Biographien Evgenia Semionovna Ginzburg
geboren am 20. Dezember 1904 in Moskau
gestorben am 25. Mai 1977 in Moskau
russische Schriftstellerin, Dichterin und Journalistin; Dissidentin
115. Geburtstag am 20. Dezember 2019
Biografie • Weblinks • Literatur & Quellen
Biografie
Erst vor etwas mehr als 30 Jahren erschienen in der Sowjetunion drei Werke, die schnell auch den Westen durch die Darstellung der entsetzlichen Verfolgungen, denen die Menschen während der stalinistischen “Säuberungen” ausgesetzt waren, aus ihrer Lethargie und Unwissenheit aufschreckten: Solschenizyn beschrieb und analysierte anhand seiner Erfahrungen in den sibirischen Arbeitslagern das “sowjetische” und politisch zu überwindende System des Gulags. Nadeshda Mandelstams Schicksal und dichterisches Werk dagegen sind nicht einem Prinzip, sondern vor allem der Sicherung der Lebensspuren und Werke ihres Mannes (Ossip) verbunden. Dagegen: Ein fast gleicher zeitlicher Rahmen, z.T. ähnliche Erfahrungen und Überlebensstrategien, und doch völlig anderes lesen wir - immer mitten hineingenommen in ihr persönliches Erleben und nach Kräften helfendes, beobachtendes Anteilnehmen an Menschenschicksalen - im zweiteiligen “Schweren Weg” Jewgenija Ginsburgs.
Er beginnt 1934 mit der im Umfeld ihrer Hochschule in Kasan zuerst nur vage und ungläubig wahrgenommenen, dann immer beklemmenderen Atmosphäre von gegenseitiger Verleumdung, aus der Luft gegriffenen Anklagen und Verurteilungen, die jeden treffen konnten und ein Klima von allgegenwärtiger Angst und psychischer wie physischer Bedrohung erzeugten, das jahrzehntelang keinen verlassen sollte. Jedoch kein Zweifel am Kommunismus, “nur” am Stalinismus. 1937 wird auch sie plötzlich “abgeholt”, Mann und Kinder bleiben zurück, und sie versinkt in den gefürchteten Kerkern Moskaus, erlebt und erleidet Folterungen, lange Einzelhaft, mit anderen die üblichen unsinnigen, grausamen Strafen und Schikanen. Ironie des Schicksals, daß sie 1939 die Aussicht (ausgerechnet unter Berija!) auf die 10 Jahre Zwangsarbeit bei den berüchtigten Goldminen an der Kolyma weit weit im Osten - Unzählige der Verbannten sterben schon auf den monatelangen Transporten - als Hoffnungsschimmer wahrnimmt.
Aber auch dort läßt sie sich nicht zu Denunziationen oder falschen Geständnissen zwingen, bewahrt sich und anderen moralische Integrität, empfindet die psychischen Qualen durch hilfloses Aushalten und Mitansehen-Müssen auch seelischer Tode und Verstümmelungen schlimmer als alles ihr Zugefügte, erfährt und ermöglicht in allem Elend Momente des Trostes und weiterhin stärkende Frauensolidarität. Nach erneuter Verhaftung 1949 wurde sie 1955 rehabilitiert. Erst 1989 erschien ihr Werk in Rußland. Und – was alles hier nicht zur Sprache kam: Lesen!!! Es gibt die Bände ja noch antiquarisch und in Bibliotheken ....
(Text von 2005)
Anm. von Luise F. Pusch: Als Geburtsjahr für Ginzburg fanden wir außer 1904 noch 1896 und 1906. Einschlägige Infos bitte an lfp(at)fembio.org.
Verfasserin: Swantje Koch-Kanz
Links
Ginzburg-Materialien (englisch)
Literatur & Quellen
Evgenia Ginzburg in der Deutschen Nationalbibliothek
Applebaum, Anne. 2003. Der Gulag. Aus dem Englischen von Frank Wolf. Berlin. Siedler. [“Die deutsche Ausgabe wurde mit Einverständnis der Autorin gekürzt”]
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cb/rdd. 1990. “Prisoner during Stalinist purges lends cold reality to 'Whirlwind', in: Seattle Post-Intelligencer, July 20 (1990: 7).
Dobbs, Michael. 1989. “The Gulag Comes to The Stage; In Moscow, Ginzburg's Memoir of Stalinism”, in: The Washington Post, February 17 (1989: C 1).
Ginsburg, Jewgenija Semjonowna. 1967. Marschroute eines Lebens. Dt. von Swetlana Geier. Reinbek. Rowohlt. [übersetzt aus der russischen Samisdat-Ausgabe Krutoj Marschrut [1. Teil]. Milano. Arnoldo Mondatori]
Ginsburg, Jewgenia. 1980 [1979]. Gratwanderung. Aus dem Russischen übertragen von Nena Schwina. Vorwort: Heinrich Böll; Nachwort: Lew Kopelew und Raisa Orlowa. München und Zürich. Piper. [übersetzt aus der russischen Samisdat-Ausgabe Krutoj Marschrut [2. Teil]. Milano. Arnoldo Mondatori. 1979]
Geisser-Schnittmann, Svetlana. 1994. “Frauenbild und Frauenlos in der Stalin-Ära”, in: Neue Zürcher Zeitung, 19. Februar 1994.
Herling, Gustaw. 2000 [1957]. Welt ohne Erbarmen. München. Hanser.
Kopelew, Lew & Raissa Orlowa. 1980. “Am Ende der Gratwanderung”, in Ginsburg (1980: 491-507).
Miner, Steven Merritt. 2003. “The Other Killing Machine”, in: The New York Times, May 11 (2003: 7.11). [Rezension zu: Anne Applebaum. 2003. Gulag; a history. New York. Doubleday]
Nagorski, Andrew. 2003. “The world of the Gulag”, in: Newsweek (Atlantic Edition), April 28 (2003: 52)
Smith, Sally Bedell. 1984. “Philip Roth's struggle to make TV film”, in: The New York Times, February 7 (1984: C 17.1).
Stark, Meinhard. 2003. Frauen im Gulag: Alltag und Überleben, 1936 bis 1956. München. Hanser.
Taylor, Charles. 2002. “Koba the Dread,' by Martin Amis.
Todorov, Tzvetan. 1999. “The tender trap”, in: Courier Mail (Queensland) July 3 (1999: 9). [auch in: Tzvetan Todorov. 1996. Facing the Extreme. New York. Henry Holt]
Zekri, Sonja. 2002. “Gefangene der Steppe. Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant: Zum ersten Mal dürfen zwei deutsche Forscher einen sowjetischen Gulag erforschen”, in: Süddeutsche Zeitung 30. Januar (2002: 16)
Zholkowsky, Alexander. [1994.] ” Eugenia Ginzburg -1977”, in: Before and 'After the Ball'; Variations on the theme of courtship, copses, and culture.
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