geboren am 22. Mai 1934 in Kairo
gestorben am 12. November 1993 in London
britische Kolumnistin, Schriftstellerin und Feministin
90. Geburtstag am 22. Mai 2024
Biografie • Zitate • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Sie wurde zum Sprachrohr für Frauen in ganz England, die ihr zu Tausenden schrieben und durch sie den Mut faßten, den Tatsachen ihres Lebens ins Gesicht zu sehen.
(Liz Forgan)
In der ehrwürdigen National Portrait Gallery (NPG) in London hängt seit 1993 ein sehr ungewöhnliches Bild, ein Gruppenbild mit Damen, fünf an der Zahl, gemalt von der im Januar 2002 jung verstorbenen Malerin Sarah Raphael und für die NPG in Auftrag gegeben von Claire Tomalin, der Feministin im Vorstand der NPG.
Das Bild zeigt fünf führende englische Feministinnen und Journalistinnen, die beim linksliberalen Guardian seit Ende der 1960er Jahre für die “Frauenseite” zuständig waren und es teils noch sind. Im Zentrum ist Jill Tweedie, damals tödlich erkrankt an ALS bzw. (engl.) MND (amyothrophe Lateralsklerose, engl.: Motor Neurone Disease – jene Krankheit, die durch Stephen Hawkings Schicksal bekannt wurde und mit der er uncharakteristischerweise viele Jahrzehnte lebte. Im typischen Verlauf führt diese entsetzliche Krankheit zu einem baldigen qualvollen Erstickungstod – wegen Lähmung sämtlicher Muskeln einschließlich der zum Atmen notwendigen).
Um Jill Tweedie herum gruppiert sind Polly Toynbee, Mary Stott, Liz Forgan und die Cartoonistin Posy Simmonds. “Jill bildete damals auch den Mittelpunkt unserer Gedanken; sie war die Quelle von Energie, Witz und Weisheit, die die Frauenseiten zu etwas Besonderem machten”, schreibt Polly Toynbee in ihrem Nachruf über ihre Freundin und Kollegin.
In ihrer Autobiographie Eating Children (veröffentlicht 1993, noch vor der ALS-Diagnose und nur ein halbes Jahr bevor Jill Tweedie den Freitod wählte) erzählt Tweedie von ihrer unglücklichen Kindheit mit einem eisigen Vater und einer konventionellen Mutter, die aus der eigenwilligen Jill partout eine feine Dame der Gesellschaft machen wollte. Jill bricht aus, arbeitet eine Weile in der aufregenden Werbebranche, setzt sich nach Kanada ab und heiratet dort blutjung und unerfahren einen Exil-Ungarn von Adel, fast wider Willen und wie hypnotisiert von seiner besitzergreifenden Liebe. In ihrem Roman Bliss wird sie diesen “demon lover” zu einem südamerikanischen Kleinstaat-Despoten abwandeln.
Wie nicht anders zu erwarten, geht die Ehe zu Bruch; “Graf Dracula” setzt sich mit den beiden überlebenden Kindern – (ihr erstes Kind Michael verlor Tweedie durch plötzlichen Kindstod) Adam und Ilona ab – Tweedie sieht sie erst als Erwachsene wieder. In zweiter Ehe mit einem Holländer bekommt Tweedie ihr viertes Kind, Lucas, dem sie den ersten Band ihrer unvollendeten Autobiographie widmet. Luke wird umso mehr geliebt, als er das einzige Kind ist, das ihr geblieben ist.
Von 1969 bis 1988 arbeitet Tweedie als Kolumnistin beim Guardian: Ihre Kolumnen erregen die Gemüter vom ersten Tag an, denn: “Ihr Feminismus kam aus tiefstem Herzen, und direkt aus ihren eigenen, oft quälenden Erfahrungen” (Polly Toynbee). Sie kämpfte gegen Mißstände, die den Leuten bis dahin nicht einmal aufgefallen waren: Als sie gegen die Vergewaltigung in der Ehe schrieb (von ihr selbst oft genug durchlitten), gab es einen Aufschrei – inzwischen aber wurden die Gesetze geändert. Vor allem aber kannte sie sich aus in den Kompliziertheiten der Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Sie mochte Männer (ihre 1970 geschlossene dritte Ehe mit dem Journalisten und Schriftsteller Alan Brien war sehr glücklich), aber ihr Sarkasmus gegen “den Feind” war zielsicher und oft vernichtend.
Ich selbst lernte Jill Tweedie durch ihr Buch Die sogenannte Liebe (In the Name of Love, 1979) kennen und bewundern. Ihre Kollegin Liz Forgan charakterisiert es folgendermaßen: “Ihr bestes Buch – eine atemberaubende Sammlung von Beobachtungen über die Liebe, Sex, Männer und Frauen, die dich noch heute, nach zwanzig Jahren aus dem Takt bringt. Jede Platitüde über Geschlechtsunterschiede wird zerschmettert durch persönliche Anekdoten, Bekenntnisse, Anthropologie, Gedichte, Philosophie.” (Text von 2002, aktualisiert 2018)
Verfasserin: Luise F. Pusch
Zitate
Auch wenn wir uns das vielleicht nur ungern eingestehen, gibt es im Leben keinen zweiten Faktor, der den Charakter und das Handeln der Menschen so stark zu beeinflussen, zu verändern oder zu deformieren imstande ist wie das Geld - sei es zuwenig, zuviel oder mehr Geld als andere.
(Tweedie 1982: 243)
Angst und völlige Abhängigkeit machen es nicht leicht, sich aufzulehnen, aber Mut muß stets … gegen scheinbar unüberwindliche Hindernisse angehen - was wäre sonst Mut?
(Tweedie 1982:91)
Wer für seine Überzeugungen blaue Flecke und Prügel einsteckt, ist kein Opfer.
(Tweedie 1982: 93)
Links
dieStandard. (2001, 22. Mai). Geschlechterpolitik. Jill Tweedie “Gewalt wird von Männern begangen”. Diskurs über geschlechtsspezifisches Aggressionspotential. Der Standard. Wien.
Online verfügbar https://www.derstandard.at/story/588329/jill-tweedie-gewalt-wird-von-maennern-begangen, überprüft am 16.05.24.
FrauenMediaTurm - Feministisches Archiv und Bibliothek. Das Ringen um freie Sexualität und Liebe auf Augenhöhe. Köln.
Online verfügbar https://www.derstandard.at/story/588329/jill-tweedie-gewalt-wird-von-maennern-begangen, überprüft am 16.05.24.
Literatur & Quellen
Jill Tweedie in der Deutschen Nationalbibliothek
Forgan, Liz. 1993. “For the love of a faint hearted feminist” [A tribute to Jill Tweedie], The Guardian, 18.4.2000.
Toynbee, Polly. 1993. “She reached into the depths of herself and stretched out for the difficult human truths” [Nachruf auf Jill Tweedie], The Guardian, 13.11.1993, S. 25.
Tweedie, Jill. 1982 [1979]. Die sogenannte Liebe: Von den Zwängen der Zweisamkeit [= In the Name of Love]. aus d. Engl. von Cornelia Holfelder - von der Tann. Reinbek bei Hamburg. Rowohlt.
Tweedie, Jill. 1986 [1984]. Verraten und verkauft [=Bliss]. Roman. Aus dem Engl. von Sibylle Koch-Grünberg. München. Knaur TB 8034.
Tweedie, Jill. 1994 [1983]. Letters from a Fainthearted Feminist and More from Martha. London. Robson.
Tweedie, Jill. 1991. Briefe einer unbeherzten Feministin [=Letters from a fainthearted feminist + More from Martha]. Aus dem Engl. von Sibylle Koch-Grünberg. Mit Ill. von Merrily Harpur. München. Droemer Knaur.
Tweedie, Jill. 1994. Eating Children. With: Frightening People (fragments). Nachwort von Alan Brien. London. Penguin.
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