geboren am 16. September 1902 in Grans bei Salon-de-Provence
gestorben am 31. Juli 1959 in Montpellier
französische Bildhauerin und Grafikerin
65. Todestag am 31. Juli 2024
Biografie • Zitate • Literatur & Quellen
Biografie
Aggressive, überdimensionale Heuschrecken, Ameisen, Fledermäuse oder Gottesanbeterinnen, die zugleich ausgemergelte, deformierte Frauen sein könnten – auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität schuf die südfranzösische Bildhauerin Germaine Richier Zwitterwesen, die Angst offenbar zugleich auslösen und empfinden. Energiegeladen, fast physisch lebendig setzen sie mit dürren Beinchen scheinbar zum Sprung, zum Angriff auf die BetrachterIn an. Sie faszinieren auch jene, die reale Insekten meist übersehen oder als nervende Störenfriede zerquetschen. Für Germaine Richier aber bedeuteten sie einerseits den Formenreichtum und die Artenvielfalt der Natur in ihrer mediterranen Heimat, andrerseits Sinnbilder für den nach dem Zweiten Weltkrieg existenziell verletzlichen, verunsicherten und aller Humanität entfremdeten Menschen.
Neben ihren künstlerischen Weggefährten wie Pablo Picasso, Henri Laurens, Alberto Giacometti und Marino Marini hat Richier mit ihren Insektenfrauen einen ganz eigenwilligen und unabhängigen Beitrag zur Geschichte der figurativen Skulptur ihrer Zeit geschaffen. Weit mehr als ihre männlichen Kollegen analysierte sie in ihren Werken die Essenz des Seins im Schatten von Krieg, Verfolgung und Völkermord. Mit ihrer Variante von expressivem Realismus, Surrealismus und existenzialistischer Skulptur gilt sie als eine der bedeutendsten BildhauerInnen des vergangenen Jahrhunderts.
Germaine Richier stammt einer alten Winzerfamilie, geboren wurde sie im noch neuen Jahrhundert in dem Dorf Grans östlich der Camargue; auf dem Familiengut in Castelnau-le-Lez in der Nähe von Montpellier wuchs sie auf - fern der Kunstszene des Jahrhundertanfangs mit ihren wechselnden -ismen. Und doch entschloss sie sich früh, allen Widerständen zum Trotz Bildhauerin zu werden. Sie lernte ihre Kunst bei Louis-Jacques Guiges an der Ecole des Beaux Arts in Montpellier und arbeitete – wie neben anderen auch Alberto Giacometti - ab 1926 im Pariser Atelier von Antoine Bourdelle, der wie Guiges stark von seinem Lehrmeister Auguste Rodin geprägt war. So lernte Richier zunächst die Moderne der klassischen Bildhauertradition kennen, die „Kunst des Inneren“ und die „Triangulation“, eine geometrische Formenaufnahme, die auf Dreiecken basiert. Entsprechend formte sie am Anfang ihrer Karriere eher realistische Portraits, Figuren und Torsi.
1929 beendete Germaine Richier ihre Lehrzeit. Sie bezog ein eigenes Atelier am Montparnasse und heiratete ihren Schweizer Kollegen Otto Charles Bänninger. Als Frau in einer Männerdomäne gelang es Richier erstaunlich schnell, sich in der boomenden Pariser Kunstszene wie auch international durchzusetzen. Fünf Jahre später zeigte sie ihre erste Einzelausstellung in der renommierten Pariser Galerie Max Kaganovitch, 1936 erhielt sie in New York als erste Frau überhaupt den mit einem Stipendium verbundenen Prix Blumenthal für Skulptur, 1937 eine Ehrenmedaille auf der Pariser Weltausstellung und 1939 stellte sie auch auf der New Yorker Expo im französischen Pavillon aus.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unterbrach zunächst diese steile Karriere. Nach einem Urlaub blieb Germaine Richier mit ihrem Mann in der neutralen Schweiz. In Zürich kam sie schnell in Kontakt mit einflussreichen Kollegen wie Marino Marini und Fritz Wotruba, bildete Schüler aus und zeigte ihre Arbeiten in Winterthur und Basel. Doch bald nach dem Krieg kehrte Richier nach Paris zurück – ohne ihren Mann, von dem sie sich 1952 endgültig trennte. Zwei Jahre später heiratete sie den zwölf Jahre jüngeren, in Künstlerkreisen sehr geschätzten Lyriker und Kunstkritiker René de Solier.
Gleich auf der ersten Nachkriegs-Biennale in Venedig präsentierte sie 1948 ihre sehr virile Skulptur „L'orage“ (der Sturm) – und dazu „L'ouragane“ (der Orkan), eine kräftige Frau als Symbol der Überlebenden. Zehn Jahre später war sie noch einmal in Venedig dabei. Auch an der 1. Biennale von São Paulo 1951 und an der documenta 2 in Kassel 1959 nahm sie teil. 1949 erregte ihr “Christus am Kreuz“ einen Skandal, der für viel Publicity sorgte. Geschaffen für die von zahlreichen Prominenten dekorierte Kirche Notre-Dame-de-Toute-Grâce auf der Hochebene von Assy am Mont Blanc, hatte Richier den kreuzförmigen Christuskörper fast mit dem Kruzifix verschmelzen lassen. Offenbar empörten sich konservative Kreise weniger über die unkonventionelle Darstellung als darüber, dass sich eine Frau an die bis dato Männern vorbehaltene Sakralkunst gewagt hatte. Erst zwölf Jahre nach ihrem Tod kehrte dieser Christus nach einer Intervention des Vatikan auf seinen Platz zurück.
Richier blieb international gefragt: Unter anderem stellte sie im Amsterdamer Stedelijk Museum, im Pariser Musée nationale d’art moderne, im Palais de la Mediterranée in Nizza und in der New Yorker Martha Jackson Gallery aus. In den letzten beiden Jahren ihres Lebens zog sie sich, bereits schwerkrank, nach Arles zurück, in die Landschaft ihrer Kindheit. Während der Vorbereitungen für eine große Retrospektive mit 116 Skulpturen im Musée Picasso in Antibes ist Germaine Richier am 31. Juli 1959 an Krebs gestorben.
Richiers plastisches Frühwerk zeigt noch die Einflüsse von Rodin und Bourdelle, aber auch der Surrealisten. Prägend für sie wurden später die Abgüsse der in Lava erstarrten Menschen in Pompeji. Nach ihrer Emigration in die Schweiz ließ sie die bildhauerische Tradition ihrer Lehrmeister weitgehend hinter sich. Mit dem Wissen um die Greueltaten der Nazis flüchtete Richier verstärkt in die unbeherrschbare Natur des immer wieder besuchten, sonnendurchglühten Midi. Dort sammelte sie schon seit ihrer Kindheit „objets trouvés“: vertrocknete Insekten, Kleintiere, Äste, Rinden, Pflanzen, Mineralien und Knochen. All diese Naturmaterialien setzt sie später in ihren Gips- oder Tonvorlagen ein, um dann im Bronzeguss eine möglichst organische Wirkung zu erreichen. Und so entwickelte sie aus ihren Visionen vom Zerfall der Zivilisation und der Humanität jene dem Organischen angenäherten hybriden Wesen, in denen sich mutierte Kleintiere und ausgehungerte Menschenreste, Pflanzenteile und Mineralien treffen.
Weit aufgerissene Augen starren in geschrumpften Köpfen über deformierten, zerfurchten und durchlöcherten Leibern. Während Rodin noch das Heroische vom Sockel auf den Boden der Realität geholt hatte, zerstörte die vom Kriegsgrauen geprägte Richier das ursprünglich Vollendete, um die tiefen Verletzungen dieser Lebewesen sichtbar zu machen. Später fügte sie dünne Drähte oder Fäden hinzu, die ihre Figuren im Spannungsfeld der Formen im Raum einengen und begrenzen – zugleich aber auch festhalten oder stützen. Raffiniert angestrahlt in der Ausstellungsarchitektur, ergibt sich mit den Schatten eine noch bedrohlichere Stimmung.
Berühmt wurde „La mante grande“, die „Große Gottesanbeterin“ (1946), die in Richiers provenzalisch fundierter Interpretation weniger die männchenmordende und -fressende Bestie darstellt, sondern die mit betonten Augenringen Sehende (griechisch „mantis“), die in eine finstere Zukunft blickt und dabei die Krallen senkt. „La fourmi“ (die Ameise, 1953) streckt die überlangen Arme mit den gespannten Fäden über den unerwarteten Brüsten so weit aus, dass ihr niemand zu nahe kommen kann. „Le Griffu“ (Das Krallenwesen, 1952) scheint das Opfer fast im Sprung schon fest im Blick zu haben. „La Chauve-souris“ (die Fledermaus, 1946) wirkt mit ihren filigranen Flügeln – gestaltet mit aus in Wachs getränkten Hanffäden – als würde sie direkt aus der Luft angreifen. Aus provenzalischen Mythen entsprungen sind Richiers „Cheval à 6 têtes“ (sechsköpfiges Pferd, 1954-56) und „L'Homme de la nuit“ (der Nachtmann, 1954), ein betrübtes Vogelwesen mit plumpen Beinen. Aus der Weltliteratur wählte sie den traurigen Ritter Don Quichotte (1950/51), der mager und ganz allein dasteht. Ganz am Ende ihres Lebens gestaltete sie noch ein lebensgroßes Sinnbild des Lebens als Spiel: „L’Echiquier“, ein Schachbrett mit fünf Tiermenschen.
Thematisch wie auch formell beschritt Germaine Richier mit diesen Zwitterwesen ein Neuland, das auch ihre ureigene Domäne geblieben ist. Mehr und mehr experimentierte sie in ihren letzten Jahren mit Materialien wie Goldbronze und Blei sowie mit bunten Farben. Sie bemalte die Skulpturen selbst, arbeitete aber auch mit Malern zusammen, die die Flächen dahinter gestalteten. Parallel dazu schuf sie Graphiken, auf ihre Skulpturen bezogene wie auch eigenständige Arbeiten, die ihr ebenfalls Anerkennung sicherten.
Nach ihrem frühen Tod geriet Germaine Richier zunächst etwas in Vergessenheit, zumal angeblich Erbschaftsstreitigkeiten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Werk behinderten. Noch heute gibt es außer Ausstellungskatalogen kaum Monografien. Die Entwicklung der modernen Skulptur nahm andere Wege, ihre Impulse wurden nicht aufgegriffen. Erst 1997 zeigte die Berliner Akademie der Künste die erste große Richier-Retrospektive in Deutschland. 2013 widmete ihr die Kunsthalle Bern eine große Werkschau, die 2014 in die Mannheimer Kunsthalle weiterzog. In der Kunsthalle Bielefeld war sie 2019 in der Ausstellung „L’homme qui marche – Verkörperung des Sperrigen in der Kunst“ neben den gleichnamigen Schritten von Rodin mit ihren „bewegten“ Statuen gut vertreten. Und 60 Jahre nach ihrer letzten Ausstellung im Musée Picasso in Antibes griff das Museum das Werk von „la Magicienne“ noch einmal auf, eine Ausstellung, die 2020 weiterzog ins niederländische Musée Beelden aan Zee de La Haye in Scheveningen.
Zu bewundern sind Germaine Richiers Werke zugleich in vielen bedeutenden Museen für moderne Kunst wie dem Centre Georges Pompidou, den Tuileriengärten vor dem Louvre, der Fondation Maeght in Vence, dem Kunsthaus Zürich, der Tate London, dem Louisiana Museum im dänischen Humlebaek, dem Hirshhorn Museum Washington und in der Kunsthalle Mannheim.
Germaine Richier war in einer Zeit, in der eine erfolgreiche Frau in einer Männerdomäne wie der Bildhauerei kaum vorstellbar schien, eine Ausnahmekünstlerin, die sich wie selbstverständlich im Kreis ihrer bekannteren männlichen Kollegen durchgesetzt hat. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Menschsein in unmenschlichen Zeiten überzeugt sie mit ihren ganz eigenwilligen Interpretationen.
(Text von 2020)
Verfasserin: Heidi Wiese
Zitate
„Ich versuche nicht, Bewegung wiederzugeben. Meine Intention geht vor allem dahin, Bewegung vorstellbar zu machen. Meine Skulpturen sollen den Eindruck erwecken, unbeweglich zu sein und sich gleichzeitig bewegen zu wollen.“ (Rainer Stange: Germaine Richier. Bewegung im Stillstand)
„Es scheint mir, dass Werke, die Gewalt ausdrücken, ebenso sensibel sind wie poetische Werke. In Gewalt steckt so viel Weisheit wie in Zärtlichkeit.“ (www.stedelijk.nl)
“Meine Figuren sind eigenständige Wesen. Eigenständig und unabhängig - das soll Bildhauerei für mich sein”. (Ketterer Kunst)
“Ich mag das Spannungsgeladene, das Nervöse, das Trockene, die vom Wind ausgedörrten Olivenbäume, das zerbrochene Holz ... Ein verkohlter Baum bewegt mich mehr als ein blühender Apfelbaum.” (www.filigranes.be).
“Ich habe Angst vor der Natur, sie ist böswillig.” (Galerie Maeght)
„Ihre zerfetzten Formen habe ich alle gefüllt und vollständig konzipiert. Erst danach habe ich sie zerfurcht und zerrissen, so dass sie von allen Seiten anders variiert aussahen und einen lebendigen und changierenden Eindruck vermittelten… “ (L’Humanité)
„Wenn ich eine Form finde, zerstöre ich sie, aber um eine Form zu zerstören, muss sie erst mal existieren… Die Löcher beleuchten die Materie, die zu einer organischen, offenen Form wird.“ (Musée Fabre)
Literatur & Quellen
(neuste Literatur zuerst)
Jean-Louis Andral, Valérie Costa: Germaine Richier, la Magicienne. Ausstellungskatalog für Antibes und Beelden aan Zee, Paris 2019
L'Humanité, 29.12.2019: Exposition. De l’imaginaire à la magie de Germaine Richier.
Sarah Wilson: Germaine Richier: Sculpture 1934-1959. Rom 2016
Matthias Frehner, Ulrike Lorenz, Stefanie Patruno, Daniel Spanke (Hrsg.): Germaine Richier – Retrospektive. Ausstellungskatalog Bern/Mannheim 2014. Saaltext als PDF: www.kunstmuseumbern.ch
André Pfenninger: Germaine Richier – La dame d’Arles in Bern. Journal21.ch, 10.02.2014
Catherine Gonnard: Germaine Richier. Extrait du Dictionnaire universel des créatrices. Paris 2013 (awarewomenartists.com)
© 2013 Des femmes – Antoinette Fouque
Annegret Kehrbaum, Angela Lammert, Veronika Wiegartz: Germaine Richier. Allein das Menschliche zählt. Katalog zur Ausstellung im Gerhard-Marcks-Haus, Bremen, 2007
Valérie Da Costa: Germaine Richier. Un art entre deux mondes. Paris 2006
Sarah Wilson: Germaine Richier. Disquieting matriarch. In: Sculpture Journal, Vol. 14/1. Liverpool 2005, S. 51–70 (PDF online)
Rainer Stange: Germaine Richier. Bewegung im Stillstand. In: Uta Grosenick (Hrsg.): Women Artists. Künstlerinnen im 20. und 21. Jahrhundert. Köln 2001, S. 444–449
Claudia Spieß: Germaine Richier (1902-1959) - Die lebendig gewordene Skulptur. Hildesheim 1998
Angela Lammert, Jörn Merkert: (Hrsg.) Germaine Richier. Ausstellungskatalog Akademie der Künste. Berlin, Köln 1997
Fondation Maeght: Germaine Richier: Retrospective. Ausstellungskatalog, Vence 1996
Richier – Ameisen mit Busen. Der Spiegel, 29/1963
Jean Cassou: Germaine Richier. Biografie. Paris 1961.
Georges Limbour: Germaine Richier. Galerie Creuzevault, Paris 1959.
André Pieyre de Mandiargues: Germaine Richier. Brüssel 1959
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