Biographien Henriette Maria Louise von Hayn
geboren am 22. Mai 1724 in Idstein, Hessen
gestorben am 27. August 1782 in Herrnhut, Landkreis Görlitz, Sachsen
deutsche Dichterin geistlicher Lieder
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Eine selbstbewusste starke Frau muss die Luisel – wie sie liebevoll genannt wird – schon als junge Erwachsene gewesen sein. Sie wächst wohlbehütet im Haus des Fürstlich Nassauischen Oberjägermeisters Georg Heinrich von Hayn im hessischen Idstein auf. Durch und durch protestantisch geprägt – die Mutter Ernestine von Lassberg entstammt einer wegen des protestantischen Glaubens aus Österreich geflohenen Familie – genießt sie eine häusliche gute Erziehung und Bildung, evtl. sogar mit Kenntnissen in den klassischen Sprachen; inwieweit der Generalsuperintendent Johann Christian Lange daran beteiligt ist, bleibt Vermutung. Die protestantische Gemeinde und die Geistlichkeit ist tief pietistisch geprägt, die örtliche Druckerei wirkt als wichtiger Platz an der Verbreitung pietistischer Schriften mit. Daher ist Luisel schon als Mädchen im pietistischen Gedankengut, auch in der Fassung der Lehre des Grafen Zinzendorf, tief verwurzelt. Später wird sie schreiben: „Ich hatte als kleines Kind oft so zärtliche Empfindungen von der Liebe Jesu, dass ich bisweilen in ein Winkelchen ging und weinte, und niemand wusste, warum… Bei Gelegenheit der ersten Gebetchen, die ich lernte, bekam ich so lebendige Eindrücke von dem Leiden des Heilandes, dass sie mir durch alle Zeiten geblieben sind. Einmal kam mir ein Herrnhutisches Lehrbüchlein für die Kinder in die Hände. Das war recht nach meinem Geschmack; ich küsste das Büchlein oft, und trug es Tag und Nacht bei mir, aus Furcht, es möchte mir weggenommen werden. [...] Wenn wir spaziern gingen, trug ichs manchmal darauf an, ein wenig zurück zu bleiben, warf mich geschwind auf den Boden, als wollte ich Blumen suchen, und küsste die Erde, weil ich mir ganz kindlich vorstellte, das sei das Plätzchen, wo mein liebster Jesus blutigen Schweiß geschwitzt habe.“
Die Konfirmation durch den Generalsuperintendenten Lange und damit die bewusste Erneuerung des Liebesversprechens gegenüber ihrem Heiland ist für sie ein besonders prägender Moment. Die freud- ja fast lustvolle Verehrung, Liebe und „Vergnügtheit“ zu und mit den blutenden Wundmalen Christi, die ganz im Gegensatz zum sonst katholisch wie protestantisch üblichen verzweifelten Passionsleiden steht, stellt für Louise von Hayn ein tiefes Bedürfnis dar, das sie mit immer größerer Sehnsucht nach einer Gemeinschaft erfüllt, die in diesem Bewusstsein lebt. Diese findet sie im rund hundert Kilometer entfernten Herrnhaag des charismatischen Grafen Zinzendorf.
Dieser hat nach seiner Verbannung aus Sachsen 1736 auf Einladung des Grafen Ernst Casimir zu Ysenburg und Büdingen seiner lutherisch-pietistischen Herrnhuter Brüdersozietät in Herrnhaag Land gekauft und eine neue Heimstatt geschaffen. Hier entsteht zu Lebzeiten des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf eine fast revolutionäre Wirtschafts- und Glaubensgemeinschaft, eine religiöse Kommune, die einerseits eine Standes-und Geschlechterunterschiede aufhebende oder zumindest angleichende Lebensform mit Parallelämtern für Männer und Frauen anstrebt, und andererseits eine auf Lust und Freude setzende Blut- und Wundenfrömmigkeit in der Verkündigung und den Liedern sowie religiösen Übungen propagiert, die mystische Verzückungserlebnisse der unio mystica mit Jesu und im Extrem der Seitenhöhlenwunde Jesu feiert.
Von dieser Gemeinschaft fühlt sich die zur jungen Frau herangewachsene, selbstbewusste Louise hingezogen, und 1746 erreicht sie gegen massive Wiederstände ihrer Eltern und des Superintendenten Lange, deren Vehemenz in diversen Briefwechseln mit Ordnungsbehörden und v.a. kirchlichen Stellen dokumentiert ist, die Aufnahme und Übersiedelung in den Herrenhaag. Hier kann sie sich verwirklichen und übernimmt sofort die Erziehung der Kleinen im Mädchenhaus. Man lebt, betet, isst, arbeitet, singt und feiert gemeinsam; Kreativität und eigenes Tun in der und für die Gemeinschaft stehen im Vordergrund. Sie macht „Karriere“ in der Brüder-Kirche: nach der Annahme zur Nachfolge, der „Acoluthie“, wird sie zur Diakonissa eingesegnet; 1750 ist sie Vorsteherin des Mädchenhauses und macht die zwangsweise Übersiedlung nach Herrnhut mit; 1758 wird sie von Graf Zinzendorf zur „Priesterin“ ordiniert.
Nach dem eine konservative Wende einleitenden Tod des Grafen 1760 werden die Weihegrade wieder aufgehoben. Als letztes Amt wird 1766 Henriette Louise von Hayn Chorhelferin, damit ist sie Seelsorgerin des Chores der rund 400 ledigen Herrnhuter Schwestern.
– Es wäre ein ganz eigenes Thema, inwieweit die Herrnhuter Brüdergemeine in ihrer ursprünglich von Nikolaus von Zinzendorf angestrebten „urchristlichen“ Verfassung einer weitgehenden Gleichberechtigung von Männern und Frauen, einer vor-paulinischen, auf die Evangelien verweisenden Theologie der Freude, Liebe und Gleichheit in einer diesen Grundsätzen verschriebenen Kommune als revolutionäres protestantisches Gesellschaftsmodell von seinen unmittelbaren Nachfolgern verraten und patriarchal konterkariert wurde. Wobei auch die überwiegend theologische Forschung über die Herrnhuter fast ausschließlich von Männern betrieben wird.
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Zinzendorf selbst ist ein begnadeter Prediger und Liederdichter, nicht nur das ev. Gesangbuch enthält bis heute einige seiner schönsten Lieder; und er animiert die Mitbewohner zum Abfassen von Liedern, da im gemeinsamen Singen festlich die Liebe zu Jesu Ausdruck findet. 1727 wird die schon zuvor praktizierte „Singstunde“ institutionalisiert, in der ein ganz aus gemeinsamem, auch improvisiertem Singen bestehender Gottesdienst gestaltet wird. Unterschiedliche Melodien, vom Singstunden-Leiter und dem Organisten angestimmt, werden von unterschiedlichen Einzelstimmen und dem Gemeindechor aufgenommen und weitergetragen. Singen zu allen Anlässen ist integraler Bestandteil der Herrnhuter und, in den für Louises Wirken als Lehrerin und Dichterin bestimmenden Jahren, der Herrnhager Gemeinde.
Louise ist eine der treuesten Schülerinnen, sie schreibt Lieder, Gedichte und Kantatentexte für festliche Liebesmahle, ihre Kindertotenlieder auf verstorbene Kinder der Brüdergemeine sind Kleinode. Ihre Lieder nehmen bis heute ihren Platz im Liederbuch der Herrnhuter ebenso wie im ev. Kirchengesangbuch ein. Eines ihrer innigsten Lieder, „Weil ich Jesu Schäflein bin“, wird auch heute noch gesungen und ist in vielen angelsächsischen evangelikalen Gemeinden in Übersetzung verbreitet.
In ihrem dichterischen Wirken und ihrer Wirkung sowie ihrem auf Kinder und junge Mädchen sowie die Stärkung der in Jesu-Liebe lebenden Frauen bezogenen karitativen Denken ist Louise von Hayn durchaus der rund 75 Jahre später wirkenden Luise Hensel vergleichbar. Dass sie weniger bekannt ist, mag an der Herrnhuter Abgeschiedenheit und der von Zinzendorf’schen Exklusivität auch im deutschen Protestantismus liegen, die zu Lebzeiten zu wenig Außenkontakten und nur schwesterlichen Freundschaften innerhalb der Gemeinschaft führten.
Heute erinnert der populäre Herrnhuter Weihnachtsstern auf Weihnachtmärkten und als kleines Mitbringsel im Dezember für den Weihnachtstisch an die erfindungsreiche Kreativität der religiösen Kommune.
(Text von 2024 aus dem Buch “Immer Luise…”; mit freundlicher Genehmigung des Verfassers).
Verfasserin: Siegfried Carl
Zitate
Weil ich Jesu Schäflein bin
freu ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten,
der mich schön weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt,
und bei meinem Namen nennt.
Unter seinem sanften Stab
geh ich aus und ein und hab
unaussprechlich süße Weide,
dass ich keinen Hunger leide,
und sooft ich durstig bin,
führt er mich zum Brunnquell hin.
[…]
Sollt ich nun nicht fröhlich sein
ich beglücktes Schäfelein?
Denn nach diesen schönen Tagen
werd ich endlich heimgetragen
in des Hirten Arm und Schoß.
Amen, ja, mein Glück ist groß.
(Henriette Maria Louise von Hayn)
Literatur & Quellen
Carl, Siegfried. 2024. ... immer Luise: Poetische Literaturgeschichten über schriftstellerinnen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts. Werther. salamandra edition.
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