuratieren oder wissenschaftliche Texte formulieren.
Als Poppelreuter im Februar 1919 starb, rutschte sie wegen ihres enormen Wissens um die Sammlungsbestände in die Leitungsposition – gleichwohl nur kommissarisch, da den zuständigen Gremien eine mit allen Direktiven ausstaffierte Frau unvorstellbar schien. Auf eigenen Wunsch kehrte Straus-Ernst der hehren Stätte schon Ende 1919 den Rücken. Ob ihre Schwangerschaft sie zu diesem Schritt bewog – für Juni 1920 hatte sich Sohn Hans-Ulrich, gen. Jimmy, angekündigt – oder ob ihr ihre außermusealen Aktivitäten Probleme bereiteten, ist strittig. Als Schriftführerin der radikal-modernen, 1918 gegründeten »Gesellschaft der Künste«, die etablierte Museen zu »Begräbnisplätzen toter Kunst« (vgl. Herzogenrath 1980) erklärte und obendrein als zentrale Figur der antibürgerlichen Kölner DADA-Bewegung, in deren Annalen sie als »Armada von Duldgedalzen« bzw. »Rosa Bonheur des Dada« eingehen sollte, hatte sie gleichwohl mehrfachen Grund, mit den standesdünkelnden Verantwortlichen des Wallraf-Richartz-Museum zu hadern.
»In Wahrheit habe ich immer Angst gehabt«: Bürgerliche Fesseln
Zeitlebens war Luise Straus-Ernst innerlich zerrissen. Vordergründig setzte sie sich mühelos über damalige (Gender-)Normen hinweg. Tatsächlich aber konnte sie sich von den rigiden Fesseln ihres Herkunftsmilieus niemals vollständig befreien: Ihre obrigkeitshörigen Eltern Charlotte und Jacob Straus, MitinhaberInnen der Kölner Hutfabrik Löwenstern & Straus, waren monarchieergeben und benannten ihre erstgeborene Tochter nach der preußischen Königin Luise. Mutter Charlotte – der Vater war als Bezugsperson nicht greifbar – wünschte ihrer Tochter eine klassische Ehefrauen- und Mutterexistenz (LS, S. 38) und war von Luises vielfältigen, sich früh abzeichnenden intellektuellen Interessen wenig begeistert.
Der mangelnde familiäre Rückhalt verunsicherte die kleine, ehrgeizige Luise massiv und legte den Grundstein für lebenslange Selbstzweifel. Zwar wusste sie als Erwachsene um ihre Talente, erfreute sich an »Neugier, Spürsinn, knappe(m) und scharfe(m) Urteil” (LS, S. 55). Doch fahndete sie zeitgleich voller Verve nach vermeintlichen, dem konventionellen Frauenideal widersprechenden Defiziten: Ich habe das nie recht begriffen. Was fanden all diese Menschen an mir? Ich war nicht schön, auch nicht gerade abstoßend hässlich, aber doch gar nicht dekorativ, klein und etwas zu rundlich. Ich war auch nicht elegant. (LS, S. 108).
Selbst im beruflichen Höhenflug entblößte sie bereitwillig Schattenseitiges: Ihre vielerorts zitierte Stärke sei in Wahrheit reine Fassade:
Was ist denn mit meinem berühmten Mut (…). In Wahrheit habe ich immer Angst gehabt (LS, S. 24).
»Ich bin nun mal keine Hausglucke«: Max Ernst
Die stete Sorge, wegen eines allzu selbstbestimmten Lebensstils ins soziale Abseits zu entgleiten, animierte Luise Straus-Ernst in ihrer Ehe mit dem Künstler Max Ernst (1891-1976) zur bedingungslosen Unterordnung: »…drei Jahre nur für Martin (d.i. Max Ernst, A.B.) und das Kind gelebt« (LS, S. 40). Sie stellte alle persönlichen Bedürfnisse zurück. Sogar die Buchlektüre passte sie dem Geschmack ihres Mannes an. »Das war vermutlich falsch. Ich bin nun einmal keine Hausglucke« (LS, S. 40).
In ihrer Autobiographie widmete sie Max Ernst, den sie 1913 in einem Zeichenkurs an der Bonner Uni kennenlernte, fünf Jahre später heiratete und 1922 wegen dessen Beziehung zu Gala Éluard verließ, zahllose Passagen. Umgekehrt würdigte Ernst seine erste Ehefrau – es folgten drei weitere – in seinen Memoiren mit einem unterkühltem Einzeiler: »Heiratet Luise Strauß (sic!), damals stellvertretender Geschäftsleiter des Wallraf-Richartz-Museums in Köln« (zit. n. Weissweiler 2016, S. 81).
Dass ihm die Benennung ihrer beruflichen Position relevanter schien als die korrekte Schreibweise ihres Namens, animiert zu Trugschlüssen: Der Ausbildung seiner Angetrauten schenkte Max Ernst im Ehealltag erschreckend wenig Beachtung: Gespräche über Kunst, erst recht über die eigene, mied er mit der promovierten Kunsthistorikerin tunlichst. Primär nahm er sie, trotz Maja Aretz, der Haushälterin, als Hausfrau wahr. Kochen sollte sie und geladene Gäste umsorgen.
Außerdem sollte sie das sog. Dadahaus (LS, S, 98) – ihre gemeinsame, erdrückend bürgerlich möblierte Wohnung am Kölner Kaiser-Wilhelm-Ring, die zum Dreh- und Angelpunkt der Kölner Dada-Szene avancierte – staubfrei halten. Das kleinste hausfräuliche Missgeschick, jede zerbrochene Tasse, jeder fehlpositionierte Pantoffel versetzte Max Ernst, den vermeintlichen Bürgerschreck, in Rage (LS, S. 82/83). »Seltsamerweise«, bestätigte Sohn Jimmy, sei »der Geist der Rebellion gegen die Normen der verhassten Bourgeoisie nicht sehr tief in das Privatleben« (Ernst 1985, S. 30) seines Vaters und seiner Mit-Dadaisten eingedrungen. Zwar ließ Max Ernst – ähnlich wie sein Mit-Dadaist Jean Arp – den Löwenanteil des Einkommens von seiner Gattin erwirtschaften, und sei es als Strumpfverkäuferin im Kaufhaus Tietz – doch behielt er, wie Jimmy Ernst unterstrich, alle profitablen »männlichen Privilegien des Familienlebens« (Ernst 1985, S. 30) wie selbstverständlich bei.
»Was war das für eine wunderbare, ausgefüllt(e) Zeit«: Köln (1926-33)
Straus-Ernst schätzte es nicht sonderlich, von ihren FreundInnen zur »tapfere(n) kleine(n) Frau« (LS, S. 33) stilisiert zu werden: Ihre sagenumwobene Energie fuße einzig auf ihrer »Angst vor dem Verhungern«: Seit 1922, dem Trennungsjahr von Max Ernst, hatte sie sich, physisch wie psychisch schwer lädiert, allein mit Sohn Jimmy durchzuschlagen. Angesichts der grassierenden Hyperinflation waren Jobs für KunsthistorikerInnen rar gesät, und so hielt sie sich mit einer Reihe von Aushilfsjobs über Wasser. Nebenher begann sie, in treffsicherer, schnörkelloser Sprache und mit steigendem Erfolg Kunst-, Konzert- und Theaterkritiken zu verfassen.
Als sie sich über die »sinnlos aufgeklebten Fassaden« (LS, S. 53) der Düsseldorfer GesoLei-Bauten (1925-26) des konservativen Architekten Wilhelm Kreis‘ echauffierte, wurde der Herausgeber der liberalen »Dresdner Neuesten Nachrichten« auf sie aufmerksam und beauftragte sie mit der regelmäßigen Produktion von Theaterkritiken. Seit 1927 war sie außerdem für die Rheinland-Kunstberichterstattung der Berliner Vossischen Zeitung zuständig. Parallel schrieb sie u.a. für »Querschnitt«, »Kunstblatt« sowie »Deutsche Kunst und Dekoration«, hielt Vorträge für Kultureinrichtungen und konzipierte Beiträge für Rundfunkanstalten, die sie stets höchstpersönlich im Radio vortrug. Alle Geldsorgen schienen begraben; die leidenschaftliche Karnevalistin feierte endlich wieder ausgiebig und machte ihre wechselnden Wohnungen erneut zu begehrten Treffpunkten illustrer Zirkel, zu denen u.a. Bertolt Brecht und Hanns Eisler gehörten. »Was war das für eine wunderbare, ausgefüllt(e) Zeit!«, resümierte sie. »Ich brauchte mich um Arbeit gar nicht zu bemühen. Sie flog mir nur so ins Haus« (LS, S. 54).
»Lobesworte…, die ich gar nicht erwartet hatte«: Texte gegen Diskriminierung
Straus-Ernst glänzte nicht allein mit messerscharfen Kunst- und Theaterkritiken, sondern – wie sie es scherzhaft nannte – auch mit »richtige(m) Journalismus« (LS, S. 55), d.h. mit Reportagen. Unter jenen Beiträgen, die ihr »Lobesworte« einbrachten, die sie »gar nicht erwartet hätte« (LS, S. 55), stachen u.a. zwei Texte hervor, die im Berliner Zeitgeistmagazin »Querschnitt« erschienen: Der »Zug durch das dunkle Köln« (1929) ist als frühes Toleranz-Plädoyer einer Heterosexuellen gegenüber Homosexuellen lesbar. Und auch »Die Mädchen von Düsseldorf« (1930) setzten sich vom Mainstream ab: Der Artikel näherte sich dem medial überrepräsentierten Serienmörder Peter Kürten aus ungewohnter Perspektive, da er explizit nicht den Täter, sondern dessen weibliche Opfer ins Zentrum rückte.
Straus-Ernsts Engagement für eine frauenfreundlichere Welt zählt zu ihren hartnäckigsten Konstanten: Besonders angetan zeigte sie sich beispielsweise auch von einer ausschließlich Frauen zugedachten Wohnhausgruppe, die 1929/30 in Frankfurt/Main von der »Siedlungsgenossenschaft berufstätiger Frauen« errichtet wurde. Das Projekt faszinierte sie so sehr, dass sie nicht bloß in Erwägung zog, dort zu wohnen, sondern obendrein ihren ersten Roman »Männer im Hintergrund« ebenda ansiedelte. Im Frühjahr 1933 vollendet, in einem Moment, da ihrer Formulierung nach »in Deutschland die Frauen als selbständige und gleichberechtigte Wesen jede Bedeutung verloren« (LS, S. 175) hatten, fand sie jedoch keine VerlegerInnen für den Roman.
Zwar definierte sich Straus-Ernst als unpolitisch, doch engagierte sie sich konstant für Minderprivilegierte, insbesondere für übersehene KünstlerInnen. Ihre enge Freundin, die Malerin Marta Hegemann zählte zu ihren frühesten Schützlingen. Und auch »Mutter Ey«, die wohl bekannteste Förderin damaliger moderner Kunst im Rheinland, konnte stets auf die tatkräftige Unterstützung der Kunstpublizistin bauen. Parallel schrieb Straus-Ernst neben Max-Herrmann Neiße für die »Kölner Woche«, eine Zeitschrift des Kölner Obdachlosenasyls, und wandte sich in vielen Texten gegen den erstarkenden Antisemitismus, obschon sie – trotz allen Stolzes auf ihre jüdischen Wurzeln (Ernst 1985, S. 102) – ausgesprochen unreligiös war: Sie besaß rundweg »ernste Vorbehalte gegenüber der organisierten Religion« (Jimmy Ernst 1985. S. 102).
»So lange wir unseren Adenauer haben, kann uns nichts geschehen«: Frankreich
1933 feierte Luise Straus-Ernst ein letztes Mal Karneval, obwohl der Reichskanzler inzwischen Adolf Hitler hieß und sich antisemitische Übergriffe bedrohlich mehrten. »So lange wir unseren Adenauer haben, kann uns nichts geschehen« (Ernst 1985, S. 107), tröstete sie Sohn Jimmy. Als sich immer mehr AuftraggeberInnen von ihr distanzierten, SS-Leute ihre Wohnung durchwühlten und Oberbürgermeister Adenauer seinen Platz im Rathaus räumte, entschloss sie sich vorübergehend in ihre Traumstadt Paris zu gehen – ein Schritt, der sie mit gemischten Gefühlen erfüllte: »in Schrecken und Trauer mischte sich nun ein heimlicher, kaum eingestandener Jubel … es kam etwas Neues« (LS, S. 13). Sohn Jimmy, bald 13 Jahre alt, sollte vorerst in Köln bei ihrem Vater bleiben.
In Paris angekommen, wurde Straus-Ernsts Vorfreude brachial gedämpft: Die Stadt erstickte an deutschen Geflüchteten. Einen Job, geschweige denn eine offizielle Arbeitserlaubnis zu erhalten, schien unmöglich. Sie biss sich mit Aushilfsjobs, Nachhilfestunden, Babysitten und Buchhaltungsposten durch. Im Juli 1933 nahm sie wortlos die Nachricht vom Tod ihres Bruders Richard entgegen. Aus Panik vor den Nazis hatte er sich in den Freitod gerettet, während Vater Jacob – Mutter Charlotte war bereits 1919 verstorben – in erdrückende Resignation versank. Viele ihrer niederschmetternden Erlebnisse verarbeitete Straus-Ernst in ihrem Fortsetzungsroman »Zauberkreis Paris« (1934/35), einer Auftragsarbeit für die deutschsprachige Exilzeitung »Pariser Tageblatt«. Unter wechselnden Pseudonymen fertigte sie für das Blatt einen ganzen Stapel von Artikeln, die u.a. das Frauenbild des Nationalsozialismus angriffen.
Nebenher schrieb sie für Schweizer Organe wie die Neue Zürcher Zeitung, und verfasste Kurzgeschichten, die ihre Biographin Eva Weissweiler für beschämend lange unterschätzte »kleine Meisterwerke« (Weissweiler 2016, S. 261) hält. Verstärkt entstanden jetzt auch Reiseberichte, z.B. zu ihrer 1936 gestarteten, monatelangen Griechenlandreise. 1938/39 verlagerte sie ihren Lebensschwerpunkt gemeinsam mit Fritz Neugass (1899-1979), ebenfalls Kunsthistoriker und Publizist, und seit 1933 ihr sporadischer Lebensgefährte, an die Côte d’Azur, wo sie in einem Autobus vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erfuhr (LS, S. 94).
»Interniert zu sein kann nicht schlimmer sein als das Gefühl des Ausgestoßenseins, das wir während der letzten Wochen dauernd hatten« (zit. n. Weissweiler 2016, S. 329) beruhigte sich Luise Straus-Ernst. Seit Kriegsausbruch galten alle in Frankreich lebenden Deutschen als »feindliche AusländerInnen«. Seit Herbst 1939 wurden deutsche Männer in Lagern zusammengepfercht und seit Mai 1940 folgten nun die Frauen, unter ihnen die Philosophin Hannah Arendt, die Künstlerin Charlotte Salomon und die Fotografin Ilse Bing.
Luise Straus Ernst schien die französische Internierungspolitik völlig abstrus: »Mit welcher Berechtigung sperrte man Antifaschisten, Sozialisten, Juden gemeinsam mit den Nazis ein, nur weil die Einen wie die Andern in Deutschland geboren waren?« (LS, S. 199). Wenige Tage nachdem sie im »Camp de Gurs«, dem nahe der spanischen Grenze aus dem Boden gestampften Barackenlager eintraf, erlitt sie wegen der dortigen katastrophalen Bedingungen einen Zusammenbruch. Fritz Neugass gelang es jedoch, sie dank seiner einschlägigen Militärkontakte relativ rasch, im Juni 1940, zu befreien.
»Wie wird es enden?«: Zwischen Hoffen und Bangen
Auf der Flucht vor dem deutschen Besatzungsregime in Nordfrankreich machte sich Luise Straus-Ernst im Oktober 1941 auf den Weg zu ihrer vorletzten Lebensstation, in ein Hotelzimmer im provençalischen 6000-Seelen-Bergdorf Manosque. Drei Jahre wartete sie damals bereits auf ein Visum für die USA, wo Sohn Jimmy seit 1938 und Ex-Mann Max Ernst seit 1941 lebten. Ob Straus-Ernst die mehrfach angekündigte Einreisegenehmigung tatsächlich nie erhielt oder schlicht nicht abholte, ist strittig.
Spätestens in Manosque begann sie ihre Autobiografie niederzuschreiben. Wegen des durchlittenen Verlustes jeglichen Heimatgefühls »Nomadengut« betitelt, spiegelt das posthum publizierte, über 200 Seiten lange Manuskript ihren kräftezehrenden Kampf zwischen Hoffen und Bangen. »… ich habe Angst, seit Monaten schon (…). Wie wird es enden?« (LS, S. 23), gestand sie, um dennoch niemals vollends zu resignieren: »oft zurückgeworfen, doch nie entmutigt« (LS, S. 210). Mehr als zwanzig Jahre nach Straus-Ernsts Ermordung – sie wurde am 28. April 1944 in ihrem Hotel in Manosque verhaftet und über Drancy ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert – entbrannte anlässlich des 75. Geburtstages ihres Ex-Mannes Max Ernst eine erbitterte Kontroverse darüber, ob der weltbekannte Künstler zu wenig zu ihrer Rettung beigetragen habe. Sohn Jimmy schlichtete den Streit mit der Behauptung, sein Vater habe seiner Mutter für das Visum eine erneute Heirat angeboten; sie habe jedoch abgelehnt (vgl. Ernst 1985, S. 332).
Nach heutigem Forschungsstand scheint diese Behauptung eher unwahrscheinlich (vgl. Weissweiler 2016, S. 342ff.). »Während ich schreibe, sitzen Flüchtlinge aus vielen Ländern an allen Ecken der Welt … Es trifft sie das grauenhafte Schicksal, dass sie fast in allen Gastländern wiederum mit Misstrauen zu kämpfen haben, wenn nicht gar neuen Verfolgungen ausgesetzt sind« (LS, S. 107), bilanzierte Straus-Ernst bereits 1941. Welche Aktualität dieser Satz im Europa des 21. Jahrhunderts gewinnen würde, ahnte sie glücklicherweise nicht.
Verfasserin: Annette Bußmann
Zitate
Tatsache ist, dass ich in meinem Gepäck etwas habe, das mir Flügel gibt – immer einen Drang, zu sehen in Erwartung des noch nie Gesehenen. Es ist ein Appetit auf Abenteuer und eine ewige Neugier, das unerschöpfliche, edle Los des Nomaden ….
(Luise Straus-Ernst, o.J., zit. n. Ernst 1985, S. 386)
Sie war wirklich eine ungewöhnliche Frau, sie genoss ihren persönlichen und beruflichen Erfolg ohne Überheblichkeit. Dass sie es schaffte, auf eigenen Füßen zu stehen, ein Kind und ein glückliches Zuhause zu haben, als gleichwertig unter ihren meist männlichen Kollegen zu gelten und sich die respektvolle Aufmerksamkeit der Intellektuellengemeinde zu bewahren, darauf war sie sehr stolz.
(Jimmy Ernst, zit. n. Ernst 1985, S. 58/95)
Links
Bussmann, Annette: »Was fanden all diese Menschen an mir?« Zum 120. Geburtstag der Kunsthistorikerin und Journalistin Luise Straus. David - Jüdische Kulturzeitschrift, Ausgabe 99, 12/2013.
Online verfügbar unter http://davidkultur.at/artikel/8222was-fanden-all-diese-menschen-an-mir8220-zum-120-geburtstag-der-kunsthistorikerin-und-journalistin-luise-straus, zuletzt geprüft am 23.11.2018.
WebCite®-Archivfassung: http://www.webcitation.org/6heXQnRV4.
Funck, Gisa (2012): Die erste Ehefrau von Max Ernst. Deutschlandfunk, 05.06.2012.
Online verfügbar unter http://www.deutschlandfunk.de/die-erste-ehefrau-von-max-ernst.700.de.html?dram:article_id=207996, zuletzt geprüft am 23.11.2018.
WebCite®-Archivfassung: http://www.webcitation.org/6heVbierM.
Germanisches Nationalmuseum: Die Gesichter des deutschen Kunstarchivs – Straus-Ernst, Louise.
Online verfügbar unter http://gesichter-des-dka.gnm.de/content/mdc_person9962, zuletzt geprüft am 23.11.2018.
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Pech, Jürgen: Luise Straus (1893-1944), Kunsthistorikerin und Journalistin. Biografie, mit Literatur- und Linkhinweisen.
Online verfügbar unter http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/S/Seiten/LuiseStraus.aspx, zuletzt geprüft am 23.11.2018.
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Literatur & Quellen
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Weissweiler, Eva (2016): Notre Dame de Dada. Luise Straus-Ernst – das dramatische Leben der ersten Frau von Max Ernst. 1. Auflage. Köln. Kiepenheuer & Witsch. ISBN 978-3-462-04894-0. (Amazon-Suche | Eurobuch-Suche | WorldCat-Suche)
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