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geboren am 14. März 1899 in Orange, Essex County, New Jersey (USA)
gestorben am 27. Oktober 1933 in Orange, New Jersey (USA)
US-amerikanische Arbeiterin, die wegen Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz einen Prozess gegen ihren Arbeitgeber initiierte und damit zukünftige Klagen ermöglichte.
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Grace Fryer war das 22. Todesopfer einer menschengefährdenden Praxis: Die Fabrikarbeit mit Radium. Nach ihr ist heute das Stipendium Grace Fryer Scholarship benannt.
Grace Fryer wurde am 14. März 1899 als eines von elf Kindern in einer kleinen Stadt nahe New York City geboren. Ihr Vater war bereits in der Gewerkschaft aktiv.
Als die United States Radium Corporation 1917 an ihrem Wohnort eine Anlage zur Auslaugung von Radium aus Carnotit errichtete, wurde die 18-jährige Grace Fryer dort eine der ersten Arbeiterinnen - gemeinsam mit 70 Kolleginnen. Sie arbeiteten an langen Tischen in einem großen, staubigen Raum. Ihre Aufgabe war, ‚glow-in-the-dark‘-Farbe auf verschiedene Gegenstände aufzutragen. Die benutzte Farbe, die nachts leuchtete, war ein Gemisch aus Radium, Zinksulfid, Gummi arabicum und Wasser und wurde unter dem Namen Undark verkauft.
Radium galt damals als ein Wunder-Elixier, das auch zur Krebsbekämpfung eingesetzt wurde. Menschen tranken sogar Radium-Getränke.
Grace bemalte hauptsächlich Uhrenzeiger, sodann Instrumente und Spielzeug. Direkt ab 1917, dem Jahr des Kriegs-Eintritts der USA in den Ersten Weltkrieg, fertigten die Arbeiterinnen Gegenstände der Kriegswirtschaft. Soldaten der US-amerikanischen Infanterie konnten nun ihre Instrumente im Dunklen nutzen. Bald dienten sie auch zur Markierung von Hausnummern, wieder andere Firmen produzierten leuchtende Puppenaugen. Frauen wie Grace Fryer waren froh über einen bezahlten Arbeitsplatz. Eine gute Arbeiterin wie Grace schaffte um die 250 Uhren am Tag. Allein die US Radium Corporation beschäftigte um 1926 mehr als 4.000 solcher ‚dial painters‘. Weitere Fabriken der US Radium Corporation, die Höhen- und Zeitmesser mit Leuchtziffern produzieren ließen, gab es in Connecticut, Illinois und im kanadischen Ottawa.
Dabei setzten sich die Frauen größter Gefahr aus, indem sie auf Anweisung der Vorarbeiter ihre Arbeitspinsel im Mund anfeuchteten (Methode “lip, dip, paint”) und längten, um einen feinen Pinselstrich zu erzeugen.
Ihr Material ging auf das Ehepaar Marie und Pierre Curie zurück, diese hatten einem US-amerikanischen Beleuchtungsingenieur 1902 Radium-Salz-Kristalle geschenkt. Er stellte daraus Pulver her – ein Gemenge aus Radium-Zink-Sulfid. Die leuchtende Farbe war völlig ohne Geschmack. Sie war extrem gefährlich; der Hauptbestandteil von Undark war ca. eine Million Mal aggressiver als Uran. In den 1910-er Jahren war die Gefährlichkeit von Radium immer noch nicht überall bekannt, aber bereits eine immense Steigerung von Erkrankungen dokumentiert. 1906 erschien eine Broschüre der US Radium mit Hinweisen auf “Radium Dangers - Injurious Effects”. Die Fabrikbesitzer, Chemiker und Vorarbeiter vermieden daher jeglichen Kontakt mit den Kristallen, schützten sich mit Bleiabschirmungen und Masken. Den Arbeiterinnen gegenüber wurden die Gefahren geleugnet und behauptet, das radioaktive Element sei sehr gering, es schädige nur Gegenstände, nicht die damit arbeitenden Frauen.
Unwissentlich zogen sich die Frauen jedoch massive Vergiftungen zu. Sie nahmen zwischen wenigen Hundert bis einigen Tausend microcuries Radium jährlich zu sich. (Heute gilt ein Zehntel microcurie als Höchstwert der verträglichen Aufnahme.) Einige der Arbeiterinnen bemalten aus Übermut ihre Nägel, Gesichter oder sogar Zähne mit der Substanz - und leuchteten bei Nacht auf dem Heimweg oder im Kino.
Grace Fryer war von jeher ein politischer Mensch, z.B. war sie Befürworterin des Kampfes um das Frauenwahlrecht. (1)
Sie bemerkte 1922, dass nach dem Naseputzen das Taschentuch glühte und sie Krankheitsbeschwerden bekam. Zwar hatte sie bereits 1920 die Fabrik verlassen, einen guten Job in einer Bank als Kassiererin angenommen, aber es war zu spät. Ihr fielen ohne erkennbaren Grund die Zähne aus. (2) Ihr Kiefer wurde durch einen schmerzhaften Abszess entstellt. Ärzte mit Erfahrung gab es nicht. Die ÄrztInnen des Ortes standen z.T. auf Seiten der Firmenleitung. Ein angeblicher Forscher der Columbia University, Frederick Flynn, behauptete noch 1925, sie sei gesund – er stand auf der Gehaltsliste von US Radium und war gar kein Arzt, sondern Toxikologe. Nicht selten wurde sogar behauptet, die Frauen hätten Syphilis und so ihr Ruf geschädigt.
Ein anderer Arzt diagnostizierte schweren Knochenverfall, in einem Ausmaß, das bisher unbekannt war – der Kieferknochen war wabenförmig mit kleinen Löchern durchsetzt - heute als Radiumkiefer bekannt, aber er berücksichtigte ihren Arbeitsplatz nicht. Negative Forschungsberichte wie der eines Dr. Drinker, der eine starke Kontaminierung der Belegschaft und eine fortgeschrittene Radiumnekrose bei mehreren Arbeiterinnen festgestellt hatte und Änderungen gefordert hatte, wurden umgeschrieben und schöngefärbt. Der Präsident der Fabrik U.S. Radium, Arthur Roeder, verweigerte sich Veränderungen und bedrohte den Wissenschaftler.
Bereits 1923 gab es das erste Todesopfer – und mehr als 50 erkrankten genauso wie Fryer. Die ehemalige Firmenmitarbeiterin startete nun einen Arbeitskampf gegen die mächtige Company.
Zeitgleich schaltete ein Mitarbeiter des städtischen Gesundheitsamtes in Orange, New Jersey eine außermedizinische Organisation ein, die Consumers League, da in seinem Zuständigkeitsbereich viele Arbeiterinnen an Blutarmut, Knochenbrüchen und Nekrose des Kiefers erkrankten bzw. starben. Phosphor galt als mutmaßlicher Verursacher. Die Direktorin der Verbraucherorganisation Katherine Wiley und der gewiefte Journalist Walter Lippmann waren bereit, die fünf Frauen zu unterstützen. Sie hatten bereits zuvor für sichere Arbeitsplätze und Mindestlöhne gekämpft. Nun gewannen sie die Harvard-Wissenschaftlerin Alice Hamilton, eine Expertin für Fragen der Gesundheit von Arbeitnehmer*innen, für eine Kooperation, die bereits auf ähnliche Fälle aufmerksam geworden war. Katherine Wiley forderte U.S. Radium auf, einen Teil der medizinischen Kosten für Grace Fryer und die anderen Geschädigten zu übernehmen, ohne Erfolg.
Nun galt es, gerichtlich vorzugehen. Es dauerte zwei Jahre, bis Grace einen jungen Juristen gefunden hatte, der bereit war, den Fall zu übernehmen: Raymond Berry. Er reichte am 18. Mai 1927 in ihrem Namen im Supreme Court New Jersey Klage ein. Grace hatte vier mutige Mitstreiterinnen gefunden, die bereit waren, die Klage mitzutragen: Edna Hussman, Katherine Schaub und die Schwestern Quinta Maggia McDonald und Albina Maggia Larice, deren dritte Schwester Amelia Maggia schon 1922 verstorben war. Jede von ihnen forderte eine Entschädigung in Höhe von 250.000 Dollar für medizinische Kosten und als Schadensersatz wegen der Schmerzen.
Die klagenden Fabrikarbeiterinnen kamen amerikaweit und dann auch in Europa in die Medien, zunächst oft belächelt oder verhöhnt. Die Schilderungen ihres verheerenden Gesundheitszustands erreichten Marie Curie in Paris. “Ich wäre nur zu gerne bereit, jede erdenkliche Hilfe zu leisten”, sagte sie, aber sie wusste: “Es gibt absolut keine Möglichkeit, die Substanz zu zerstören, wenn sie einmal in den menschlichen Körper gelangt ist.” (3) Sie starb selbst 1934 an Radium-Vergiftung. Die Betroffenen verarmten angesichts der Rechnungen von ÄrztInnen. Der Prozess wurde so lange hinausgezögert, damit die Frauen bereits vor Beginn sterben würden… Eine Solidaritätskampagne – Tausende Unterstützungsbriefe trudelten ein - bewirkte, dass er im Juni 1928 doch beginnen konnte. Es erfolgte ein Meinungsumschwung - langsam kam Mitgefühl auf. Nun wurden sie zu den bewunderten „Radium Girls”.
Als der Prozess endlich begann, waren die fünf Frauen dem Tod geweiht. Sie konnten kaum vor Gericht erscheinen, geschweige den Arm zum Schwur erheben. Der Anwalt bewirkte aufgrund des schlechten Zustandes ein Agreement, das für die Firma günstig war, aber den Frauen für ihre restlichen Tage noch eine kleine Summe zubilligte. Die eindringliche Berichterstattung bewirkte, dass es auch zu einer moralischen Verurteilung kam.
Die ‚Radium Girls‘ wurden als Opfer, aber auch als Klägerinnen gegen die US-amerikanische Industrie im Gedächtnis gehalten. Sie hatten den Bemühungen der Arbeitgeber getrotzt, sie zu betrügen, denunzieren und umzubringen. Viele andere erlitten das gleiche Schicksal, ohne dass das Verbrechen gesühnt worden wäre.
Ende 1929 starb Quinta Maggia McDonald im Alter von 29 Jahren. Wenig später konnte Dr. Drinker endlich auch seinen Originalbericht in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen.
Der Prozess gilt als seltener Präzedenzfall für ArbeiterInnen, die erfolgreich ihren Arbeitgeber verklagten. Mit diesem Fall wurde das Recht einzelner ArbeiterInnen gesetzlich etabliert, die Firma zu verklagen, für die sie gearbeitet hatten und dabei erkrankt waren, auch wenn sie die Fabrik schon verlassen hatten. Die Zeitspanne, in der ArbeitnehmerInnen Ansprüche geltend machen konnten, wurde verlängert. Er bewirkte zudem eine Erhöhung des Strahlenschutzes. Es folgte die Einführung von Arbeitsschutzbestimmungen - 1941 legte das National Bureau of Standards die Grenzwerte für Radium auf 0.1 Mikrocurie fest.
Grace Fryer starb 1933 im Alter von 34 Jahren – sie war das 22. bekannte Todesopfer dieser menschengefährdenden Arbeitspraxis. Sie liegt auf dem Friedhof Restland Memorial Park in East Hanover, New Jersey begraben.
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Es gibt im englischen Sprachraum eine zunehmende kulturelle und wissenschaftliche Rezeption zu den ‚Radium Girls‘ und speziell zu Grace Fryer. (4) Es erschienen
• Gedichte (Radium Girls von Eleanor Swanson (5), The Innocence of Radium von Lavinia Greenlaw),
• Theaterstücke (Radium Girls von D. W. Gregory (6)- viele junge Schauspielerinnen bewerben sich mit Dialogen aus dem Stück),
• Romane oder Nebenhandlungen in Romanen (Glowing Times von Stephanie Vonwiller, Luminous. The Story of a Radium Girl von Samantha Wilcoxson, The Only Harmless Great Thing von Brooke Bolander, Radium Halos. A novel about the Radium Dial Painters von Shelley Stout, Jailbird von Kurt Vonnegut, Treibsand von Henning Mankel, Zorrie von Laird Hunt), • Filme (der Spielfilm Radium Girls 2020 (7); Dokumentationen wie 1000 Wege, ins Gras zu beißen, Folge 196: Tödliches Leuchten; USA: Der Skandal um die „Radium Girls“/arte (8), Der tragische Tod der Ziffernblatt-Mädchen - Radium Girls (9) u.a.m.;),
• ein Lied (Idlewild; „Radium Girl“),
• eine Graphic Novel (Cy: Radium Girls – Ihr Kampf um Gerechtigkeit, 2021) sowie viele wissenschaftliche Texte.
Das Stipendium, Grace Fryer Scholarship for Female Watchmaking Students von der Trustees of the Horological Society of New York ist nach der wichtigsten Aktivistin des Kampfes benannt.
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(1) https://medium.com/@sheakeatingwriting/grace-fryer-women-of-history-fdf245f52a42
(2) https://www.damninteresting.com/undark-and-the-radium-girls/
(3) https://www.damninteresting.com/undark-and-the-radium-girls/ “Radium Poison Hopeless” New York Journal, May 26, 1926.
(4) Hinweise u.a. auf https://de.wikipedia.org/wiki/Radium_Girls
(5) https://coloradopoetscenter.org/poets/swanson_eleanor/radium.html
(6) Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=946_MANx1nU
(7) https://www.youtube.com/watch?v=7RxnIriKLRk
(8) https://www.youtube.com/watch?v=hxRdchbR0Gk
(9) https://www.youtube.com/watch?v=Ib65LsgZxpc
Verfasserin: Irene Franken
Links
https://medium.com/@sheakeatingwriting/grace-fryer-women-of-history-fdf245f52a42
https://de.findagrave.com/memorial/94090188/grace-fryer, mit verschiedenen Fotos
https://www.zeitpunkte.eu/2018/07/wie-hell-es-leuchtet/
https://web.archive.org/web/20141014065110/http://www.waterburyobserver.org/node/586
https://web.archive.org/web/20081219100405/http:/www.umdnj.edu/librweb/speccoll/USRadiumCorp.html
https://medium.com/@sheakeatingwriting/grace-fryer-women-of-history-fdf245f52a42
https://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,731868,00.html
https://web.archive.org/web/20081219100405/http://www.umdnj.edu/librweb/speccoll/USRadiumCorp.html
https://archive.org/details/sim_womans-journal_1928-06_13_6/page/22/mode/2up
https://content.time.com/time/subscriber/article/0,33009,731868,00.html
https://en.wikipedia.org/wiki/Grace_Fryer
Literatur & Quellen
Clark, Claudia (1997). Radium Girls. Women and Industrial Health Reform 1910-1935. Chapel Hill, NC.
Kovarik, Bill (William) and Mark Neuzil (1996): Mass Media and Environmental Conflict: America's Green Crusades, Los Angeles, London, New Delhi, u.a.
online: https://environmentalhistory.org/people/radiumgirls/
dort sind zahlreiche zeitgenössische Quellen zitiert.
Moore, Kate (2017): The Radium Girls. The Dark Story of America's Shining Women – Lesung: Kate Moore: The Radium Girls – youtube Film aus Seattle Town Hall & University Bookstore aufnahme: 19. Mai 2017.
Mullner, Ross (1999): Deadly Glow. The Radium Dial Worker Tragedy, Washington, DC.
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