(Geburtsname: Käthe Löwenthal, 1. Ehename: Käthe Dampf, 2. Ehename: Karen Tripp)
geboren am 29. August 1923 in Bielefeld
gestorben am 24. März 1993 in London
deutsch-britische Dichterin und Schriftstellerin
30. Todestag am 24. März 2023
100. Geburtstag am 29. August 2023
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Mit dem zweiten Zug der Kindertransporte nach Großbritannien gelang es Käthe Löwenthal (die spätere britische Dichterin Karen Gershon), mit ihrer Schwester Lise Deutschland zu verlassen – ein Erlebnis, das den Rest ihres Lebens mitbestimmen sollte.
Bielefeld
Käthe Löwenthal war die dritte und jüngste Tochter der Künstlerin Selma Löwenthal (geb. Schönfeld) und des angesehenen Architekten Paul Löwenthal. Die Eltern spielten in der jüdischen Gemeinde eine bedeutende Rolle. Sie hatte zwei ältere Schwestern: Anne (geb. 1921) und Lise (geb.1922).
Bis 1930 lebte die Familie im Bielefelder Westen, zog aber nach dem Tod der Großmutter mütterlicherseits in den Außenbezirk Brackwede in die Nähe des verwitweten Großvaters, musste aber vier Jahre später in eine billigere Wohnung in der Stadt ziehen. Dort war ihr Leben sehr von den zunehmenden Einschränkungen gegen Juden und Jüdinnen geprägt, vor allem davon, dass der Vater keine Aufträge als Architekt mehr bekam.
In ihrer Autobiografie Das Unterkind erzählt sie ausführlich von ihrer Kinderzeit an den beiden ersten Wohnorten und beschreibt die zunehmenden Diskriminierungen und den zunehmenden Hass. Letztendlich mussten sie und ihre Schwester Lise auch die evangelische Sarepta-Schule verlassen, die sie bis dahin besucht hatten. Während ihre Schwester als Lehrling zu einer Näherin kam, konnte Käthe Löwenthal die Luisenschule besuchen. Dort war es vor allem ein guter Deutschlehrer, der ihre Sensibilität für die deutsche Sprache förderte. Bereits während ihrer Schulzeit konnte sie erste Gedichte in der Jüdischen Rundschau veröffentlichen.
Im Dezember 1938 konnten Käthe und Lise Löwenthal mit einem Kindertransport nach Großbritannien fliehen. Wie alle anderen auch, durfte sie nur einen Koffer und zehn Reichsmark mitnehmen.
Wie sie später in ihrem Gedicht „Der Exodus der Kinder“ (in: Mich nur zu trösten bestimmt) festhalten sollte:
I
Es war ein ganz normaler Zug
Der damals quer durch Deutschland fuhr
Der uns aufnahm und verschickte (…)
II
Beim Abschied wußten unsere Eltern
wer daheim blieb mußte sterben
die Wahrheit sagten sie uns nicht
sie übergaben uns der Welt (…)
Ihre Eltern wurden 1941 nach Riga deportiert und sollten den Holocaust nicht überleben. In ihrem bekanntesten Gedicht „I Was Not There“ beschreibt sie ihre Schuldgefühle:
The morning they set out from home
I was not there to comfort them
(…)
Both my parents died in camps
I was not there to comfort them
I was not there they were alone
(…)
and none shall say in my defence
had I been there to comfort them
it would have made no difference.
Großbritannien – Israel – Großbritannien
Käthe Löwenthal war 15 als sie in Großbritannien ankam. Mit ihrer Schwester zusammen kam sie vom Auffanglager in Dovercourt in ein Trainingslager in Whittingehame in Schottland, wo sie auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet werden sollten. Während ihre Schwester das Lager bald schon wieder verlassen musste, da sie das Höchstalter von 17 Jahren erreicht hatte und nach Palästina ging (nach dem Krieg zog sie mit ihrem Ehemann nach Italien), blieb sie selber bis zur Auflösung des Auffanglagers dort.
Die meisten Kinder in den dortigen Lagern hatten ihre Familienangehörigen verloren. Zudem lebten sie in einem Land, das sie als „enemy aliens“ oder als nicht anpassungsfähig ansah, was zu teilweise traumatischen Erfahrungen führte. Für die Kinder bedeutete es, ihr Zuhause und ihre Familien zu verlieren, in eine völlig unbekannte Umgebung zu kommen, eine andere Sprache lernen zu müssen. Die meisten würden ihre Eltern nie wieder sehen. Dem Erlebten konnten sie zeitlebens nicht entkommen, es würde ihr Leben bestimmen.
Eine Zeitlang arbeitete Käthe Löwenthal in verschiedenen Gelegenheitsjobs, so als Hausmädchen, Tänzerin sowie als Hausmutter in einem Internat, bis sie 1942 Walter Dampf, einen entfernten Cousin heiratete. Eine Ehe, die nicht lange dauern sollte, da sie im Wesentlichen aus gemeinsamer Erinnerung bestand – „He is my Bielefeld“, wie sie sagte. Ein Jahr später trennten sie sich bereits.
1944 bewarb sich um ein Studium mittelalterlicher Geschichte an der Edinburgh University, brach das Studium aber bereits nach einem Semester ab, da sie es für völlig irrelevant hielt, nachdem sie kurz vorher erfahren hatte, dass ihre Eltern den Holocaust nicht überlebt hatten.
1948 heiratete sie den Kunstlehrer Val Tripp, mit dem sie vier Kinder hatte. Zusammen zogen sie 1968 nach Israel, aber fünf Jahre später gingen sie wieder nach Großbritannien zurück. In Israel hatte sie sich zwar mehr zuhause gefühlt als in Großbritannien, aber es gelang ihr nicht, Hebräisch zu lernen, dass sie in dieser Sprache hätte schreiben und dichten können. Zudem wurde sie dort auch nicht wirklich heimisch, was sie schlimmer fand, denn dort erwartete sie noch immer, sich zuhause zu fühlen, während sie sich mit Großbritannien versöhnt hatte. Die Familie lebte anschließend erst in London, später in Somerset und Cornwall.
Das Bedürfnis, sich dort, wo sie lebte, zuhause zu fühlen, regte sie zum Schreiben an, denn während sie schrieb, fühlte sie kein Heimweh.
Ab 1950 begann Karen Gershon auf Englisch zu schreiben. Wie sie später erklärte, fühlte sie sich dazu in der neuen Sprache erst sicher genug, nachdem sie an einem Lyrikwettbewerb teilgenommen und diesen gewonnen hatte. 1959 erschien dann ihr erster Lyrikband The Relentless Year, dem zahlreiche weitere folgen sollten. Neben der Lyrik begann sie sich aber auch mit der Aufarbeitung der Kindertransporte zu beschäftigen. Zu deren 25-jährigem Jahrestag hatte sie 1966 einen Artikel im Observer veröffentlicht. Aus den Zuschriften, die sie daraufhin erhielt, stellte sie ein Buch zusammen: We Came as Children (Deutsche Ausgabe: Wir kamen als Kinder: eine kollektive Autobiographie), eine kollektive Biografie von 234 Menschen, die mit den Kindertransporten nach Großbritannien gekommen waren (insgesamt waren damit etwa 10.000 gerettet worden – zum Vergleich: Das ist weniger als 1% der Anzahl der Kinder, die während des Holocaust ermordet wurden). Für den Jewish Cronicle verfasste sie anschließend zahlreiche Besprechungen von Büchern von Überlebenden aus Deutschland, der Tschechoslowakei, Frankreich und Italien. Aber auch in ihren eigenen Büchern, 15 sollten es insgesamt werden, beschäftigte sie sich weiter mit Fragen der Schuld, mit Verlust, Exil und Trennung.
Auch in ihren belletristischen Werken beschäftigte sie sich mit diesen Themen. Ihre autobiografischen Charaktere fanden immer nur ein vorläufiges Zuhause und sind sich ihres Exil-Status immer bewusst. Auch die Schuldfrage taucht immer wieder auf. So wünscht sich beispielsweise die Protagonistin in Burn Helen, tot zu sein, denn sie fühlt sich schuldig, weil sie als einzige ihrer Familie den Blitz überlebt hatte.
Lange hatte Karen Gershon gezögert, Deutschland zu besuchen. Erst 25 nach ihrer Abreise kehrte sie erstmals nach Bielefeld zurück. Auch wenn sie dort freundlich empfangen wurde, fiel ihr doch auf, dass alle Zeichen der früheren jüdischen Bevölkerung entfernt worden waren. Sie selber hat dafür gesorgt, dass es zumindest am Kachelhaus wieder eine Hinweistafel darauf gibt, dass ihr Vater dessen Architekt war.
Hatte sie bereits vorher ihren Vornamen zu Karen anglisiert, so entschied sie sich für Gershon als ihren Autorinnennamen. Gershon, der hebräische Namen ihres Vaters, bedeutet „Fremder in einem fremden Land“ – und fremd sollte ihr das neue Land immer bleiben. Karen Gershon starb am 24. März 1993 nach einer Bypass-Operation in London und wurde neben ihrer Schwester Anne auf dem Friedhof in Bristol begraben.
The dead Jews lie
divided by
the fate of their families
those with survivors have
flowers on their graves
the others have grass
(aus: In the Jewish Cementry)
———-
Text von 2023
Verfasserin: Doris Hermanns
Literatur & Quellen
Literatur über Karen Gershon:
Hermanns, Doris: „Und alles ist hier fremd.“ Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil. Berlin, AvivA, 2022
Huppert, Shmuel: Karen Gershon 1923 – 1993. In: The Shalvi/Hyman Encylopedia of Jewish Women. www.jwa.org/encyclopedia/article/gershon-karen
Kerbel, Sorrel: Anglo-Jewish Writers: Twentieth Century. In: The Shalvi/Hyman Encylopedia of Jewish Women
https://jwa.org/encyclopedia/article/anglo-jewish-writers-twentieth-century
Nölle-Hornkamp, Iris & Hartmut Steinecke. Hg. 2009. Jüdisches Kulturerbe in Westfalen: Spurensuche zu jüdischer Kultur in Vergangenheit und Gegenwart. Symposion in der Akademie Franz-Hitze-Haus Münster, 19. bis 21.10. 2007. Bielefeld. Aisthesis.
Karen Gershon in der Deutschen Nationalbibliothek
Karen Gershon in der British Library
Werke von Karen Gershon:
The Relentless Year. London, G. Eyre & Spottiswoode, 1959
Edwin Muir, Iain Chrichton Smith (ed.): New Poets 1959: Iain Crichton Smith, Karen Gershon, Christopher Leveson. London, Eyre & Spottiswoode, 1959
Selected Poems. London, Gollancz, 1966
We Came As Children: Collective Autobiography. London, Gollancz, 1966. Deutsche Ausgabe: Wir kamen als Kinder: eine kollektive Autobiographie. Übersetzung: Hanns Schumacher. Frankfurt am Main, Alibaba, 1988
Postscript: A Collective Account of the Lives of Jews in West Germany since the Second World War. London, Gollancz, 1969
The Pulse in Stone: Jerusalem Poems. Tel-Aviv, Eked, 1970. Übersetzung: Rachel Chalfi
Jephthah’s Daughter: Poems. Knotting, Sceptre, 1978
Coming Back from Babylon: 24 Poems. London, Gollancz, 1979
Burn Helen: a Novel. Brighton, Harvester, 1980
The Bread of Exile: a Novel. North Pomfret, Gollancz, 1985
The Fifth Generation: a Novel. London, Gollancz, 1987. Deutsche Ausgabe: Die fünfte Generation. Übersetzung: Abraham Teuter. Frankfurt am Main, Alibaba, 1988
Collected Poems: Poetry From a Lifetime. London, Papermac, 1990
A Lesser Child: an Autobiography. London, Peter Owen, 1994. Deutsche Ausgabe: Das Unterkind: eine Autobiographie. Übersetzung: Sigrid Daub. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1992. Neuauflage mit einem Nachwort ihrer Tochter Naomi Shmuel (Übersetzung: Doris Hermanns). Düsseldorf, Lilienfeld, 2023
Rachel Lever (Hg.): Her Mind’s Eye: Images and Poems by Women. London, Pyramid, 1996 (enthält einige Gedichte von Karen Gershon)
„Mich nur zu trösten bestimmt“: Gedichte. Hg., zum Teil übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ria Omasreiter-Blaicher. Aachen, Fischer, 2000
Grace Notes: Poems. Toppesfield, Happy Dragons Press, 2002
A Tempered Wind: an Autobiography, Vol. 2, 1938 – 1943. Ed, and with an introduction by Phyllis Lassner and Peter Lawson. Evanston, Ill., Northwestern University Press, 2010
Übersetzungen:
Marcuse, Ludwig: Obscene: The History of an Indignation. London, MacGibbon & Kee, 1965
Neumann, Yirmeyahu Oscar: Gisi Fleischmann: the Story of a Heroic Woman. Tel Aviv, World Wizo, Department of Organisation and Education, 1970
Alex Bein (ed.): Arthur Ruppin. Memoirs, Diaries, Letters. New York, Herzl Press, 1971
Sollten Sie RechteinhaberIn eines Bildes und mit der Verwendung auf dieser Seite nicht einverstanden sein, setzen Sie sich bitte mit Fembio in Verbindung.