geboren am 26. Oktober 1900 in Göteborg
gestorben am 24. April 1941 bei Alingsås
schwedische Schriftstellerin
80. Todestag am 24. April 2021
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Die Menschen nennen sich “Mitsoldaten”, tragen alle die gleiche graue Uniform, leben und arbeiten - bis zur völligen Erschöpfung - in unterirdischen, künstlich belüfteten Industriestädten, ihre Kinder wachsen in Kinderlagern auf und ihre Freizeit verbringen sie bei staatlich verordneten Treffen, die ausschließlich der Einschwörung auf das Gemeinschaftsziel dienen. Das Privatleben beschränkt sich auf einen einmal wöchentlich gewährten “Familienabend”, der v.a. für die Zeugung von Nachkommen genutzt werden soll, und auch dabei werden sie noch von Polizeiaugen und -ohren überwacht. Nur einen Schwachpunkt hat dieser grauenvoll gründlich durchorganisierte “Weltstaat” des 21. Jahrhunderts - die Gedanken und Gefühle der “Mitsoldaten” entziehen sich der Kontrolle. Dem will der Chemiker Leo Kall abhelfen. Mit seiner Erfindung, der Wahrheitsdroge “Kallocain”, werden die Menschen dazu gebracht, unfreiwillig ihr Innerstes preiszugeben. Doch zur großen Enttäuschung des ängstlich um Gehorsam bemühten Erfinders kommen nicht die erwarteten Verschwörungspläne zu Tage, sondern lediglich einfache menschliche Bedürfnisse - Sehnsucht nach Liebe und Vertrauen, Schmerz um die verlorenen Kinder und vage Erinnerungen an eine lange untergegangene Welt, in der es Flüsse und Bäume und einen Sternenhimmel gab, der nicht vom Dröhnen der Militärflugzeuge erfüllt war.
Diesen zutiefst pessimistischen Zukunftsroman veröffentlichte die bis dahin als Lyrikerin bekannte Schwedin Karin Boye 1940 - neun Jahre vor George Orwells “1984” - im Gegensatz zu letzterem blieb ihr bahnbrechendes Werk im Ausland aber weitgehend unbekannt. Die in den 1920er Jahren in der sozialistischen Clarté-Bewegung aktive Schriftstellerin verarbeitete darin ihre enttäuschenden Eindrücke von einer Reise in die stalinistische Sowjetunion und ihr Grauen vor dem aufziehenden Nationalsozialismus, aber das Werk spiegelt auch ihr gespaltenes Verhältnis zur Psychoanalyse - das Unbehagen vor der Enthüllung des Inneren.
Ihr aufregendstes Lebensjahr verbrachte Karin Boye 1932 in Berlin - sie trennte sich von ihrem Analytiker, der vergeblich versucht hatte, sie von ihren “lesbischen Sünden” zu befreien, genoß das intellektuelle Klima der Stadt ebenso wie das Nachtleben in den einschlägigen Frauenkneipen wie “Eldorado” und “Silhouette”, hatte mehrere stürmische Liebesaffären und traf Margot Hanel, eine neunzehnjährige Berliner Bürgerstochter, die ihre Lebensgefährtin wurde. 1933 gingen die beiden Frauen zusammen nach Schweden, die Freundin war als Halbjüdin in Deutschland nicht mehr sicher, Boye verdiente den Lebensunterhalt als Lehrerin, veröffentlichte weiterhin Lyrik, in der sie sich u.a. mit dem Kampf um ihre lesbische Identität auseinandersetzte (z.B. das Gedicht “Bekenntnis”), und den Roman “Kallocain”. 40jährig nahm sie sich das Leben, wahrscheinlich aufgrund von Depressionen, an denen sie schon lange gelitten hatte. Margot Hanel folgte ihr einen Monat später freiwillig in den Tod.
Verfasserin: Andrea Schweers
Zitate
“Es ist, als ob du zwei Menschen wärst.” Signe Boye, Mutter
“Zwei? Nein, viele, viele Menschen!” Karin Boye, Tochter
Ich habe gerade ein wirklich großes Buch überstanden, unheimlich und faszinierend, aber die reine Folter.
(Kaj Bonnier, Karin Boyes schwedischer Verleger, nach Lektüre von “Kallocain”)
Bekenntnis Eigne mich nicht zum Aufrührer und bin doch gezwungen, es zu werden. Warum ist mein Schicksal nicht privat? Warum wühle ich darin? Oder: wenn ich doch kämpfen muß, warum geschieht es mit Plage? Warum nicht mit klingendem Spiel, wenn ich's schließlich - gezwungen - wage?
(aus Karin Boye: Bekenntnis. 1935)
Links
Gedichte von Karin Boye ins Deutsche übersetzt
Spiegel-Artikel über Karin Boyes Kallocain
Literatur & Quellen
Boye, Karin. 1992. Det hungriga ögat: Journalistik 1930-1936. Recensioner och essäer. Hg. Gunnar Ståhl. Stockholm. Legus.
Domellöf, Gunilla. 1986. I oss är en mångfald levande: Karin Boye som kritiker och prosamodernist. Stockholm. Almqvist & Wiksell. Wieser, Harald. “Eine Optimistin voller Angst”, in: Spiegel, Nr. 29, 1984. S. 123-127.
Garde, Pia. 1984. “Karin Boye in Berlin, oder: Versuch der Neubewertung einer zur Heiligen stilisierten lesbischen Schriftstellerin”, Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950. Geschichte, Alltag und Kultur. Ausstellungskatalog. 1984. Berlin. Fröhlich & Kaufmann. S. 200-204.
Wilson, Katharina M. 1991. An Encyclopedia of Continental Women Writers. 2 Bde. New York: London. Garland.
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