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(Geburtsname: Jutta Lötzsch; erster Ehename: Jutta Seyfert)
geboren am 13. Dezember 1928 in Chemnitz
gestorben am 2. November 2023 in Bernau bei Berlin
deutsche Rollschuh- und Eiskunstläuferin, Eiskunstlauftrainerin
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Jutta Müller war zweifellos die berühmteste Eiskunstlauftrainerin der Welt. Bei ihren Auftritten während der großen internationalen Wettkämpfe vermittelte sie einen für die DDR ungewohnten Glanz und Glamour. Wenn sie – stets elegant und stilsicher gekleidet, häufig im Pelzmantel – mit undurchdringlichem Gesicht an der Bande der Eishalle stand, kam vielen FernsehzuschauerInnen jedoch unvermittelt der Gedanke, „die hat Haare auf den Zähnen“. Ganz falsch war der Eindruck sicher nicht, aber eben auch nur die halbe Wahrheit. Zahlreiche EiskunstläuferInnen führte sie an die Weltspitze. Mit ihren SportlerInnen gewann sie bei Olympischen Spielen, Europa- und Weltmeisterschaften insgesamt 56 Medaillen, davon 31 goldene. Die berühmtesten ihrer Schützlinge waren ihre Tochter Gaby Seyfert, Jan Hoffmann, Anett Pötzsch und Katarina Witt. Mit dem Ende der DDR wurde auch Jutta Müller stillschweigend „abgewickelt“.
Jutta Lötzsch wächst in der Industriestadt Chemnitz in einer sportbegeisterten Familie auf. Die Mutter, die im Schuhgeschäft ihres Vaters arbeitet, ist eine gute Turnerin. Der Vater, Werkmeister auf dem Chemnitzer Rangierbahnhof, gewinnt mehrmals die sächsischen Meisterschaften im Ringen. Jutta beginnt im Alter von drei Jahren mit Ballettübungen beim Kinderballett des Chemnitzer Opernhauses und lässt sich von den Eltern für das Roll- und Schlittschuhlaufen begeistern. Sie ist schon bald so gut, dass sie sowohl mit ihrer Ballettgruppe als auch mit ihrem Roll- und Eislaufverein bei kleineren Vorführungen auftritt. Hinzu kommt ihr Interesse für Musik: Sie erhält Unterricht auf dem Akkordeon und dem eigens angeschafften Klavier. So sind bereits in früher Kindheit die Zutaten angerichtet, die sie in ferner Zukunft zur weltweit erfolgreichsten Eislauftrainerin machen werden.
Doch zunächst sieht nichts nach Musik und Tanz auf der Bühne oder dem Eis aus. Während Jutta Lötzsch die Frauenfachschule besucht, werden ab 1943 die Chemnitzer Innenstadt und die inneren Vorstädte von alliierten Bomben fast völlig zerstört. Wie durch ein Wunder bleibt das Wohnhaus der Lötzschs von den Bomben verschont. Überleben steht an erster Stelle; Mutter und Tochter Lötzsch fahren zum Hamstern aufs Land, und leider müssen auch Akkordeon und Klavier dran glauben, die gegen Mehl und Kartoffeln eingetauscht werden. Immerhin können Roll- und Schlittschuhe vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt werden.
Es werden dringend Grundschullehrerinnen gebraucht. Gerade mal siebzehnjährig nimmt Jutta Lötzsch an der NeulehrerInnenausbildung teil, und nach nur einem Dreivierteljahr Ausbildung steht sie als Lehrerin für Deutsch, Rechnen, Musik und Sport vor ihrer ersten Klasse. 1946 tritt sie in die SED ein. Auch mit dem eigenen Sport geht es allmählich aufwärts. Ab 1946/47 trainiert sie wieder regelmäßig mit den Rollschuhen und zieht mit einer Sportwerbetruppe durchs Land. Ihre Sprünge und Pirouetten, Tänze und Clownerien zeigt sie im Winter auf Schlittschuhen auf Natureis, im Sommer auf Rollschuhen in Ball- und Versammlungssälen. Außerdem gehört sie im Rollkunstlauf einer „Schleudergruppe“ an. „Schleudern heißt, dass ich mich schnell drehe, und irgendeiner hängt an meinem Hals“ – eine Akrobatiknummer, die ihrerzeit offenbar ihr Publikum fand.
1949 wird sie zusammen mit Irene Salzmann DDR-Eiskunstlaufmeisterin im Paarlauf; mangels Männer war dies auch für Frauenpaare möglich. Im Einzel bleibt sie „ewige Zweite“. Ihre Paradekür ist der „Tango-Max“ im schwarzen Anzug und mit Zylinder. Im Rollkunstlauf ist ebenfalls die Vizemeisterinnenschaft 1953 ihre beste Platzierung. Bereits hier zeigt sich die Linie der späteren Trainerin: Musik ist nicht nur Beiwerk zum Eislaufen oder dient lediglich der akustischen Untermalung, sondern soll sportlich, tänzerisch, gestisch, mimisch und nicht zuletzt mit der Wahl des Kostüms interpretiert werden.
Zu diesem Zeitpunkt heißt Jutta Lötzsch längst mit Nachnamen Seyfert und ist junge Mutter. 1947 hatte sie geheiratet, im November 1948 kommt Tochter Gabriele zur Welt, vier Wochen nach der Entbindung steht sie schon wieder auf dem Eis. Als Gaby ein Jahr alt ist, lassen sich die Eltern scheiden – ein Leben wie im Schnelldurchlauf. Auch die kleine Gaby wird beizeiten spielerisch an den Sport herangeführt, selbstverständlich inklusive Rollschuhlaufen, dazu kommen Wanderungen – meist mit den Großeltern, denn ihre Mutter hat wenig Zeit.
Jutta Seyfert hat nicht nur Berufsalltag, ihre eigene Sportkarriere, Haushalt und Kind unter einen Hut zu bringen: Bei den DDR-Meisterschaften 1954 wendet sich Manfred Ewald, Vorsitzender des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport, an die Topplatzierten: „Ihr alten Damen solltet jetzt aufhören. Wir brauchen euch als Trainerinnen.“ Jutta Seyfert ist da gerade 26 Jahre alt und alles andere als begeistert, fügt sich aber und absolviert 1959–63 ihr Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig mit dem Ziel der Eiskunstlauftrainerin. Ihre erste Wirkungsstätte ab 1955 ist der SC Wismut Karl-Marx-Stadt, und zu ihrer ersten Trainingsgruppe gehört ihre Tochter Gaby. Ihr möchte sie ermöglichen, was sie selbst nicht geschafft hat – ein ambitioniertes, aber auch heikles Ziel.
1955 heiratet Jutta Seyfert ein zweites Mal und heißt nun Jutta Müller. Der „Neue“ ist der Fußballer Bringfried Müller, genannt Binges, der nicht nur Juttas Herz, sondern auch Gabys erobert hat.
Das Eislaufen beherrscht die Familiengespräche. „Bei uns ging das Gespräch Eiskunstlauf am Frühstückstisch los und hörte abends nicht auf“ (Gaby Seyfert). Die Startbedingungen sind schwierig: Im Winter muss auf Minusgrade gewartet werden, damit auf gespritzten Tennisplätzen gelaufen werden kann. 1956 erhält Karl-Marx-Stadt eine Kunsteisbahn, die vor jedem Training vom Laub befreit werden muss. Immerhin können ab 1958 die besten Karl-Marx-StädterInnen im Sommer für ein halbes Jahr in Berlin trainieren. Das bedeutet für Jutta Müller, dass sie nicht nur das Training ihrer Schützlinge leitet, sondern auch in der übrigen Zeit für die Kinder sorgen muss – für 6-8 Personen einkauft, kocht, zwei Mahlzeiten am Tag auf den Tisch bringt und sich um deren Schulbesuch kümmert. So geht das jeden Sommer, bis 1964 die Küchwald-Halle in Karl-Marx-Stadt bezugsfertig ist, sodass künftig auch hier ganzjährig trainiert werden kann.
Der Erfolg stellt sich schnell ein: 1966 gewinnt Gaby Seyfert bei den Europameisterschaften die Silbermedaille. Mit ihrer Tochter schafft Jutta Müller den internationalen Durchbruch des DDR-Eiskunstlaufs und wertet damit diesen Sport zugleich in der Heimat auf. Das ist nicht unerheblich in einer Sportart, in der von den PreisrichterInnen immer auch subjektiv über Sieg und Niederlage entschieden wird. Die stolze Bilanz von Gaby Seyfert: drei Gold- und zwei Silbermedaillen bei den Europameisterschaften 1966 bis 1970, zwei Gold- und drei Silbermedaillen bei Weltmeisterschaften in denselben Jahren sowie die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble. Zudem ist sie die erste Frau, die bei einem Wettkampf einen Dreifachsprung, den dreifachen Rittberger, zeigt.
Schließlich kommt es zum Zerwürfnis zwischen Mutter und Tochter, weil Gaby Seyfert nicht bereit ist, ihre Liebesbeziehung hinter den Sport zurückzustellen, was Jutta Müller hingegen für unumgänglich hält. Ihrer Meinung nach gefährdet ein zu intensives Privatleben den sportlichen Erfolg. Obwohl Gaby als Favoritin für die Olympischen Spiele 1972 gilt, beendet sie 1970 ihre Sportkarriere, heiratet und absolviert ihrerseits eine Trainerinnenausbildung.
Doch ein nächstes Eisen hat Jutta Müller bereits im Feuer: Günter Zöller wird sowohl bei der EM als auch WM 1970 jeweils Dritter. Doch bei der Europameisterschaft 1972 in Göteborg setzt er sich ab und flieht in die Bundesrepublik. Zwar kann er an seine bisherigen Leistungen nicht mehr anknüpfen, wird aber ein erfolgreicher Eiskunstlauftrainer – eine persönliche und politische Enttäuschung für Jutta Müller, die sie nicht verwindet. Später erinnert sich Katarina Witt, dass es die größte Schmach für ihre Trainerin gewesen wäre, gegen einen Zöller-Schützling zu verlieren.
Pech hat Jutta Müller auch mit ihrer Schülerin Sonja Morgenstern: Nach ihrem Gewinn der Bronzemedaille bei den Europameisterschaften 1972 muss sie im Folgejahr ihre sportliche Karriere verletzungsbedingt beenden. Vielversprechender zeigt sich Müllers Musterschüler Jan Hoffmann. „Mit dem Jan ist es ein leichtes Arbeiten gewesen. Er war auch derjenige, der starke Willensqualitäten hatte, und darum war er auch in der Pflicht, die ja manchmal für etwas quirlige Typen bissel langweilig ist, also das hat den Jan nicht gestört.“ Der erst Zwölfjährige darf bereits 1968 zu den Olympischen Spielen in Grenoble mitfahren, damit er Erfahrungen sammelt – er landet auf dem 26. Platz. Doch sie hat auf das richtige Pferd gesetzt: Er sammelt insgesamt 13 Medaillen bei Europa- und Weltmeisterschaften und wird Olympiazweiter 1980 in Lake Placid.
Aber nun soll endlich ein Olympiasieg für die DDR her, und diejenige, die Jutta Müller hierfür auserkoren hat, ist Anett Pötzsch. Das Problem ist nur, dass Anett von Gaby Seyfert trainiert wird und die sich durchaus zutraut, die vielversprechende Schülerin ganz nach oben zu führen. Jutta Müller, die den Funktionärstross hinter sich weiß, kann sich durchsetzen, was das Mutter-Tochter-Verhältnis erneut belastet, Gaby Seyfert nach Berlin „vertreibt“ und sich erst entspannt, als 1974 Enkelin Sheila auf die Welt kommt.
Mit Hoffen und Bibbern kann Anett Pötzsch die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen und wird 1980 trotz eines Fehlers – sie springt den dreifachen Salchow nur doppelt – Olympiasiegerin. Das bedeutet, gleich zwei Müller-SchülerInnen schaffen es in Lake Placid aufs Podest, ein überragendes Ergebnis.
Die größten Erfolge feiert Jutta Müller mit Katarina Witt, wenn es auch hier die meisten Schwierigkeiten gibt, denn „die Kati“ ist nicht so pflegeleicht, wie es ihre Trainerin gewohnt ist. Es gibt laute Auseinandersetzungen, und bei Trainingslagern und Wettkämpfen fliegen in den Unterkünften des öfteren die Türen. Aber Katarina Witt weiß auch: „Ohne sie hätte ich nie diese Weltkarriere erreicht.“ Ihre Bilanz: u.a. zwei Olympiasiege (1984 und 1988), sechs EM- und vier WM-Titel. Als sie nach Abschluss ihrer Amateurkarriere Profi bei einer US-Eisrevue werden will, steht ihr Jutta Müller zur Seite und insistiert bei führenden Funktionären, wie z.B. Egon Krenz, ihr diese Möglichkeit zu eröffnen.
Sie selbst will eigentlich ebenfalls ihre internationale Wettkampfkarriere beenden und nur noch für ihren Verein arbeiten – immerhin ist sie inzwischen fast 60 – aber ihr funken zwei Frauen dazwischen: 1987 war Evelyn Großmann in Jutta Müllers Trainingsgruppe gewechselt. Um ihre Schülerin kümmert sie sich wie eine Mutter: Als Evelyn mit 40°C Fieber in ihrem Internatsbett liegt, nimmt sie Jutta Müller kurzerhand mit nach Hause, kocht für sie stärkende Suppen, backt sogar einen Apfelkuchen und päppelt sie wieder hoch. Beide wissen zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass Evelyn Großmann die letzte EisläuferIn sein wird, mit der Jutta Müller einen EM-Titel in die DDR holt (1990).
Nach der Wiedervereinigung besteht seitens der (westlich dominierten) Deutschen Eislauf-Union kein Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit. Zum 31. Dezember 1990 hat Jutta Müller die Kündigung auf dem Tisch. Ihr bleiben die Nachwuchsarbeit in Karl-Marx-Stadt – zu ihren Schülern gehört der spätere deutsche Meister Ronny Winkler – und die Beschäftigung mit ihrer Enkelin, die sie ebenfalls gerne zu einer Eiskunstläuferin ausbilden würde. Doch Gaby Seyfert ist strikt dagegen und kann sich gegen ihre Mutter durchsetzen. Da kommt eines Tages die Anfrage von Katarina Witt, die nach ihrer Reamateurisierung an den Olympischen Spielen 1994 in Lillehammer teilnehmen will und weiß, „wenn überhaupt, dann geht das nur mit Frau Müller“. Jutta Müller teilt die Skepsis der Öffentlichkeit; überdies ist sie gewohnt, TitelanwärterInnen zu betreuen, aber das ist gar nicht Katarina Witts Ziel. Sie will nur zeigen, dass sie es noch draufhat. Jutta Müller lässt sich überreden und freut sich schließlich gemeinsam mit ihrem Schützling über einen 7. Platz, wie sie sich wahrscheinlich noch nie über eine derartige Platzierung gefreut hat.
Wie kann eine einzige Trainerin eine solche Bilanz aufweisen? Da sind in erster Linie ihr strenges, autoritäres Regiment und ihre Unnachgiebigkeit: sie duldet keinerlei Widerspruch und lässt einen Sprung notfalls bis in den späten Abend immer und immer wiederholen, bis er endlich sitzt. Es heißt: Disziplin, Disziplin, Disziplin. Sie überwacht Lebenswandel und Speisepläne ihrer Schützlinge und lässt diese auch mal eine Woche lang nur gekochten Reis essen, wenn sie ihr zu „dick“ vorkommen. „Wegen einer einzigen Praline zu viel konnte man den größten Ärger mit ihr kriegen“ (Katarina Witt).
Aber da ist auch die fachliche Seite, ihre große Musikalität, ihre Sicherheit bei der Auswahl von Musik, Bewegungsabläufen, Kostümen und Frisuren, die exakt auf den Lauftyp ihrer SchülerInnen abgestimmt sind. Sie ist die Erste, die individuelle Trainingspläne erstellt.
Es gibt in der DDR kaum Lehrbücher, geschweige denn Videos zum Eiskunstlauf. Jutta Müller lässt sämtliche Küren, die sie bei internationalen Meisterschaften sieht, mitfilmen und analysiert diese dann mit ihren Schützlingen. Für sie ist der regelmäßige Unterricht im Ballettsaal genauso wichtig wie das Athletik- und Konditionstraining. Ihre LäuferInnen sollen nicht wie Gummibälle einen Sprung nach dem anderen zeigen, sondern sich grazil und tänzerisch auf dem Eis bewegen, die Musik interpretieren. Die Regeländerungen während der 60er und 70er Jahre, die die Kür zulasten der Pflicht (1990/91 endgültig abgeschafft) immer mehr aufwerten, helfen ihr, ihre Vorstellungen vom Eiskunstlauf umzusetzen. Sie kreiert Choreographien, die perfekt zur Musik passen. Andererseits nutzt sie aber auch die Sprungkraft ihrer AthletInnen und erfindet bereits für Gaby Seyfert verschiedene Sprungkombinationen, die das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Aber dies alles ist nach der „Wende“ nicht mehr gefragt. „Die Art und Weise, wie wir damals trainiert haben, war sehr, sehr hart. Das würden sich viele heute überhaupt nicht mehr gefallen lassen. Aber das Fachliche hätte man nutzen müssen“ (Jan Hoffmann).
Auch als sie längst über 70 ist, kommt sie oft in die Halle des Chemnitzer Eislauf-Clubs, wie der Verein nun heißt, und wo sie noch ihr eigenes kleines Büro hat. Häufig besucht sie das Weltmeisterpaar Aljona Savchenko und Robin Szolkowy und steht 2001 auch dem Erfurter Juniorenweltmeister Stefan Lindemann mit Rat und Tat zur Seite. Ansonsten fährt sie, solange das noch möglich ist, zum Skilaufen sowie in den Urlaub mit Enkelin Sheila oder besucht alte Freunde und Bekannte aus der aktiven Zeit. Ihr „Binges“ stirbt 2016.
Jutta Müller ist ein Vierteljahrhundert lang die erfolgreichste Eiskunstlauftrainerin der Welt, erlebt acht Olympische Spiele. An Ehrungen für sie fehlt es nicht: 1980 wird sie in der DDR mit dem Vaterländischen Verdienstorden ausgezeichnet; 1984 erhält sie den Ehrentitel „Held der Arbeit“; 1998 erhält sie als Erste den Ehrenpreis der Stadt Chemnitz; 2000 wird ihr der Sächsische Verdienstorden verliehen; 2003 nimmt sie der Weltverband International Skating Union für ihre Verdienste um in den Eiskunstlauf die Hall of Fame auf; 2008 wird sie am Vortag ihres 80. Geburtstags Ehrenbürgerin ihrer Heimatstadt Chemnitz. Auch die Deutsche Eislauf-Union kann sich 2004 endlich dazu durchringen, ihre außerordentlichen Verdienste zu würdigen.
Anlässlich ihres 90. Geburtstages findet in ihrer Anwesenheit eine große Eisshow in der Chemnitzer Eissporthalle statt, die vom ehemaligen Paarläufer und jetzigen Trainer Ingo Steuer choreographiert und geleitet wird und zu der ihre berühmten Schützlinge anreisen. 2022 zieht Jutta Müller in ein SeniorInnenheim in Bernau bei Berlin, um in der Nähe ihrer Tochter zu sein. Ein Jahr später stirbt sie – sechs Wochen vor ihrem 95. Geburtstag. Ihre Enkelin Sheila sagt, sie werde ihre Großmutter als liebevollen und herzlichen Menschen, als stark, humorvoll und elegant in Erinnerung behalten.
Im März 2024 wird das Chemnitzer Eissportzentrum offiziell in Jutta-Müller-Eissportzentrum umbenannt.
(Text von 2024)
Verfasserin: Christine Schmidt
Zitate
Ja, ja, es ist schon so, wie sie sagen, ich bin eisern und kompromisslos.
Ich habe meine harte Linie nie bereut, denn auch im normalen Leben ist Disziplin die wichtigste Voraussetzung für eine persönliche Karriere.
Ich habe viel verlangt und viel gegeben. Ich habe für alles gesorgt. Wir waren eine Einheit.
Erfolge ohne Rückschläge gibt es nicht. Aber ich war noch nie vollkommen verzweifelt, weil ich immer nach einem Ausweg gesucht habe.
Ich hab gedacht, mit der Kati [Witt] wird das mal was ganz Großes.
Es hat mich gereizt zu sehen: Kann ich eine Sportlerin nach sechs Jahren Show wieder zu einer disziplinierten Trainingsarbeit bringen? Und das habe ich geschafft.
Ich bin in dem alten System aufgewachsen, das war mein Leben.
Ich bin kein Charakter, der hinschmeißt.
Natürlich war ich ein Kind des alten Systems, aber ich hätte mehr Verständnis dafür erwartet, dass ich mich während des Umbruchs in vielen Dingen neu zurechtfinden musste.
Meine Zukunft ist es nicht, noch einmal zehn Jahre zu arbeiten, um die Weltspitze zu erklimmen, sondern weiterzugeben, was ich weiß und kann.
Das DDR-System konnte ja nicht übernommen werden. Das ist mir jetzt klar. Aber es hätte trotzdem weitergehen können. Ich war damals eigentlich verzweifelt, dass diese ganze Supernachwuchsarbeit von heute auf morgen nicht mehr existieren konnte.
Was aus dem Eiskunstlauf geworden ist – da kommen mir die Tränen.
Wenn ich zurückblicke, plagt mich nicht der geringste Zweifel: Ich hatte ein wunderschönes, erfülltes berufliches Leben.
Sie agierte ja als Mutter und als Trainerin im Spitzensport, ein innerer Zwiespalt, schwieriger Doppelpart: Auf der einen Seite behütete sie mich wie eine liebevolle und großzügige Mama. Auf der anderen Seite blieb es ihr unverrückbares Prinzip, mit Konsequenz, Strenge und höchsten Forderungen ihr Trainingsregime durchzusetzen. (Gaby Seyfert)
Mutter fand immer etwas, um mich zu belohnen. Aber damit sollte es dann auch gut sein, der Stolz auf Erfolg durfte zwar genossen, doch nicht endlos zelebriert werden. Lorbeer einzuheimsen war in Ordnung, sich irgendwie auf Lorbeer ausruhen zu wollen, gab es bei meiner Mutter nicht. Selbst später, als ich Europa- und Weltmeister-Titel mit nach Hause brachte, galt Mutters Grundsatz: Bei einem Sieg hält man sich nicht lange auf, sonst verliert man das nächste Mal. (Gaby Seyfert)
Ich war einverstanden mit der Strenge und denke heute, dass sie Mutter womöglich mehr Anstrengung gekostet hat als mich. Es ist anstrengend, böse zu sein… Wäre meine Mutter eine weniger konzentriert-konsequent arbeitende Person, würde sie kaum die erfolgreichste Eiskunstlauftrainerin der Welt geworden sein. (Gaby Seyfert)
Sportler, die zu internationalen Wettkämpfen ins Ausland fuhren, sollten ihre Kontakte zu etwa vorhandenen Verwandten im Westen zuvor abbrechen, das musste man ganz offiziell tun. Ich weiß, dass Mutti und ich so etwas unterschrieben haben, eine Weigerung hätte nur endlose und nervige Debatten nach sich gezogen. Diese Unterschrift hinderte uns jedoch nicht daran, beispielsweise zu den Olympischen Spielen in Innsbruck 1964 unsere Westverwandtschaft zu treffen. […] Meine Mutti sagte mir bei solchen und ähnlichen Gelegenheiten eher nebenbei: Gaby, das dürfen wir jetzt eigentlich nicht machen, aber wir machen es, und du behältst das für dich. (Gaby Seyfert)
Bei ihr trainieren zu dürfen, das war wie so eine Garantie, dass man irgendwie doch zu Erfolg kommen kann. (Anett Pötzsch)
Die war immer eine relativ strenge Trainerin, das muss man sagen, aber fachlich die beste der Welt. Für mich auch heute noch. (Jan Hoffmann)
Sie hat Talent erkannt und war selbst getrieben, dass man dies nicht vergeudet. (Katarina Witt)
Sie ist eine Frau, der im Leben nichts geschenkt wurde und die sich selbst nichts erspart, vielleicht war sie deshalb so unnachgiebig und hart. (Katarina Witt)
Wie man mit Frau Müller nach der Wende umgegangen ist, das war an Respektlosigkeit nicht zu überbieten. (Katarina Witt)
Wer hätte schon gedacht, dass ich die Letzte bin, die einen Titel holt zusammen mit Frau Müller, das ist schon was Besonderes. (Evelyn Großmann)
Frau Müller achtet auf den Auslauf. Sprünge soll man so präsentieren, so als sage man den Zuschauern: Habt ihr das gesehen?! (Stefan Lindemann)
Ich hab gefühlt, sie ist meine Freundin. Ich konnte ihr alles sagen, ohne zu denken, dass da was Falsches kommt. Ich liebe Menschen, die ehrlich sind, und sie ist eine ehrliche Frau. (Aljona Savchenko)
Wenn ich als Trainerin arbeite, dann möchte ich wie Frau Müller sein. Die ist mein Idol. (Aljona Savchenko)
Links
https://online.munzinger.de/document/01000001088
https://www.ardmediathek.de/video/sport-im-osten/jutta-mueller-ein-leben-fuer-das-eiskunstlaufen/mdr-fernsehen/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy82Y2NlOTRkYi0xMzY2LTRkMDQtYTNlYy05NGE2NWExODA1Zjc
https://www.spiegel.de/sport/wintersport/jutta-mueller-die-legendaere-eiskunstlauf-trainerin-wird-90-jahre-alt-a-1243137.html
https://www.eislauf-union.de/files/users/977/DEU-NachrufJuttaM%C3%BCller-2.pdf
https://www.nordkurier.de/sport/der-grande-dame-des-eises-blieben-die-erinnerungen-2022386
https://www.faz.net/aktuell/sport/wintersport/jutta-mueller-eiskunstlauf-trainerin-mit-94-jahren-gestorben-19285772.html
https://www.sueddeutsche.de/sport/jutta-mueller-gestorben-trainerin-eiskunstlauf-katarina-witt-1.6297646
https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/chemnitz/trauerfeier-jutta-mueller-eiskunstlauf-trainerin-100.html
https://www.n-tv.de/sport/Wie-Frau-Mueller-die-bockige-Kati-Witt-baendigte-article24506066.html
https://www.n-tv.de/sport/Kati-Witt-Jutta-Mueller-hat-Demuetigung-nie-verwunden-article24581339.html
https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-jutta-mueller-100.html
https://www.mdr.de/sachsenradio/podcast/exquisit/exquisit-jutta-mueller-100.html
https://www.mdr.de/sport/sport-im-osten/video-interview-jutta-mueller-daniel-weiss-100.html
https://www.mdr.de/geschichte/stoebern/damals/video-eiskunstlauf-ddr-jutta-mueller-kati-witt-100.html
https://www.n-tv.de/mediathek/videos/sport/Eislauf-Trainerin-Jutta-Mueller-ist-gestorben-article24506208.html
https://www.youtube.com/watch?v=VYU0J7bo3hE
https://www.youtube.com/watch?v=VBqRFWTniYc
Literatur & Quellen
Hönel, Manfred (Hg.): Jutta Müller. Der schönste Sport der Welt. Eine Eiskunstlauftrainerin erinnert sich. Berlin 1998 (Das Neue Berlin)
Seyfert, Gaby: Da muß noch was sein. Mein Leben – mehr als Pflicht und Kür. Berlin 1998 (Das Neue Berlin)
Witt, Katarina: Meine Jahre zwischen Pflicht und Kür. München 1994 (C. Bertelsmann)
Die Eiskönigin aus Chemnitz. Ein Abend für Jutta Müller. (= Dokumentarfilm, MDR 2018), 89 Min. (auch auf https://www.youtube.com/watch?v=EhIUrkeMpNk)
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