geboren am 31. Januar 1937 in Berlin
deutsche Filmregisseurin, Schriftstellerin, Schauspielerin und feministische Theoretikerin und Aktivistin
85. Geburtstag am 31. Januar 2022
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
“Wenn man nachdenkt, radikalisiert man sich ja auch”, sagt Helke Sander im Gespräch mit Renate Fischetti (47). Politisch und künstlerisch ist die Pionierin der Frauenbewegung und des Films ihrer Zeit stets weit voraus. “Sie begann gesellschaftliche Strukturen und politische Visionen konsequent aus der Sicht von Frauen und Kindern zu prüfen und ist diesem Prinzip bis heute verpflichtet.” (Politeia: HS Einführung). Mit Themen wie der Doppelbelastung der Frau, den Widersprüchen zwischen politischem Bewußtsein und persönlichem Handeln, vor allem der lange verschwiegenen Geschichte von Vergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkriegs erntete die unbequeme Filmemacherin sowohl begeisterte Zustimmung als auch empörte Kritik – und versiegende Fördergelder. Ihre “radikal unkonventionell[en]” Filme (Fischetti 36) entwickeln eine neue, experimentelle Filmsprache, offen für komplexe Deutungen.
Die Achtjährige erlebt 1945 zusammen mit der Mutter den Feuersturm über Dresden. Bis zum Abitur 1957 in Remscheid besucht das Mädchen etwa 15 Schulen in verschiedenen Städten, dann die Schauspielschule von Ida Ehre in Hamburg. 1959 heiratet sie den finnischen Schriftsteller Markku Lahtela und zieht nach Helsinki, wo ihr Sohn Silvo geboren wird. Während der nächsten Jahre studiert Helke Sander Germanistik und Psychologie an der Universität Helsinki und arbeitet als Regisseurin für das Finnische Arbeitertheater und fürs Fernsehen. “Sie gehörte zu den neuen namhaften Regisseuren, kriegte alles, was sie wollte und das beunruhigte sie und davor flüchtete sie.”
1965 kehrt sie mit Silvo in die Bundesrepublik zurück, studiert 1966-69 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und arbeitet nebenbei als Reporterin und Übersetzerin, um sich und Silvo zu ernähren. “Ich habe einfach wie eine Irrwitzige gearbeitet. Und ich hatte trotzdem immer sehr wenig Geld. Ich konnte nicht einmal ins Kino gehen”. Sie engagiert sich trotzdem im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und ist Mitbegründerin des “Aktionsrats zur Befreiung der Frauen” (Januar 68), der die Kinderläden erfindet, und der Frauengruppe “Brot und Rosen” (1971). 1968 hält Sander eine Rede bei der SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt/Main, erklärt das Private für politisch und verlangt, dass der SDS sich der Politik der Frauen anschließen solle. Als die Männer ungerührt zur Tagesordnung zurückkehren wollen, wirft Sigrid Rüger die berühmte Tomate, und die neue deutsche Frauenbewegung nimmt ihren Lauf.
Zwei Filme bearbeiten die Thematik dieser Zeit: Brecht die Macht der Manipulateure (1967/8) und der subjektive faktor (1981). Kinder sind keine Rinder (1969/70) ist eine Dokumentation über Kinder in einem Schülerladen, und Eine Prämie für Irene (1971), thematisiert die doppelte Ausbeutung der Frau in Familie und Fabrik. Sander kämpft auch gegen den § 218 und dreht 1972 zusammen mit Sarah Schumann den Film Macht die Pille frei?
Gemeinsam mit der Regisseurin Claudia von Alemann organisiert Sander 1973 das erste europäische Frauenfilmfestival in Berlin, mit 40 deutschen Erstaufführungen. Im Jahr darauf gründet sie Frauen und Film, die “einzige europäische feministische Filmzeitschrift”, damit der Sexismus in deutschen Filmen analysiert wird und Filme von Frauen überhaupt öffentlich diskutiert werden, und arbeitet als deren Herausgeberin, Redakteurin und Autorin bis 1982. Mit der Zeitschrift habe sie sich dagegen gewehrt, daß sie überhaupt keine Arbeit bekam, “weil ich eine Sozialistin und eine Feministin war” (Fischetti 50). Der Mangel an öffentlicher sowie privater Förderung sollte die kompromißlose, experimentelle Filmemacherin weiterhin massiv in ihrer Arbeit behindern.
Sanders erster abendfüllender Film, Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – REDUPERS (1977), zeigt die Problematik einer vielältig begabten und herausgeforderten Künstlerin, Mutter, Freundin, Bürgerin in Berlin (gespielt von der Regisseurin), wie sie und andere Frauen versuchen, das Leben beruflich, finanziell, politisch und persönlich zu meistern. Der Film “spricht eine neue Filmsprache. Es ist der erste feministische Spielfilm der Bundesrepublik” (Fischetti 30) und bekommt mehrere internationale Preise. Der subjektive Faktor (1980-81), der die Berliner Studentenbewegung und die Entstehung der Frauenbewegung behandelt, wird auf der Biennale in Venedig ausgezeichnet.
Sander spielt noch einmal eine Hauptrolle in Der Beginn aller Schrecken ist Liebe (1983/88), in dem die Geschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen mit Witz und Ironie und aus der Sicht von Frauen dargestellt wird. Für den Kurzfilm Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste – Nr. 1 (1984) über eine Frau, die mit zwei Kindern auf den Ausleger eines hohen Baukrans klettert, bekommt Sander den Goldenen Bären der Berlinale und den Bundesfilmpreis in Silber.
Zusammen mit Margarethe von Trotta, Christel Buschmann und Helma Sanders-Brahms realisiert sie 1986 den Episodenfilm Felix. 1989 untersucht Die Deutschen und ihre Männer – Bericht aus Bonn, ein Dokumentarfilm mit fiktiven Elementen, den Niederschlag feministischer Aufklärung – nach 20 Jahren Frauenbewegung – bei männlichen Abgeordneten, Staatssekretären, dem Bundeskanzler und dem kleinen Mann auf der Strasse. (In dem Film tritt auch Luise F. Pusch als Interviewerin auf und bringt Statistiken ein über Vergewaltigung: 330 000 Frauen jährlich werden in der Bundesrepublik vergewaltigt.) Die meisten Befragten geben zu, sich manchmal zu schämen, Deutscher zu sein, sehen aber keinen Grund, sich als Mann zu schämen.
Nach achtjähriger Forschungsarbeit bringt Helke Sander 1991/92 ihren zweiteiligen Dokumentarfilm BeFreier und Befreite: Krieg, Vergewaltigungen, Kinder (auch, zusammen mit Barbara Johr, als Buch) heraus. Zum ersten Mal werden im Film die Massenvergewaltigungen von deutschen Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges ernsthaft angesprochen - in Interviews kommen viele der Frauen selbst zu Wort und sprechen auch über die späteren Folgen ihres Traumas. Hier wie sonstwo ist Helke Sander ihrer Zeit voraus; der Film provoziert heftige Diskussionen in Deutschland und den USA und wird zum Teil als revisionistisch kritisiert, zum Teil als überfällige, gelungene Darstellung eines wichtigen, komplexen Kapitels deutscher Geschichte gelobt.
Krieg und Sexuelle Gewalt (1992) ist eine Reportage aus Flüchtlingslagern in Österreich und Ungarn während des serbisch-bosnischen Krieges. Muttertier – Muttermensch (1998) untersucht die Stellungnahme heutiger Frauen zur Mutterrolle. 2001 zeigt der Dokumentarfilm Dorf, wie “das Landleben in den Zeiten der Globalisierung … zum Abenteuer wird”. In ihrem jüngsten Film Mitten im Malestream (2005) untersucht Helke Sander die Geschichte der neuen deutschen Frauenbewegung, ihre Kernfragen und Konflikte, z.B. die Mütterpolitik, die 218-Kampagne, den Gebärstreik von Frauen. Der Film ist allerdings keine bloße “Illustrierung” der Phasen und Fragestellungen der Frauenbewegung. Künstlerisch kommt Sander ja eher vom Experimentellen her als vom Narrativ-Dokumentarischen - ein Zug, der ihr gesamtes Oeuvre kennzeichnet.
Helke Sander ist auch schriftstellerisch und publizistisch aktiv: Die Geschichten der drei Damen K., kühl-ironische Erzählungen aus feministischer Perspektive über Frauen und Männer (1987), werden in fünf Sprachen übersetzt. 1991 folgt die Erzählung Oh Lucy, über den “ersten Menschen”, eine Frau.
1981-2001 lehrte Sander als Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. 1989 wurde sie Mitbegründerin des Bremer Instituts Film/Fernsehen und blieb dessen Kodirektorin bis 1993. 1985 wurde sie in die Westberliner Akademie der Künste gewählt, aus der sie später wegen “Frauenfeindlichkeit und Filz” wieder austrat. 2003 wurde Helke Sander mit einer Retrospektive aller ihrer Filme im Kino “Arsenal” in Berlin geehrt.
Trotz der vielen Preise und Ehrungen bekam die unbequeme Regisseurin oft nicht die nötigsten Gelder für ihre Projekte. Dem Malestream ist Helke Sander einfach zu radikal.
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Natürlich erschöpft sich das filmische Werk Helke Sanders nicht mit den hier genannten Filmen. Mehr über das Gesamtwerk und die Filme im einzelnen ist zu erfahren über den Cinegraphen Hamburg. Ein Grossteil der Filme wird spätestens im Februar 2007 als DVD-Edition auf Deutsch und Englisch bei Neue Visionen Berlin zu erhalten sein. Die Originalfilme befinden sich in der Stiftung Deutsche Kinemathek/ Filmmuseum Berlin. Dort gibt es auch einen Verleihkatalog.
Verfasserin: Joey Horsley
Links
Helke Sander über Sibylle Plogstedt
Helke Sander über Bettina Röhl
Luise F. Pusch über “Fantasie und Arbeit” (2009) von Iris Gusner & Helke Sander
Luise F. Pusch über Helke Sanders “Der letzte Geschlechtsverkehr” (2011)
Literatur & Quellen
Helke Sander in der International Movie Database
Helke Sander in der Deutschen Nationalbibliothek
Fischetti, Renate. 1992. “'Die Anstrengung besteht im Grunde darin, nicht so festgelegt zu werden…' – Gespräch mit Helke Sander.” In: dies. Das neue Kino – Acht Porträts von deutschen Regisseurinnen. Dülmen-Hiddingsel, Frankfurt/M.: tende. S. 40-59.
Fischetti, Renate. 1992. “Politik und Kunst – Die Filmemacherin Helke Sander. In: dies. Das neue Kino – Acht Porträts von deutschen Regisseurinnen. Dülmen-Hiddingsel, Frankfurt/M.: tende. S. 27-39, 272-276 (Bibliographie).
Gusner, Iris & Helke Sander. Fantasie und Arbeit: Biografische Zwiesprache.Marburg. Schüren Verlag 2009.
Helke Sander: Mit den Füßen auf der Erde, mit dem Kopf in den Wolken. Kinemathek Heft 97, Jg. 40 (Oktober, 2003). Freunde der Deutschen Kinemathek e.V., Berlin. 172 S. (Texte von und über Helke Sander; kommentierte Filmographie und Bibliographie)
McCormick, Richard W. 2001. “Rape and War, Gender and Nation, Victims and Victimizers: Helke Sander's BeFreier und Befreite.” Camera Obscura. 16/46. Baltimore, MD. S. 99-141. (Ausführliche, kenntnisreiche Besprechung des Films und der Kontroverse um ihn. Verteidigt den Film gegen die Vorwürfe des Essentialismus, Revisionismus und Reduktionismus)
Sander, Helke. 1991 [1987]. Die Geschichten der drei Damen K. München. dtv.
Sander, Helke. 1995 [1991]. Oh Lucy: Roman. München. Goldmann.
Helke Sander: Der letzte Geschlechtsverkehr und andere Geschichten vom Altern. München. Verlag Antje Kunstmann 2011.
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