Biographien Henrietta Swan Leavitt
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geboren am 4. Juli 1868 in Lancaster, Massachusetts
gestorben am 12. Dezember 1921 in Cambridge, Massachusetts
US-amerikanische Astronomin
155. Geburtstag am 4. Juli 2023
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
“Sehr verehrte Miss Leavitt, was mir ein Freund über Ihre bewunderungswürdige Entdeckung berichtete, hat mich so tief beeindruckt, dass ich ernsthaft gewillt bin, Sie für den Physik-Nobelpreis 1926 zu nominieren, obwohl ich gestehen muss, dass mein Wissen auf diesem Gebiet ziemlich unvollständig ist.”
Februar 1925. Irritiert liest der neue Direktor des Harvard College Observatoriums in Cambridge, Massachusetts diese Zeilen des Mathematikers und Mitglieds der Stockholmer Akademie der Wissenschaften Gösta Mittag-Leffler. Der engagierte Verfechter der Frauenrechte wusste ganz offensichtlich nicht, dass Henrietta Swan Leavitt bereits vier Jahre zuvor gestorben war. Und posthum kann ein Nobelpreis nicht verliehen werden. Eine böse Laune des Schicksals, und der bittere Nachhall eines schweren und gleichzeitig reichen Lebens.
Aber mit welcher “bewunderungswürdigen Entdeckung” hatte Miss Leavitt, diese schlanke Frau mit dem ernsten, schmalen Gesicht, den Schweden derart beeindruckt? Ganz einfach: Henrietta Swan Leavitt hatte den Schlüssel zum Universum gefunden.
1868 als ältestes Kind einer Pastorenfamilie in Lancaster, Massachusetts geboren, erhält Henrietta Swan Leavitt die standesgemäße, exzellente Ausbildung der oberen Mittelschicht. Am Radcliffe College im neuenglischen Cambridge studiert sie alte und moderne Sprachen, besucht Kurse in Philosophie, Naturgeschichte, Mathematik und im letzten Jahr eine Vorlesung in Astronomie - und sie verfällt den Sternen. George Johnson, Autor einer kleinen Leavitt-Biographie über Henriettas Schlüsselerlebnis: “Sie fand wohl die Vorstellung attraktiv, in der Wissenschaft arbeiten zu können, wenn auch nur am Rand, denn das war damals die einzige Möglichkeit für eine Frau. Sie brauchte bloß über die Straße zum Observatorium zu gehen und sich als Volontärin zu bewerben. Und dort sagten sie, man sei froh, sie könne eine Weile unbezahlt arbeiten.”
Es werden fast 30 Jahre. Denn Edward Pickering, damals Direktor des Observatoriums, erkennt schnell das Potential dieser jungen Frau und bietet der 27jährigen 1895 eine Stelle als Assistentin an - die Bezahlung knapp unterm Mindestlohn. Dass Henrietta langsam ihr Gehör verliert, stört Pickering nicht, er braucht ihre mathematische Begabung für sein Mammutprojekt: die Vermessung des Himmels. “Es war eine Art Klassifizierung,” erklärt Johnson, “so wie Schmetterlinge-Sammeln. Pickering wollte alles katalogisieren, was es über den Sternenhimmel herauszufinden gab.” Eine umfassende Datenbank, ein 'Universum aus Glas', aus gläsernen Photoplatten nämlich.
Henriettas Arbeit fiel jedoch in eine ganz neue Entwicklung der Astronomie, die Astrophysik. “Und die, erläutert Dieter B. Herrmann, lange Jahre Direktor der Berliner Archenhold-Sternwarte, “war ja eine neue Disziplin. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts haben große Geister wie Bessel oder Gauß sie als Spinnerei abgetan. Dann aber entdeckten Kirchhoff und Bunsen die Spektralanalyse.”
Damit konnten sich die Astronomen Objekte aus Hunderten, ja Hunderttausenden Lichtjahren Entfernung sozusagen auf den Labortisch holen. Die “Spinner” eroberten die Astronomie, indem Frauen wie Henrietta Leavitt aus dem Licht eines Sterns, dem Spektrum, den chemischen Fingerabdruck des Sterns identifizierten. “Und da hat das Cambridger Observatorium Pionierarbeit geleistet,” unterstreicht Wissenschaftshistoriker Herrmann, “Die haben Hunderttausende solcher Spektren in Katalogen zusammengefasst.”
Durch den unermüdlichen Fleiß, die minutiöse Präzision und die unendliche Geduld einer Gruppe mathematisch versierter Frauen, scherzhaft “Pickerings Harem” genannt. “Man muss sich diese Frauen in einem Raum vorstellen, die Kleider hochgeschlossen, die Haare hochgesteckt - alles sehr viktorianisch,” beschreibt Johnson alte Fotografien. “Da sitzen sie konzentriert über den photographischen Glasplatten, um Positionen und Helligkeiten zu messen, und die Werte in Laborbüchern festzuhalten. Und mittendrin Henrietta Leavitt.” “Und Henrietta Leavitt” glaubt Herrmann, “war offensichtlich eine besonders begnadete Frau auf diesem Gebiet. Sie hat sich vor allem mit veränderlichen Sternen beschäftigt.”
Der erste derartige Stern wurde bereits 1784 im Sternbild Cepheus entdeckt, deshalb nannte man die Veränderlichen 'Cepheiden'. Es sind Sterne, die ihre Helligkeit im Rhythmus von Tagen oder Wochen verändern. Henrietta Leavitt suchte auf Photoplatten ein und derselben Stelle am Himmel, aber zu verschiedenen Zeiten photographiert, nach Lichtpunkten, die sich verändern, und enträtselte so langsam den Rhythmus. “Aber sie hat veränderliche Sterne nicht nur beobachtet,” betont Herrmann, “sondern auch Tausende neue entdeckt. Und dabei hat sie sich auch mit Veränderlichen Sternen in zwei kleinen Begleitsternsystemen unserer Milchstraße am Südlichen Sternenhimmel beschäftigt, mit der Großen und der Kleinen Magellansche Wolke.”
Eine eigens in Peru gebaute Sternwarte photographierte dort diese beiden Sternennebel, transportierte die fragilen Photoplatten per Maultier über abenteuerliche Wege zur Küste und verschiffte sie rund ums Kap Hoorn nach Boston Harbor, nicht weit von Cambridge.“Und bei der Untersuchung dieser Platten ist ihr was Merkwürdiges aufgefallen - was zeigt, dass sie eine echte Wissenschaftlerin war”, beschreibt Herrmann durchaus bewundernd, “Sie hat bemerkt, dass die Periode des Lichtwechsels dieser Sterne etwas mit ihrer Helligkeit zu tun hatte. Ein Stern mit geringerer Helligkeit hatte eine andere Periode des Lichtwechsels als einer mit größerer Helligkeit. Und da hatte sie eine geniale Idee: da diese Sterne alle in der kleinen Magellanschen Wolke liegen, sind sie alle etwa gleich weit entfernt.”
Das erlaubte Leavitt, die Periode veränderlicher Sterne mit ihrer Leuchtkraft zu verknüpfen. 1912 publiziert sie ihre Entdeckung unter dem lakonischen Titel:“1777 Variable in den Magellanschen Wolken” und konstatiert gegen Ende nüchtern: “Eine besondere Relation zwischen der Helligkeit und der Periodendauer sollte erwähnt werden. Die helleren Variablen haben die längeren Perioden.”
Damit aber hatte die aufmerksame Beobachterin - ohne es explizit auszusprechen - auch die Entfernung variabler Sterne mit deren gut messbarer Periode verbunden, denn Variable mit gleicher Periode, aber unterschiedlicher Helligkeit müssen unterschiedlich weit von der Erde entfernt sein. Könnte man die Entfernung einiger solcher Variabler auf klassische Weise messen, weil sie nahe genug sind, dann ließe sich die Relation zwischen Periode und Entfernung eichen. Damit aber, konstatiert Herrmann: “ist diese Perioden-Helligkeits-Beziehung von Frau Leavitt geeignet, um die Entfernungen aller möglichen Objekte im Weltall zu bestimmen, in denen solche Sterne vorkommen.”
Henrietta S. Leavitt hatte der Astronomie ein Metermaß für den Kosmos geschenkt.
Schon im Jahr darauf gelang die erste Eichung am Potsdamer Astrophysikalischen Observatorium. Schnell wurde es Routine, aus der Periode eines variablen Sterns seine Entfernung zu berechnen. “Die Perioden-Helligkeits-Beziehung ist ihre entscheidende Entdeckung gewesen,” stellt Dieter B. Herrmann fest, “weil die uns das Fenster in die Tiefen des Universums geöffnet hat.”
Doch die stille, in sich gekehrte Frau - es gibt weder Briefe noch Tagebücher - musste ihre grundlegende Arbeit am Observatorium immer wieder unterbrechen, wegen langwieriger Krankheiten und um den Eltern zu helfen. So scheinen Leben und Arbeit fast ein Spiegelbild ihrer Lieblingssterne: periodisch hell und dunkel. Wie wichtig Leavitts Arbeit war, zeigen Pickerings Briefe, wenn sie wieder einmal länger aussetzen musste. Inständig bittet er sie, doch sein Lieblingsprojekt weiter zu bearbeiten: extrem präzise Helligkeitsmessungen an einer Stern-Gruppe um den Polarstern - sie sollen einen neuen Standard setzen. 1917 präsentiert die 49jährige tatsächlich das Resultat ihres akribischen Riesenaufwands. Auch andere wollen von Leavitts Können profitieren. Harlow Shapley - Pickerings Nachfolger am Harvard Observatorium - macht ihr ein Kompliment nicht ohne Hintergedanken: “Ich glaube, ihre Entdeckung der Relation von Periode zu Helligkeit wird zu den wichtigsten Ergebnissen der Astronomie gehören.” Mit Leavitts Variablen-Expertise untersucht Shapley Größe, Form und Zentrum der Milchstraße. Sein Resultat sprengt das alte Weltbild: Die gigantische Größe unserer Milchstraße zeigt für ihn: unsere Galaxie stellt das gesamte Universum dar. Die Erde lag nicht mehr im Zentrum, der Mensch schien nur eine Randfigur. Allerdings wird dieses Universum nicht unwidersprochen akzeptiert.
Während die Astronomen noch erbittert über die Frage streiten, ob wirklich alles am Himmel Teil unserer Milchstraße ist, bringt der Magenkrebs Henrietta Swan Leavitt langsam um, bis sie im Dezember 1921 stirbt, 53 Jahre alt.
Ihre Perioden-Helligkeits-Relation aber enthüllt schon zwei Jahre darauf ein noch grandioseres Universum. Durch Edwin Hubble, einen jungen Astronomen am weltgrößten Teleskop auf dem Mount Wilson. “Hubble hat bei der Betrachtung eines anderen Nebelflecks am Himmel, des Andromedanebels, festgestellt,” konstatiert Prof. Herrmann, “dass in diesem Nebel Delta-Cephei-Sterne stehen, d.h. also Sterne, von denen man auf Grund ihrer Lichtwechselperiode die Entfernung bestimmen konnte. Und das war ein Paukenschlag, denn dabei stellte er fest, dass der Andromedanebel ganz weit außerhalb unseres Milchstraßensystems liegt, und das war die erste große Entdeckung eines extragalaktischen Objekts. Und dieses Vordringen in die Tiefen des Universums war der Grundstein der modernen Kosmologie.”
Der Kosmologie des Urknalls. Das Fundament dazu hatte Henrietta Swan Leavitt gelegt. Und deshalb heißt ihre 'Perioden-Helligkeits-Relation' nun 'Leavitt's Law'. Das ist auch auch nach ihrem Tod möglich und gilt in der Naturwissenschaft mehr als ein Nobelpreis.
Verfasserin: Wolfgang Burgmer
Literatur & Quellen
Henrietta S. Leavitt: 1777 Variables in the Magellanic Clouds. Annals of Harvard College Observatory, Vol. LX., No. IV, 1908, S. 87-110
George Johnson: Miss Leavitt's Stars. The Untold Story of the Woman Who Discovered how to Measure the Universe. New York/London 2005
Dava Sobel: The Glass Universe. How the Ladies of the Harvard Observatory Took the Measure of the Stars. New York 2016.
Dieter B. Herrmann: Kosmische Weiten. Kurze Geschichte der Entfernungsmessung im Weltall. 3. überarb. Aufl. Thun/Frankfurt 1990
J.D. Fernie: The Period-Luminosity-Relation: A Historic Review. Publications of the Astronomical Society of the Pacific, Vol. 81, No. 483, December 1969.
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