Biographien Gerlind Reinshagen
(geb. Technau)
geboren am 4. Mai 1926 in Königsberg
gestorben am 8. Juni 2019 in Berlin
deutsche Schriftstellerin
5. Todestag am 8. Juni 2024
Biografie • Literatur & Quellen
Biografie
Obgleich männliche Autoren die deutsche Bühne bis vor kurzem dominierten, ist Gerlind Reinshagen die erste deutsche Schriftstellerin, deren Theaterstücke von renommierten Regisseuren ab den späten 60er Jahren inszeniert wurden. In den 80er Jahren begann sie auch Romane und Prosatexte zu schreiben, deren literarische Qualität kritische Anerkennung findet.
Reinshagen, geb. Technau, wurde am 4. Mai 1926 in Königsberg geboren. Ihre Schuljahre verbrachte sie in Kiel und Halberstadt. Sie heiratete 1949 und zog zwei Kinder auf. Nach einem abgeschlossenen Pharmazie-Studium und einigen Jahren der Tätigkeit in ihrem Fach studierte Reinshagen von 1953 bis 1956 freie Malerei an der Hochschule der Künste, Berlin, und begann 1956 ihre literarische Karriere mit experimentellen Hörspielen. Sie lebte meist in Berlin, wo sie auch jetzt noch wohnt.
Der Durchbruch auf der Bühne kam mit Doppelkopf (Uraufführung 1968), einem Stück, das sich mit der subtilen Dynamik zwischen Leitern und Arbeitern eines Industriebetriebes auseinandersetzt. Auch in ihrem Stück Eisenherz (1982) liegt der Fokus auf der Entfremdung im Arbeitsleben von Angestellten. Solche Stücke hatte es vorher kaum gegeben. Ein besonders bedeutendes, bis heute in seiner Sprachgewalt und Erfindungskraft noch nicht völlig gewürdigtes Stück ist Leben und Tod der Marilyn Monroe (1971). Es ist eines der ersten post-dramatischen Dramen, das bis heute an Innovationskraft in der Darstellung der Situation von Frauen in der Gesellschaft nichts eingebüßt hat. Es untersucht strukturalistisch eine Gesellschaft, die die Medienfigur Marilyn Monroe konstruiert und die Frau als Mensch zerstört. Reinshagen bringt gleichzeitig drei Marilyn Monroe-Figuren auf die Bühne, eine frühe Multiplizierung der figura, die später allgemein üblich wurde.
Reinshagens berühmtestes Stück ist Sonntagskinder (1976). Es erhielt den Mühlheimer Dramatikerpreis 1977. In diesem Drama — von Michael Verhoeven 1980 verfilmt – erscheinen zum ersten Mal die Hitlerzeit, der II. Weltkrieg und seine Auswirkungen aus dem zentralen Blickpunkt der Privatsphäre einer Familie. Es ist Teil einer Trilogie, zu der auch Frühlingsfest, 1980, und Tanz Marie!, 1989, gehören, und die den Wandel im Leben einer deutschen Familie in der Nachkriegszeit sensibel verfolgt. Andere von ihr neu angeschnittene Themen der Zeit berühren das Dilemma von Krankheit und Tod (Himmel und Erde, 1974). Ihr Wissen als Naturwissenschaftlerin kommt dem Stück Die Feuerblume, 1988, zugute, in dem sie die Bedrohung der Menschheit durch unkontrollierte Atomkraft thematisiert. Innovativ ist auch Reinshagens Neubelebung und Modernisierung des antiken Chors in vielen ihrer Dramen. Zum Beispiel stellt der Chor nicht mehr die Stimme des Gesellschaftsvertrags dar, der die einzelnen Menschen bindet, sondern eher eine zerbröckelnde Struktur, die niemanden mehr auffangen kann, wie z.B. in Die grüne Tür (1999), in dem das Medea-Motiv angesprochen und modern adaptiert wird. Eine Hommage an die jüdische Schriftstellerin Gertrud Kolmar erscheint 2007 als Monolog-Theaterstück unter dem Namen Die Frau und die Stadt.
Anfang der achtziger Jahre wendet sich Reinshagen der Prosa zu. In dem ersten Roman, Rovinato oder die Seele des Geschäfts (1981), folgt sie dem Empfinden von Menschen, die durch die Firma aneinander gebunden sind. Im Jahre 1990 legt sie das Buch Zwölf Nächte vor, in dem sie die traditionell von Geistern und unerkannten Schrecken durchwobene Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr in der Gegenwart anspricht, aber unterschwellig die deutsche Vergangenheit evoziert.
Wie schon in ihren Stücken bezieht sich Reinshagen auch im Roman immer wieder auf die deutsche Geschichte. Beatrice von Matt schreibt zum Beispiel über Vom Feuer (2006): „Es ist recht eigentlich poetische Geschichtsschreibung. Diese Schriftstellerin hat sie zeitlebens betrieben. Sie veranstaltet Geisterzüge durch das letzte Jahrhundert.“ (NZZ 04.05.2006) Inzwischen hat sie an die zehn Romane und Prosabände veröffentlicht. Ihr neuster Roman heißt nachts (2011), an dem z.B. Cornelia Staudacher im Deutschlandfunk besonders die Sprache würdigt: „Eine Sprache, die direkt, verständlich und doch von einer dezenten, unaufdringlichen Exklusivität ist. In nachts hat Gerlind Reinshagen die rationale und träumerische Seite der Arbeit des schreibenden Geistes zu einem feinsinnigen literarischen Kammerspiel verwoben.“ (Deutschlandfunk, 101.02.1912) Es geht hier um das Altwerden, den Gedanken an den Tod, der mit dem vibrierenden Leben konfrontiert wird durch eine ungewöhnliche Beziehung, die sich in nächtlichen Telefongesprächen eines älteren Mannes und einer jüngeren Frau entwickelt.
Verfasserin: Helga Kraft
Literatur & Quellen
Werke:
nachts, Roman, 2011
Die Frau und die Stadt: Eine Nacht im Leben der Gertrud Kolmar, 2007
Vom Feuer, Roman 2006
Joint Venture, Dialog, 2003
Göttergeschichte, Roman, 2000
Die grüne Tür, Chorische Stücke 1999
Am großen Stern, Roman 1996
Jäger am Rand der Nacht, Roman, 1993
Drei Wünsche frei, Chorische Stücke, 1992
Zwölf Nächte, Prosa, 1989
Gesammelte Stücke, 1986
Die Clownin, Lesedrama, 1985
Die flüchtige Braut, Roman, 1984
Rovinato oder Die Seele des Geschäfts, Roman, 1981
Das Frühlingsfest. Elsas Nachtbuch, Drama, 1980
Sonntagskinder, Drama, 1975
Himmel und Erde, Drama, 1974
Weiterführende Literatur:
Bühler-Dietrich, Annette. 2003. Auf dem Weg zum Theater.
Gleichauf, Ingeborg. 2003. Was für ein Schauspiel. Deutschsprachige Dramatikerinnen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.
Herzog, Madeleine 1995. “Ich bin ... nicht ich”.
Hussey, Nan. 1999. Fragmentation and wholeness in the novels of Luisa Josefina Hernandez and Gerlind Reinshagen.
Kiencke-Wagner, Jutta. 1989. Das Werk von Gerlind Reinshagen.
Kraft, Helga & Therese Hoernigk. 2007. Eine Welt aus Sprache. Zum Werk von Gerlind Reinshagen. Eine kritische Anthologie.
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