(Elisabeth Grün [Geburtsname])
geboren am 3. Februar 1904 in Wien, Österreich
gestorben (ermordet) am 1. Juni 1942 in Maly Trostinec, Weißrussland
österreichisch-jüdische Schauspielerin und Schriftstellerin
120. Geburtstag am 3. Februar 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Die als ›Grande Dame‹ der österreichischen Literatur verehrte Schriftstellerin und Journalistin Hilde Spiel wies bereits in ihrem 1976 publizierten literaturgeschichtlichen Grundlagenwerk Die zeitgenössische Literatur Österreichs kurz, aber explizit auf ihre einstige Schriftstellerkollegin und zeitweilige Wiener Weggefährtin Lili Grün hin. Im Rahmen ihres Einführungskapitels „Die österreichische Literatur nach 1945“ erinnerte sie an die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung zahlreicher ihrer schreibenden ZeitgenossInnen während der dunklen Jahre der NS-Okkupation Österreichs, darunter auch „LILI GRÜN […], ein rührendes Mädchen, das mit seinem zarten Roman Herz über Bord zum erstenmal [sic!] in dem fatalen Jahr 1933 hervortrat. Ihre Lebensgeschichte bliebe im dunkeln [sic!], und sie wäre vom Erdboden weggewischt, als hätte es sie nie gegeben, würde ihrer hier nicht Erwähnung getan.“
Trotz Hilde Spiels expliziter „Erwähnung“ sollten Leben und Werk Lili Grüns jedoch weiter „im Dunkeln“ bleiben. Ihr Name fand nachfolgend nur selten Eingang in die wissenschaftlichen Nachschlagewerke zur deutschsprachigen Literatur. Die nahezu weitere zwanzig Jahre danach erschienenen ersten längeren bio-bibliographischen Beiträge zu ihrer Person, auf die spätere Lexika-Einträge meist rekurrieren, sind überdies wenig befriedigend, das heißt rudimentär bzw. lückenhaft. Da von der 1942 durch die Nationalsozialisten gewaltsam zu Tode gekommenen und heute weitgehend unbekannten und ‚vergessenen‘ österreichisch-jüdischen Schriftstellerin und Schauspielerin Lili Grün zudem kein persönlicher Nachlass überliefert ist, sich lediglich ihre schmale Geschäftskorrespondenz mit dem Wiener Paul Zsolnay Verlag aus den 1930er Jahren erhalten hat, gestaltet sich die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte nunmehr als detektivische Herausforderung.
Lili Grün wurde am 3. Februar 1904 als Elisabeth Grün in Wien geboren. Sie wuchs als jüngstes von vier Kindern des aus Ungarn stammenden Bartbindenmachers Hermann (Ármin) Grün und seiner Wiener Frau Regine (Regina) im heutigen 15. Gemeindebezirk Rudolfsheim-Fünfhaus auf, einem seit der Gründerzeit vorwiegend proletarisch bis kleinbürgerlich geprägten ehemaligen Vorstadtbezirk. Bereits in jungen Jahren verlor Lili Grün ihre Eltern: Als sie 11 Jahre alt war, starb ihre Mutter überraschend an einem Hirnschlag; ihr Vater erlag, als sie 17 Jahre alt war, einem chronischen Nierenleiden, das er sich während seines Kriegsdiensts zugezogen hatte. Vor allem der Tod der geliebten Mutter markierte das abrupte Ende der bis dahin wohl recht behüteten, unbeschwerten Kindheit Lili Grüns. Den vermutlich als traumatisch erlebten Verlust suchte sie später wiederholt literarisch zu verarbeiten, indem sie die Protagonistinnen ihrer autobiographisch gefärbten Romane stets als Halb- oder Vollwaise zeigte, die ihrer plötzlich mutter- und damit lieblos gewordenen Kinderwelt beständig hinterhertrauern. Die nun elternlose, noch minderjährige Lili Grün wurde schließlich unter Vormundschaft gestellt.
Nach Abschluss der Volks- und Bürgerschule absolvierte die junge Grün zunächst eine kaufmännische Ausbildung zur Kontoristin – für sie wohl nur ein lästiger ‚Brotberuf‘, denn ihre leidenschaftliche Liebe galt offensichtlich von Kind an dem Theater. Vor allem ihr 1935 erschienener amüsanter Backstage-Roman Loni in der Kleinstadt (Zum Theater!), in dem Lili Grün die turbulenten Anfänge einer angehenden Schauspielerin vor und hinter den Kulissen einer kleinstädtischen Bühne schildert, legt nahe, dass sie die aufregende, bunte Welt des Theaters als tröstlichen Fluchtpunkt aus dem sie bedrückenden einsamen und tristen Dasein ihrer Kindheit und Jugend erlebte. Um ihren Traum von einer Karriere als Schauspielerin doch einmal realisieren zu können, spielte die theaterbegeisterte Grün neben ihrer Tätigkeit als Kontoristin beständig kleine Rollen an Wiener Bühnen und nahm wahrscheinlich auch privaten Schauspielunterricht bei einem älteren und erfahrenen Schauspieler. Möglicherweise debütierte sie sogar, wie in Loni in der Kleinstadt (Zum Theater!) dargestellt, über ein Anfängerin- oder Gastspiel-Engagement an einem der damals zahlreichen deutschsprachigen Theater in der tschechischen Provinz. In den 1920er Jahren schließlich spielte Lili Grün im ‚Roten Wien‘ an der neugegründeten Bühne der Sozialistischen Arbeiterjugend. Der von ihr so ersehnte Durchbruch zur erfolgreichen und viel bewunderten Schauspielerin blieb ihr damals aber offenbar versagt.
Angezogen vom Glanz und Glamour der Kulturmetropole Berlin verließ Lili Grün Ende der 1920er Jahre ihre Heimatstadt Wien. In Berlin gehörte sie schnell zur umtriebigen Künstler- und Kreativen-Szene jener Zeit. Als die erhofften Angebote von Theater und Film ausblieben, schloss sie sich im Frühjahr 1931 ohne Geld zwar, aber mit viel Idealismus mit einigen linksgesinnten KünstlerfreundInnen, darunter Julian Arendt, Ernst Busch, Hanns Eisler, Annemarie Hase und Erik Ode, im politisch-literarischen Kabarett-Kollektiv „Die Brücke“ zusammen. Für die Kabarettbühne, so für „Die Brücke“, aber möglicherweise auch für andere Kabaretts, waren wohl auch einige ihrer charmanten, frechen Gedichte und kleinen, bissig-anekdotischen Geschichten geschrieben, die Grün Ende der 1920er Jahre in renommierten Zeitungen und Zeitschriften wie „Berliner Tageblatt“, „Jugend“ (München) oder „Prager Tagblatt“ zu veröffentlichen begonnen hatte.
Zurück in Wien versuchte Lili Grün ihre Lungenerkrankung auszukurieren. Gleichzeitig verarbeitete sie ihre Erlebnisse rund um die schillernde Berliner Künstlerboheme in ihrem quirligen Kabarett-Roman Herz über Bord (Alles ist Jazz), der 1933 auf Empfehlung des bekannten österreichischen Romanciers und Zsolnay-Autors Robert Neumann vom Paul Zsolnay Verlag in Wien veröffentlicht wurde. Die Wiener Presse bejubelte Lili Grüns erfrischenden Debütroman und prophezeite der jungen Autorin eine erfolgreiche Zukunft. Noch im selben Jahr wurde sie, neben Hilde Spiel, für den Julius-Reich-Dichter-Preis vorgeschlagen. Übersetzungen ihres Erstlings ins Ungarische und Italienische folgten 1933 bzw. 1934.
Angesichts der rechtspolitischen Entwicklungen in Österreich verließ Lili Grün Wien im Oktober 1933 erneut. Begleitet von ihrem Lebensgefährten, dem Journalisten und Schriftsteller Ernst Spitz, ging sie via Prag nach Paris. Da sie ihre Lungenerkrankung bei ihrem Zwischenaufenthalt in Wien offenbar nur notdürftig auskuriert hatte und daher ständig kränkelte, konnte sie ihr neues Theater-Romanprojekt jedoch nicht wie geplant vorantreiben. Ihr miserabler Gesundheitszustand sowie ihre dramatische finanzielle Notlage zwangen sie schließlich, Anfang 1935 in ihre Heimatstadt zurückzukehren.
Eine vom Paul Zsolnay Verlag angestoßene Spendenaktion ermöglichte der lungenkranken Lili Grün im Frühjahr 1935 einen längeren Kuraufenthalt in einem Sanatorium in Meran. Danach konnte sie endlich ihren Theater-Roman Loni in der Kleinstadt (Zum Theater!) abschließen; auch ihr zweiter Roman wurde von der Literaturkritik anerkennend aufgenommen. Zuvor hatte sie vergeblich versucht, den Abdruck ihrer von Zsolnay abgelehnten Novelle Anni hat Unrecht in der deutschsprachigen Presse des In- und Auslands zu lancieren. Darüber hinaus veröffentlichte sie weiterhin regelmäßig Gedichte und Prosatexte in Zeitungen und Magazinen sowie 1936/37 ihren mutmaßlich letzten Roman Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit als Zeitungsabdruck.
Nach der nationalsozialistischen Besetzung Österreichs im März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin nahezu schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und lungenkrank blieb ihr auch die Emigration ins rettende Ausland verwehrt. Nach mehreren ‚Delogierungen‘ war sie zuletzt in einem ‚Massenquartier‘ für Juden und Jüdinnen im 1. Wiener Bezirk untergebracht. Am 27. Mai 1942 wurde Lili Grün aus Wien deportiert und noch am Tag ihrer Ankunft im weißrussischen Maly Trostinec am 1. Juni 1942 ermordet.
Seit Juni 2007 gemahnt in der Heinestraße 4 im 2. Wiener Gemeindebezirk ein „Stein der Erinnerung“ an das grausame Schicksal von Lili Grün. Im Mai 2009 wurde ein neugestalteter Platz im Bereich Klanggasse/Castellezgasse, ebenfalls im 2. Wiener Gemeindebezirk, nach ihr benannt. Im Herbst 2009 hat der Berliner AvivA Verlag gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Anke Heimberg begonnen, Lili Grüns Romane aus den 1930er Jahren neu aufzulegen sowie ihre unselbständig veröffentlichten Gedichte und Geschichten erstmals in Buchform gesammelt vorzulegen.
Verfasserin: Anke Heimberg
Literatur & Quellen
Werke
Herz über Bord. Roman. Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay Verlag, 1933. (Neuauflage unter dem Titel Alles ist Jazz. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin: AvivA Verlag, 2009. Als Hörbuch unter dem Titel Alles ist Jazz. Gelesen von Katharina Straßer. Wien: Mono Verlag, 2011.)
Loni in der Kleinstadt. Roman. Zürich: Bibliothek zeitgenössischer Werke, 1935. (Neuauflage unter dem Titel Zum Theater! Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin: AvivA Verlag, 2011.)
Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten. Gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin: AvivA Verlag, 2014.
Quellen
Budke, Petra/Jutta Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis 1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. Berlin 1995, S. 152 - 153. (Der andere Blick. Frauenstudien in Wissenschaft & Kunst).
Früh, Eckart (Hg.): Lili (Elisabeth) Grün. Wien 2005. (Spuren und Überbleibsel. Bio-Bibliographische Blätter; 61).
Hall, Murray G.: Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tübingen 1994, S. 182 - 186. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur; 45).
Heimberg, Anke: „Nachwort.“ In: Grün, Lili: Alles ist Jazz. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin 2009, S. 183 - 214.
Heimberg, Anke: „Nachwort.“ In: Grün, Lili: Zum Theater! Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin 2011, S. 184 - 212.
Heimberg, Anke: „Nachwort.“ In: Grün, Lili: Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten. Gesammelt, herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin 2014, S. 161 - 183.
Spiel, Hilde (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I. Aktualisierte Ausgabe [von 1976]. Frankfurt/M. 1980, S. 30. (Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart: Autoren. Werke. Themen. Tendenzen seit 1945; 5).
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